Die Dancefluencer: Der Hype um die Berliner Tiktok-Tanzschule Lunatix
Ganz viel Dancing, ab und an ein bisschen dirty: Wie Serdar Bogatekin aus seiner Berliner Tanzschule Lunatix heraus ein Tiktok-Entertainment-Empire aufbaut
Die Berliner Einkaufscenter-Tanzschule Lunatix hat einige der reichweitenstärksten deutschen Tiktoker*innen hervorgebracht. Bei Serdar Bogatekin lernte die aktuell international erfolgreichste deutsche Creatorin Zahide einst das Tanzen. Inzwischen managed der Lunatix-Gründer die 14-Jährige, die nun auch rappt und deren Track "Ballert auf lautlos" aus dem Stand an die Spitze der Tiktok-Musik-Charts schoss. OMR hat mit Bogatekin über seinen Weg vom mittellosen Streetdancer und Schulabbrecher zum erfolgreichen Entertainment-Unternehmer gesprochen.
"Ich bin der King darin, aus Hate Marketing zu machen." Das ist natürlich schon einmal ein starker Satz. Und Serdar Bogatekin meint ihn durchaus wörtlich. Vor einigen Monaten haben sich zwei der erfolgreichsten Creator*innen aus seiner Tanzschule von ihm losgesagt. Nicht etwa im persönlichen Gespräch – sondern in der im Tiktok-Kosmos maximalen Öffentlichkeit: in einem Livestream auf der Plattform. Das konnte Bogatekin nicht umkommentiert lassen und ging selbst live. 90.000 Menschen sahen zu. Die ehemaligen Schüler*innen bekamen das natürlich mit, gingen erneut live. Es entwickelte sich ein Battle, das am Ende die Fans in zwei Lager spaltete.
Tagelang diskutierte die Tiktok-Bubble im vergangenen Oktober die Causa Lunatix. Alle Beteiligten heizten den Beef auf Tiktok und durch Podcast-Auftritte weiter an. Und am Ende sahen nicht wenige in Bogatekin einen Tanzlehrer, dem der Hype um seine Schüler*innen zu Kopf gestiegen ist. Der sich zu ihrem Manager machen wollte, um von deren Erfolg auf Tiktok zu profitieren, obwohl er keine Ahnung vom Business hat. Und Bogatekin? Erkannte eine Chance.
Motiviert durch Niederlagen
Der Bruch mit einigen seiner talentiertesten Schüler*innen hat ihn persönlich hart getroffen. Das merkt man Bogatekin im Gespräch einige Wochen später noch immer an. Doch zugleich hätte ihn vermutlich nichts mehr motivieren können. "Ich muss das Gefühl haben, die glauben nicht an mich", sagt der Lunatix-Gründer. "Ich bin ein Kreuzberger Junge, bei uns ist das so." Da haben Leute Zweifel an seiner Eignung als Manager – Bogatekin wusste also, was er zu tun hatte.
Sein verbliebener Star Zahide kommt seit mehr als fünf Jahren in seine Tanzschule. Und trotz ihrer gerade einmal 14 Jahre ist sie mit 6,4 Millionen Follower*innen eine Macht auf Tiktok. Nahezu jedes der Videos auf ihrem Kanal hat Aufrufe im mittleren Millionenbereich. Er habe schon länger gedacht, dass Zahide rappen kann, sagt Bogatekin. Es brauchte etwas Überzeugungsarbeit, aber dann probierte seine Schülerin es aus.
Fast Forward: Im November 2024 postet Zahide ein Video, in dem sie und ihr Manager einen riesigen Papp-Scheck unterschreiben. Im Hintergrund das Logo eines Musikkonzerns. Mehr als eine halbe Millionen Likes und über 4.000 Kommentare. "Liebe Leute", sagt Bogatekin in dem Clip, "wir haben's geschafft. Zahide unter Vertrag bei Universal."
"Sohn, eröffne eine Tanzschule"
Einige Jahre vor dem Universal-Deal – Bogatekins bislang größtem Triumph – fuhr er mit seiner Mutter im Auto durch Berlin. "Sie hat mir eingeredet, dass ich eine Tanzschule aufmachen soll", erinnert er sich im Gespräch mit OMR. Das aber wollte er nicht, sondern lieber weiter tanzen, an Wettbewerben teilnehmen, reisen, Backgroundtänzer bei internationalen Musik-Acts werden. Doch Bogatekins Mutter blieb dabei: "Vertrau mir mein Sohn, mach eine Tanzschule, dann hast du eine Anlaufstelle und dann wirst du auch als Geschäftsmann wahrgenommen."
Für jemanden, der nach der neunten Klasse die Schule geschmissen hatte, war es bis dahin eigentlich ganz okay gelaufen. Mit 17 hatte Bogatekin angefangen, Kreuzberger Kids auf der Straße und in Jugendclubs das Tanzen beizubringen. "Das war die Gründung von Lunatix", sagt er. Es ging ihm damals darum, eine Crew aufzubauen und nebenbei ein bisschen Geld zu verdienen. Zeitgleich feiert er deutschlandweit Erfolge bei Dance-Battles.
Fame dank türkischer "Supertalent"-Show
Im Jahr 2011 wird Bogatekin durch seine Teilnahme bei der türkischen "Supertalent"-Ausgabe über die Grenzen Kreuzbergs hinaus bekannt. "Auf einmal wollten auf der Straße alle Türken mit mir Fotos machen", sagt Bogatekin. Er beginnt, Sachen auf Instagram und Facebook zu posten, schließt einen Vertrag mit einer Agentur. Die verschafft ihm Aufträge von Coca Cola, Vodafone, McDonald's und Levi's. Bogatekin wird neben Eko Fresh eines der Werbegesichter des Mobilfunkanbieters Ay Yildiz. Doch Geld bleibt ein Problem. Vor und nach seinen Kursen fährt der Tanzlehrer Sushi und Pizza aus.
Bogatekin hat jung geheiratet, mit 23, und ist bald darauf Vater seines ersten Sohns geworden. Trotz aller Geldsorgen rückt er aber nicht von seinem im Alter von 17 gefassten Beschluss ab. Er will seinen Lebensunterhalt durch Tanzen bestreiten. Aber vielleicht hatte seine 2018 verstorbene Mutter mit der Tanzschule doch Recht? Einer seiner Schüler, der BWL studierte, hilft ihm, ein Pitchdeck zu erstellen. Mit dem reist Bogatekin dann nach Düsseldorf zu Ay Yildiz, um die Firma als Sponsor zu gewinnen. Nach anfänglicher Begeisterung zerschlägt sich der Deal jedoch.
"Aufgeben? Nee, jetzt erst recht"
"Die haben mir einen richtigen Arschtritt verpasst", sagt Bogatekin. Komplette Ratlosigkeit wie es weitergehen soll. Seine Lunatix-Crew löst sich damals langsam auf. Aus den Kids waren junge Erwachsene geworden, die arbeiten gehen und keine Zeit mehr für dreimal wöchentlich hartes Tanztraining haben. "Doch dann dachte ich mir nach zwei Wochen: Also jetzt wirklich aufgeben? Nee, jetzt erst recht." Kreuzberger Junge eben.
Er mietet sich einen Raum in einer Tanzschule, verteilt Flyer in den umliegenden Dönerläden. Ein paar Dutzend Schüler*innen kommen, es geht weiter. Und dann hat Bogatekin Glück – auch wenn er als religiöser Mensch, der nicht an Zufälle glaubt, das nicht so nennen würde. Auf jeden Fall trifft Bogatekin einen Typen, der mit seinen Sprayer- und Künstlerfreunden gerade ein zum Abriss vorgesehenes Haus an der Nähe des Ku’damms in den temporären Kunstort The Haus verwandelt.
Lieber Kontakte als ein Honorar
Der Sprayer, wie Bogatekin stammt er aus Kreuzberg, fragt ihn, ob er Lust hätte, da was zu machen. Hat er und liefert eine kunstvolle Choreografie ab. Ein Video davon geht damals auf Facebook viral. Bogatekin schlägt die angebotenen 500 Euro Honorar aus. "Ich meinte zu ihm: Weißt du was, Bro? Behalt das mal! Ich sehe, du hast viele Kontakte – vielleicht kannst du mir irgendwann helfen."
Irgendwann kommt dann recht bald. Denn The Haus hatte einen riesigen Hype entfacht. Die Schlange vor dem Eingang ging um den halben Block. Die Betreiber eines Einkaufszentrums im eher gediegenen Berliner Stadtteil Wilmersdorf fragen daraufhin beim The-Haus-Macher an, ob er eine Idee hat, wie man den Leerstand in ihrer Mall mit Leben füllen kann. Da erinnert der sich an Bogatekin und dessen Wunsch, eine Tanzschule zu eröffnen.
Seine Mutter hatte Recht behalten
Es kommt zum Termin und Bogatekin – vielleicht kein Schulabschluss, aber smart – leiert den Center-Betreibern statt der angebotenen drei Monate ein ganzes Jahr mietfreie Zwischennutzung aus dem Kreuz. Mit 12.000 Euro, die er sich von einem ehemaligen Schüler leiht, gestaltet er die Fläche um. Zur Eröffnung kommen Hunderte Kids, schnell sind die Kurse voll. Jeden Tag Dutzende Eltern, die sich während der Kurse die Zeit in den umliegenden Geschäften vertreiben. Die Mall-Leute sind happy.
Sie bieten Bogatekin eine Verlängerung an, und auch andere Center interessieren sich für das Konzept. Er entscheidet sich letztlich für die neue East Side Mall am anderen Ende der Stadt und träumt bereits von einer europaweiten Kette von Tanzschulen in Einkaufszentren. Auf den Tag genau zwei Jahre nach der ersten eröffnet am 19. Oktober 2019 die zweite Lunatix-Filiale. Und ein paar Monate später kommt Corona.
Auf Tiktok dank Lockdown
Bogatekin muss seine Tanzschulen schließen. "Und dann dachte ich mir so, Bro, weißt du was – ich mach mal Tiktok, hab ja Zeit." Innerhalb von drei Monaten sei sein Kanal auf 30.000 Follower*innen gewachsen, sagt Bogatekin. Irgendwann ist die Lockdown-Phase vorbei, die Tanzschule mit inzwischen 1.000 Mitgliedern erfordert wieder seine volle Energie. Und überhaupt: "Ich habe drei Kinder und bin ein erwachsener Mann. Was tanze ich da auf Tiktok rum?"
Dafür animiert Bogatekin seine besten Schüler*innen, die Plattform intensiv zu nutzen. "Ich habe zu denen gesagt: Fangt mit Tiktok an! Das ist die Zukunft." Schnell haben einige von ihnen mehrere Hunderttausend Follower*innen. Bogatekin bemerkt, dass manche seiner Kids auf einmal Bekleidung zugeschickt bekommen. Er fragt nach: "Bekommt ihr dafür Geld?" "Nö." Das sollte sich ändern.
Seine Schüler*innen dominieren die Charts
"Da hab ich gesagt, okay, ich bin zwar kein Manager, aber ich hab Erfahrung", sagt Bogatekin. Schließlich hat er in der Vergangenheit viele Auftritte gemacht und dabei gelernt, wie man Konditionen verhandelt. Er redet mit den Eltern seiner Schüler*innen, wird mit einigen handelseinig: 25 Prozent auf alle Einnahmen, die er reinholt. Bogatekin bezeichnet diesen Anteil als üblich. Wobei sich der Prozentsatz eher am oberen Ende des Üblichen bewegt.
Damals habe er gedacht, er könne vielleicht mit benachbarten Geschäften kooperieren. Doch schnell wird klar, dass er ein paar Nummern größer denken sollte. Die Reichweite seiner Zöglinge explodiert förmlich. In der zweiten Jahreshälfte 2024 besetzen seine Stars Zahide sowie Chaira und Samro – mit denen es bald zum Bruch kommen sollte – in fünf der sechs Monate in wechselnder Reihenfolge die drei Spitzenplätze der OMR Tiktok-Charts.
Dirty Dancing in Wilmersdorf
Um die Reichweite zu pushen, inszenieren Bogatekin und seine Schüler*innen in ihren Clips kleine Tanzschuldramen. Chaira und Samro sind ein Paar. Jedes Mal, wenn Zahide einen Clip hochlädt, in dem sie mit Samro tanzt, explodiert die Kommentarspalte. Dirty Dancing in Wilmersdorf. Alles ein großer Spaß. Mit der wachsenden Reichweite kommen auch die lukrativen Deals. Die Lunatix-Crew pusht in ihren Clips im Auftrag von Musikfirmen neue Songs. Er könne dafür inzwischen fünfstellige Beträge aufrufen, so Bogatekin. Einem seiner Schüler habe er einen Ausstatter-Deal mit Nike verschafft. Alles schien perfekt zu laufen – doch dann kam der Bruch mit zwei seiner größten Stars.
"Mein Traum war immer, dass wir als Gruppe wachsen. Nicht einzeln auftreten, sondern als Familie", sagt Bogatekin. Das sei immer sein Ziel gewesen. Aber wo es auf einmal mehr zu verteilen gibt, da entsteht fast immer Streit. Wer letztlich den Bruch zu verantworten hat, davon gibt es zwei Versionen. So oder so: Es bleibt jede Menge Drama und Rivalität wo mal Freundschaft war. "Mich motiviert das, noch mehr zu machen", sagt Bogatekin. Nicht dass die Schüler*innen es am Ende alleine besser machen als der Meister. Inzwischen hat er bei Lunatix für klare Verhältnisse gesorgt. Wer keinen Vertrag hat, darf in der Tanzschule keine Videos mehr drehen und muss nach Ende des Kurses gehen.
Seitenhieb auf die alten Weggefährt*innen
In der Rückschau muss man sagen, dass Bogatekin das Drama um die Spaltung seiner Lunatix-Crew ziemlich clever gespielt hat. Auf dem Höhepunkt der Hate-Welle, wo sich halb Tiktok über den unfähigen Manager lustig gemacht hat, schnitt er ein Video mit Clips von Nutzer*innen der Plattform zusammen, die das Lunatix-Drama kommentierten. Die Botschaft: Ihr haltet mich für einen schlechten Manager? Dann zeigt mir den schlechten Manager, der Leute auf allen Erdteilen dazu bringt, über ihn zu reden.
Und natürlich hat Bogatekin den Typen, der die Songs für Zahide schreibt, gebeten, den Beef direkt in ihrem Debüt-Track "Tiktok sportlich" zu verewigen: "Wir haben euch aufgebaut, sag, wo seid ihr jetzt? / Ihr seid gekommen, ihr seid gegangen, wo bleibt euer Respekt?" Keine Namen und nach Berliner Battlerap-Standards ein ziemlich jugendfreier Diss.
Aber Bogatekin beherrscht auch Aktionen, wo Leute aus seinem Umfeld dann sagen: "Bro, was machst du wieder?" Etwa, dass er kurz vor Release von Zahides zweiter Single öffentlich macht, eine ehemalige Schülerin habe einen kosmetischen Eingriff machen lassen. Kein Name, aber klar wissen alle, um wen es geht. Ein Move, für den er sich Kritik gefallen lassen muss, vor allem, weil es um eine Minderjährige geht. Aber vielleicht eben das, was einer tut, dessen Marketing-Playbook nicht in einem Agentur-Loft geschrieben wurde, sondern in den Straßen von Berlin-Kreuzberg. "Ich kann immer hart an die Grenze gehen", sagt Bogatekin. "Es ist einfach nur Marketing."
Farid Bang ist Fan
Das er das beherrscht, kann der Autodidakt Bogatekin inzwischen mit Zahlen belegen. Zahides zweite Single "Ballert auf lautlos" stieg an der Spitze von Tiktoks Musik-Charts ein, die Creatorin wurde von der Plattform zum "Hot Artist of the Week" gekürt. Der Sound wurde seit dem Release zehntausende Mal von anderen Tiktok-Nutzenden verwendet, Farid Bang outet sich als Fan.
Auf jeden Fall hält Bogatekin das Tempo hoch. Auch wenn es nicht auf dem Papp-Scheck stand: Der Deal mit Universal bewege sich in einer erst zu nehmenden Größenordnung, so der Lunatix-Chef. Dafür liefert Zahide 13 Songs. Jeden Monat ein Drop, immer in einer anderen Stadt, wo es viele Fans gibt. Nach Dubai und London geht es für die Lunatix-Crew als nächstes wohl nach Paris und – vielleicht – New York. 2026 könnten Live-Konzerte folgen. Bogatekin spricht über einen Lunatix-Kinofilm, träumt von einer eigenen Klamotten-Marke.
Auch das eigentliche Business baut Bogatekin gerade aus. Dieser Tage soll seine Online-Tanzschule "Dancefluencer" live gehen. Die ersten 1.000 der regulär knapp 20 Euro im Monat teuren Abos hätten sie direkt nach der Ankündigung verkauft. Außerdem formiert der Berliner gerade aus den talentiertesten Kids seiner Tanzschulen eine neue Lunatix-Crew. Mal sehen, ob die Familie diesmal hält. Und er hat sein eigenes Musiklabel gegründet. Wie er es genannt hat? Bad Management Records natürlich.