Dieser deutsche Youtuber hat mehr Views als LeFloid, Unge und Bibi – aber kaum jemand kennt ihn

Martin Tangermann in seinem Studio
Inhalt
  1. Junkfoodtaster Martin Tangermann verdient vermutlich monatlich mehrere Tausend Euro
  2. Youtube statt Hirnforschung
  3. „Ich kann halt nicht kochen“
  4. Ein Jahr Arbeit ohne wirklichen Erfolg
  5. Millionenverdienst mit dem Auspacken von Spielzeug
  6. Angry Birds als Reichweitentreiber
  7. Markenzeichen helfen beim Community Building
  8. Traffic aus Deutschland vergleichsweise unwichtig
  9. Mobile Game mit Startschwierigkeiten

Junkfoodtaster Martin Tangermann verdient vermutlich monatlich mehrere Tausend Euro

Martin Tangermann in seinem Studio

Martin Tangermann in seinem Studio

800 Millionen Mal wurden die Videos von Martin Tangermann bei Youtube bereits angesehen. Damit betreibt er den drittgrößten deutschen One-Man-Kanal auf der Videoplattform. Doch während andere prominente Youtuber bei öffentlichen Auftritten mittlerweile für Teenie-Aufläufe sorgen, würde Tangermann auf der Straße kaum jemand erkennen. Denn in den Videos für seinen Kanal Junkfoodtaster sind nur seine Hände zu sehen. Mit denen packt er Fastfood, Süßigkeiten und Fertiggerichte aus, nimmt sie akribisch auseinander und probiert sie. Online Marketing Rockstars konnte mit dem öffentlichkeitsscheuen Youtube-Star ein Interview führen und zeichnet die Geschichte seines Erfolges nach.

Es ist nicht unbedingt ein ästhetisches Vergnügen, die Videos von Martin Tangermann anzuschauen. Sie sind einfach und günstig produziert und darüber, wie geschmackvoll der Inhalt ist, lässt sich zumindest streiten. Denn in seinen „Junkfoodtastings“ begibt sich der Youtuber in die Niederungen von industriell hergestellten Lebensmitteln: Er zerschneidet Burger von Fastfood-Ketten und zeigt sie im Querschnitt, bereitet billigste Fertiggerichte auf einer Kochplatte von Aldi zu oder packt in Plastikbechern verpackte Zuckerwatte aus dem Supermarkt aus und löst diese in Mineralwasser auf. Die mittlerweile 3.850 Videos Tangermanns geben Zeugnis darüber ab, welch perverse Blüten das Thema Lebensmittel in einer Überflussgesellschaft treiben kann: So testet er beispielsweise ein Eis am Stiel, das man wie eine Banane pellen muss, Kaugummikugeln, die als „Kamelhoden“ verkauft werden (mit entsprechend illustrierter Verpackung), sowie einen Lutscher, den der Käufer in eine mitgelieferte brausegefüllte Miniatur-Toilette aus Plastik dippen soll. Tangermann spielt mit dem Ekel und man kann sich sehr gut vorstellen, wie 13-jährige pubertierende Jünglinge miteinander vor dem Rechner sitzen, die Videos ansehen und sich genau an diesem Gefühl erfreuen.

Youtube statt Hirnforschung

Vermutlich wäre es für sie nur verständlich, dass Martin Tangermann für sein Dasein als Youtuber eine akademische Karriere aufgegeben hat. Nach einem Informatikstudium arbeitete der heute 30-Jährige zunächst für zwei Jahre in einem Bereich namens „Computational Neuroscience“. Die junge wissenschaftliche Disziplin verknüpft Hirnforschung mit Informatik, beispielsweise um neu entwickelte Körperteilprothesen durch das Hirn steuerbar zu machen. „Ich wollte mich entweder mit einem Projekt selbstständig machen, oder in einem Zukunfts-Wirtschaftszweig einsteigen“, so Tangermann gegenüber Online Marketing Rockstars. Doch die Entscheidung für die zweite der beiden Möglichkeiten macht ihn nicht glücklich: „Als ich den Alltag in der Forschung gesehen hatte, beschloss ich diesen Weg nach einem Master abzubrechen und mich selbstständig zu machen.“

Zu dieser Zeit – Anfang des Jahres 2012 – wird auch in Deutschland langsam das Potenzial von Youtube deutlich. Die Pioniere von Y-Titty sind von dem Höhepunkt ihres Erfolges zwar noch weit entfernt, erzielen aber bereits mehrere Millionen Views pro Monat. Auch News-Youtuber LeFloid, Beauty-Vlogger Sami Slimani (u.a. Speaker bei den Online Marketing Rockstars 2013) und Lets Player Gronkh sind zu dieser Zeit schon bei Youtube aktiv.

Martin Tangermann eröffnet am 15. April 2012 einen eigenen Kanal auf der Videoplattform: „Youtube erschien mir optimal, da man nicht monatelang an einem Projekt bastelt, was dann womöglich auch noch floppt, sondern weil man dort sofort eine Response bekommt und immer weiter optimieren kann.“ Auf der Suche nach einem Themenbereich war er zuvor auf das Thema Lebensmittel gestoßen – für das unter anderem die niedrigen Beschaffungskosten spricht: „Erstens gibt es sehr viele und man kann endlos neue testen, zweitens lässt sich über Lebensmittel einfacher bloggen als beipielsweise über Handys oder Autos und drittens beschäftigt sich jeder mit ihnen“, so der Junkfoodtaster über die Gründe für seine Themenwahl.

„Ich kann halt nicht kochen“

Tangermanns eigenes Verhältnis zu Lebensmitteln ist dabei durchaus gespalten: „Man muss im Leben auch mal sagen können, dass man was nicht kann. Ich kann halt nicht kochen, deswegen bin ich auf Supermarktgerichte angewiesen“, sagt der Youtuber, in einem frühen, kaum wahr genommenen Interview aus dem Jahr 2013 beim Digitalsender Eins Plus. In seinen Videos spricht Tangermann aus diesem Grund gerne auch provokativ von „Anti-Cooking“.

Von seiner kleinen sächsischen Heimatstadt Bernsdorf aus beginnt er im Frühjahr 2012 damit, erste einfache Video zu produzieren und bei Youtube einzustellen: Mit nur einer Einstellung (die Kamera ist leicht von oben auf einen Tisch gerichtet) filmt er, wie er das Produkt öffnet oder auspackt. Auf ausgedruckten Zetteln zeigt der Junkfoodtaster über die Nummer des „Tastings“ und informiert über die „drei wichtigsten Fakten“. Tangermann spricht zu dieser Zeit noch kaum in den Videos; lediglich ein oder zwei englische Sätze. Das erste Video ist ein Test von Bionade aktiv, es folgen Videos über Müsliriegel und diverse McDonalds-Produkte.

Die einfache Machart ermöglicht es ihm, mehrere Videos pro Tag zu produzieren. Die Zugriffszahlen sind niedrig; doch Tangermann bleibt am Ball. Über die kommenden Wochen steigt die Dauer der Videos langsam auf zwei bis drei Minuten, der Kanalbetreiber traut sich, längere Urteile auf Englisch abzugeben. Er habe seine Reviews komplexer werden lassen, um die Zuschauer zu unterhalten, sagt Tangermann heute rückblickend.

Ein Jahr Arbeit ohne wirklichen Erfolg

Doch bedenkt man die Zeit und den Aufwand, den Tangermann investiert, bleiben die Zugriffszahlen enttäuschend. Ein wenig besser funktionieren Videos, in denen es um Produkte von Marken mit loyalen Fans geht: Kinder Schokolade, der Molkerei Müller, McDonalds und Tiefkühlpizzen von Doktor Oetker. Solche „Tastings“ erreichen manchmal vier-, selten fünfstellige Aufrufzahlen. Doch in der Regel ist der View-Counter über Wochen und Monate hinweg höchstens dreistellig.

Fast ein Jahr lang produziert Tangermann mehr als 2.000 Videos ohne ein wirkliches Publikum. Der Durchbruch kommt plötzlich und unerwartet: Im März 2013, elf Monate nach dem Start, lädt Tangermann das Video über ein Malset für Überraschungseier hoch – und die View-Zahlen gehen durch die Decke.

Bis heute ist das Video knapp 29 Millionen Mal abgerufen worden und zählt nach wie vor zu den beliebtesten in Tangermanns Kanal. Über die Gründe lässt sich nur spekulieren: Überraschungseier haben schon vorher eine loyale Fangemeinde, die die Figuren sammelt – doch das dürfte eher ein Nischenphänomen sein. Zu den hohen Abrufzahlen dürfte eher beitragen, dass Überraschungseier in den USA sehr beliebt, aber verboten sind. Die Suchanfragen über das Netz dürften entsprechend hoch sein.

Millionenverdienst mit dem Auspacken von Spielzeug

Zudem sind zu diesem Zeitpunkt bereits so genannte Unboxing-Videos bei Youtube erfolgreich. Zuvor eher aus dem Technik- und Gadget-Bereich bekannt, greifen diese nun auch auf andere Themenbereiche über. Vor allem Videos, die das Auspacken von Spielzeug zeigen, sind bei Youtube gefragt – offenbar weil viele Eltern gerne ihre Kinder vor dem Rechner oder dem iPad „parken“. Legendär ist die Geschichte von DC Toys Collecter: einer Kanalbetreiberin, die, angeblich nach einer Karriere als Pornostar, heute mehrere Millionen US-Dollar pro Jahr mit dem Auspacken von Disney-Spielzeug verdient. Auch bei vielen anderen Kanälen haben ähnliche Videos für einen riesigen Reichweiten-Boost gesorgt; Kids-Content ist der am schnellsten wachsende Themenbereich auf Youtube.

Durch seinen ersten Erfolg mit dem Überraschungseier-Mal-Set erkennt Tangermann diesen Trend vergleichsweise früh und nutzt ihn gezielt, um seine Reichweite zu pushen: „Ich habe dann konsequent ähnliche Videos produziert. Als sich 2013 auf YouTube ein Trend zu Spielzeugreviews abgezeichnet hat, habe ich auch verstärkt derartigen Content produziert.“

Angry Birds als Reichweitentreiber

So dreht Tangermann ein Video, in dem er 21 Überraschungseier auspackt, eines mit einem Überaschungseier-Spielzeug-Truck und eines mit Ostereiern von Kinder. Sie alle wurden bis heute mehrere Millionen Mal abgerufen. Ebenfalls gut funktionieren Videos mit Angry-Birds-Spielzeug – auch „angry birds“ dürfte aufgrund des großens Erfolgs des gleichnamigen Mobile Games ein bei Youtube häufig gesuchter Begriff sein. Fünf der 20 am häufigsten angesehen Videos seines Kanals haben einen Bezug zu den Comic-Vögeln aus dem Spiel. Ein Video über Angry-Birds-Spielknete ist mit 67 Millionen Views gar das erfolgreichste.

Neben der geschickten Auswahl der Produkte dürften auch andere Faktoren zum wachsenden Erfolg des Junkfoodtasters beigetragen haben. Zum einen sind seine Videos heute länger und dauern in der Regel mehr als zehn Minuten. Weil für Youtube die „Watchtime“ (also die Sehdauer) und nicht mehr der reine Klick seit 2012 nach eigener Angabe das wichtigste Ranking-Kriterium ist, dürften auch Tangermanns Videos bei Youtube besser platziert werden. Offenbar landen seine Videos häufig in Youtubes Empfehlungen: „Meine wichtigste Traffic Quelle ist der ‚YouTube Surfer‘, also die User die sich aus Neugierde von Video zu Video klicken“, erklärt der Junkfoodtaster.

Markenzeichen helfen beim Community Building

Zum anderen hat Tangermann einige Markenzeichen entwickelt, die ihn wiedererkennbar machen und als Kanalbetreiber eine eigene Identität verleihen – obwohl er in seinen Videos nicht sichtbar ist. Eine wohl eher unfreiwillige Facette seiner „Corporate Identity“ ist sicher sein holpriges Englisch mit deutlich vernehmbaren deutschen Akzent, über das sich Kommentatoren unter seinen Videos häufig mal mehr, mal weniger liebevoll lustig machen. Zudem kehren einige seiner Ausdrücke und Wendungen immer wieder – wie etwa „Anti-Cooking“ oder die Äußerung „only on my channel“, mit der er augenzwinkernd absurde Vorgänge kommentiert. „’Only on my Channel’ ist zum einen einer der Running Gags den ich einsetzte, zum anderen tatsächlich eine Art Anspruch an den Content“, so Tangermann.

Ein weiteres Markenzeichen: das Zerschneiden und „Sezieren“ der Produkte. „Das Auseinandernehmen gehört meiner Meinung nach dazu. So bekommen die Zuschauer, die ein Lebensmittel nicht kennen mehr eine Idee was das denn ist, auch wenn sie selber nicht kosten können“, sagt Tangermann.

Mit diesen Mitteln gelingt es dem Junkfoodtaster, eine immer größere Community an treuen Junkfood-Fans aufzubauen, die seinen Tests folgen. Ein anonymer Youtuber hat gar eine Art Video-Hommage produziert, indem er den Satz „I always cut stuff“ aus diversen von Tangermanns-Videos aneinander geschnitten und mit einem Beat unterlegt hat. Das Ergebnis: fast 70.000 Views.

Heute werden Tangermanns eigene Videos mehr als 30 Millionen Mal pro Monat aufgerufen; seine jüngeren Videos verzeichnen innerhalb kurzer Zeit mindestens fünf-, nicht selten aber auch sechsstellige View-Zahlen. Sollte nichts entscheidendes dazwischen kommen, dürfte die Zahl der Gesamtabrufe seines Kanals im kommenden Jahr auf über eine Milliarde steigen. Zwar verzeichnen einige wenige deutsche Unternehmenskanäle noch deutlich mehr Views, etwa der vom Musik-Label Kontor. Aber unter den „One-Man-Kanalbetreibern“ ist Junkfoodtaster ziemlich weit vorne – nur die beiden Lets Player Gronkh (1,6 Milliarden) und Piet Smiet (1,3 Milliarden) haben mehr Views.

Traffic aus Deutschland vergleichsweise unwichtig

Tangermanns Entscheidung, englischsprachige Videos zu produzieren, dürfte viel zu diesem Erfolg beigetragen haben – er selbst spricht hier von einem „wichtigen Erfolgsfaktor“. Denn der Großteil des Traffics von Junkfoodtaster kommt eigenen Angaben zufolge aus den USA, Vietnam und der Türkei. „Deutschland belegt in meiner Statistik den 13. Platz.“

Seinen Kanal betreibt er mittlerweile hauptberuflich und investiert 40 Stunden Arbeit in der Woche dafür. Youtube untersagt den Kanalbetreibern vertraglich über ihre Einkünfte zu sprechen. Es kann aber kaum ein Zweifel daran bestehen, dass Tangermann mittlerweile niedrige bis mittlere fünfstellige Euro-Summen pro Monat mit der Werbevermarktung seines Kanals verdient. Verschiedene von Online Marketing Rockstars befragte Youtube-Experten (ebenfalls Kanalbetreiber in ähnlichen Themenbereichen) schätzen den so genannte effektive Tausender-Kontakt-Preis, den Tangermann mit seinem Kanal erwirtschaftet, auf etwas niedriger als einen US-Dollar ein. Rechnet man mit 80 Euro-Cent, so hätte Tangermann im vergangenen Monat rund 28.000 Euro eingenommen. Sein Gesamtverdienst könnte sich nach Einschätzung der Experten im Bereich von 350.000 bis 640.000 Euro bewegen.

Bislang ist Youtube die einzige Einnahmequelle Tangermanns. Er betreibt zwar seit seinem Start als Junkfoodtaster eine eigene Website – einen einfachen Blog, auf dem er seine Videos postet und auf dem die User die Lebensmittel bewerten sollen. Die Seite ist jedoch nicht werbevermarktet. Der Traffic dürfte mutmaßlich sowieso vernachlässigenswert sein, denn seine Fan-Community tauscht sich am regsten direkt unter seinen Videos aus.

Mobile Game mit Startschwierigkeiten

Aktuell versucht Tangermann offenbar, eine neue Erlössäule aufzubauen: „Ich habe zusammen mit einem Freund aus dem Studium das Spiel ‚GoBunBun‘ entwickelt – ein Casual Game, in dem man einen einen Hasen duch eine Bauklötzchen Welt hüpfen lässt.“ Er promotet das Spiel mit mehreren Videos auf seinem Kanal, unter anderem dem ersten Clip, der bei Aufruf der Kanalseite automatisch startet. Das Spiel ist bislang kostenlos und werbefrei. Eine Vermarktung dürfte sich bislang aber auch kaum lohnen: Wie der App-Analytics-Dienst App Annie zeigt, liegt GoBunBun in den App Store Rankings weit abgeschlagen; bei Facebook verzeichnet das Spiel magere 53 Fans. „Das Spiel hat es auf mehrere tausend Installationen gebracht“, entgegnet Tangermann, räumt aber auch ein: „Momentan experimentieren wir mit Marketing Strategien um noch mehr Spieler zu gewinnen.“

Aber selbst wenn das Spiel auch langfristig keinen Erfolg haben sollte, dürfte das für Tangermann kein Grund zur Beunruhigung sein: Die Lebensmittelindustrie wird immer wieder mit neuen, skurrilen Kreationen aufwarten, die Tangermann zerschneiden und bewerten kann – „only on my channel“.

Roland Eisenbrand
Autor*In
Roland Eisenbrand

Roland ist seit mehr als zehn Jahren als Journalist in der Digitalbranche aktiv. Seit 2014 verantwortet er als Head of Content (und zweiter Mitarbeiter) alle inhaltlichen Komponenten von OMR, darunter vor allem den OMR Blog und redaktionelle Arbeit rund um das OMR Festival.

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