Fähigkeiten statt Bauchgefühl: Alexandra Kammer von Aivy über die Relevanz von Diversität im Recruiting

Warum in Bewerbungsprozessen manchmal Software notwendig ist, um für mehr Menschlichkeit zu sorgen

Suchen Unternehmen neue Mitarbeitende, schauen sie genau auf die Lebensläufe der Bewerber*innen. Bisherige Stationen und Fähigkeiten entscheiden dann darüber, ob jemand gut zur freien Stelle passt oder nicht. Zumindest theoretisch. Denn in der Regel beeinflussen viele unterschiedliche Faktoren Recruitingprozesse in Unternehmen und somit auch die spätere Zusammensetzung ganzer Teams. Eine große Rolle spielen dabei nicht nur Wissen und Skills, sondern auch die Einstellungen und Erfahrungen der einstellenden Personen. 

Sogenannte Biases, also eine unbewusste Voreingenommenheit, sorgen meist schnell dafür, dass wir uns für oder gegen Bewerber*innen entscheiden. Das ist erst mal menschlich, hat allerdings oftmals mangelnde Diversität und homogene Teamstrukturen zur Folge. Und wo Diversität fehlt, fehlen vielfältige Sichtweisen, neue Ideen und ein breit gefächertes Kundenverständnis. 

Das möchte Aivy ändern und Teams mit seinen HR-Lösungen zu mehr Vielfalt verhelfen. Spielerische Tests zeigen, ob Bewerber*in und Unternehmen zusammenpassen und sorgen für mehr Zufriedenheit und weniger unbewusste Diskriminierung im Bewerbungsprozess. Warum das nötig ist und wie Software uns zu besseren Recruiter*innen machen kann, verrät Alexandra Kammer, Chief Diversity Officer und Co-Founderin von Aivy, im Interview.

Wie kam es zur Gründung von Aivy?

Alexandra Kammer: Das ist natürlich eine lange Geschichte. Aber kurz gesagt und aus meiner Perspektive: In meiner Masterarbeit habe ich zu Diversity Engagement und Communications geforscht und gleichzeitig an einem Lehrstuhl der Universität Mannheim gearbeitet. Für mich war klar: Wir brauchen hier in Deutschland einen ordentlichen Boost, um mehr Chancengerechtigkeit in Unternehmen zu schaffen. Zeitgleich lag die Idee zu Aivy auf dem Tisch und ich habe mir gesagt: „Das gehen wir jetzt an!“

Euch kennt man unter anderem aus „Die Höhle der Löwen“. Welchen Einfluss hatte die Teilnahme auf euer Produkt?

Alexandra Kammer: Das war 2022 und für uns wirklich eine positive Erfahrung, vor allem, weil wir über Nacht Platz eins in den App-Charts waren – mit über 15.000 Downloads. Außerdem durften wir ganz tolle Interviews führen, zum Beispiel mit der Wirtschaftswoche. So hatten wir einen ordentlichen Push in der Sichtbarkeit. Unsere Mission, individuelle Stärken sichtbar zu machen, hat Unternehmen erreicht, die genau das auch umsetzen wollten.

Mittlerweile nutzen mehr als 100 Unternehmen Aivy – teilweise bereits seit unserer Gründung 2020 – und wir haben die Software gemäß ihrer Bedürfnisse weiterentwickelt. So kann Aivy entlang des gesamten Employee Lifecycles eingesetzt werden, um den Prozess von Akquise, Auswahl, Beförderung und Retention so objektiv wie möglich zu machen. Und das gelingt uns: Bis heute haben wir über 600.000-mal gezeigt, welche Stärken in Bewerbenden und Mitarbeitenden stecken.

Mit Aivy wollt ihr für faire HR-Prozesse sorgen. Wo liegen in diesem Bereich bislang Defizite?

Alexandra Kammer: Da könnte ich natürlich ewig darüber sprechen, aber um es kurz zu machen: Ein großes Defizit ist, dass wir uns noch zu oft auf das Bauchgefühl einer einzigen Person verlassen. Das kann per se nicht objektiv sein. Denn so viel Erfahrung die Person auch haben mag, sie wird immer von ihren subjektiven Erfahrungen geprägt sein. Und so können wir uns ganz einfach von unserem Gehirn austricksen lassen. Dann stellen wir ein, wer uns auf irrelevante Weise ähnlich ist, zum Beispiel weil wir an derselben Universität waren, statt auf relevante Kriterien zu achten oder anderen Bewerbenden noch eine faire Chance zu geben. 

Hier gilt also: Die Macht sollte nicht bei einer Person allein liegen, vor allem dann nicht, wenn sie in einem unstrukturierten Prozess ohne vorher festgesetzte, objektive Kriterien agiert.

Mittlerweile schreiben sich viele Unternehmen „Diversität“ auf die Fahne, leben sie aber nicht. Was machen sie mit Aivy anders?

Alexandra Kammer: Der schöne Effekt von Aivy ist, dass unsere Software HR-Prozesse immer objektiver machen wird, ganz egal, wie es um das Diversitätsengagement eines Unternehmens steht. Ich nenne Aivy auch gerne liebevoll die Quote von unten, weil wir Menschen später natürlich nicht befördern können, wenn wir sie gar nicht erst eingestellt haben. Unsere Stärkenprofile haben schon häufig gezeigt, dass eine Person doch sehr gut zu einer Stelle passt und so Denkanstöße angeregt. Also: Selbst, wenn vielleicht keine Strategie dahintersteckt, werden Teams mithilfe von Aivy trotzdem diverser.

Warum schaffen Tools in Sachen Diversität das, was Menschen scheinbar nicht hinbekommen?

Alexandra Kammer: Ganz einfach: Weil es menschlich ist, sich zu irren, sich zu überschätzen (Dunning-Kruger-Effekt) und unter Druck die vermeintlich sicheren Entscheidungen zu treffen. Im Fall von Aivy liefern wir objektive Kriterien aus der Wissenschaft, genauer aus der psychologischen Eignungsdiagnostik, und unterstützen Menschen dabei, diese einzusetzen. Dazu brauchen sie keinerlei Expertise auf dem Gebiet und können die Kriterien einfach zugänglich anwenden. So bauen wir nicht nur innerhalb von HR-Teams Barrieren ab, sondern eben auch für potenzielle und bestehende Mitarbeitende.

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Alexandra Kammer ist Mitgründerin des Berliner Start-ups Aivy. Das Tool soll faires Recruiting ermöglichen und für mehr Diversität in Unternehmen sorgen. Foto: Alexandra Kammer

Auch bei OMR setzen wir im Recruiting für mehr Diversität teilweise auf Aivy. Wann ist die Unterstützung durch eine Software wie eure sinnvoll?

Alexandra Kammer: Natürlich immer. Besonders dann, wenn man gefühlt gar nicht weiß, wo man anfangen soll. Unsere drei Schritte können dabei als To-do-Liste Sicherheit geben: 

  1. Anforderungen definieren
  2. Stärken sichtbar machen
  3. Ergebnisreport erhalten

Man hakt sie ab und bekommt entlang dieser Schritte weitere Möglichkeiten aufgezeigt, mit denen der Recruitingprozess diverser wird. Zum Beispiel können Unternehmen ihre Stellenanzeigen auf wenige, wirklich relevante Kriterien beschränken, um beispielsweise Bewerbende mit Diskriminierungserfahrung nicht abzuschrecken. Oder sie erhalten Interview-Unterstützung und können einen Leitfaden für ein strukturiertes Vorstellungsgespräch erstellen. Das funktioniert sehr gut, wie man auch bei euch bei OMR sieht. Auch ihr habt mit Aivy Menschen eingeladen und sogar eingestellt, die ihr anhand ihrer Lebensläufe eigentlich übersehen hättet.

Wenn wir im Recruiting nur noch auf Softwares setzen, fehlt dann nicht irgendwann die Menschlichkeit?

Alexandra Kammer: Das ist eine sehr extreme Richtung, die ich auf keinen Fall anstreben wollen würde. Vor allem sollten wir Software nicht für uns aussortieren lassen. Für mich liegt der Schlüssel in der Zusammenarbeit zwischen Mensch und Software. In unserem Fall können HR-Verantwortliche die Software so füttern, dass sie ihnen zur Seite steht, um zum Beispiel den Recruitingprozess zu strukturieren und gerechter zu gestalten. So können sie sich mithilfe von Recruiting-Software darauf verlassen, dass mehr Objektivität entsteht und sind entlastet, weil sie sich ihrer Biases nicht ständig selbst bewusst machen müssen. In meinen Augen wird der Prozess so letztlich sogar umso menschlicher.

Speaking of „irgendwann“: Was sind eure Pläne für Aivy?

Alexandra Kammer: Wir haben die Mission, der Standard neben dem Lebenslauf zu werden. Das haben wir vielerorts auch schon geschafft. Mittlerweile gibt es Unternehmen, die den klassischen Lebenslauf sogar ganz durch das Aivy Stärkenprofil ersetzen. Um das auszubauen, entwickeln wir unsere Software stetig weiter, damit sich hier alles um Stärken dreht. So wollen wir mit Aivy zuverlässig aufzeigen, wie gut Bewerbende zu offenen Stellen, zu bestehenden Teams und zur nächsten Hierarchiestufe passen

Auf diesem Weg freuen wir uns auf viele weitere Unternehmen – #HeRoes, wie wir sie nennen – die mit uns in eine objektivere Zukunft im HR gehen.

Chantal Seiter
Autor*In
Chantal Seiter

Chantal ist Redakteurin bei OMR Reviews. Wenn sie gerade mal nicht in die Tasten haut, betreibt sie Café Hopping oder erkundet neue Städte. Am liebsten beides zusammen. Vor ihrem Start bei OMR Reviews hat die Eigentlich-Kielerin in Kreativagenturen und als Freelancerin gearbeitet. 2022 hat sie außerdem eine Weiterbildung zur Fashion Stylistin abgeschlossen.

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