Purpose Marketing für die Flutregion: Wie Daniel Koller dem Ahrtal Sichtbarkeit verleiht

4,5 Millionen Euro Spenden kamen durch Flutwein zusammen. Jetzt setzt Koller auf Kunst

Inhalt
  1. "Auf Marketing-Skillsets zurückgreifen, um Gutes zu tun"
  2. Ein Foto im Whatsapp-Chat
  3. 4,5 Millionen Euro Spenden kommen zusammen
  4. Aus Katastrophen lernen
  5. Über zwei Millionen Pageviews

Mehr als 130 Menschen haben bei der Flutkatastrophe im Ahrtal vor zwei Jahren ihr Leben verloren. Seitdem arbeitet Daniel Koller mit kreativen Kampagnen daran, dass die Katastrophenregion nicht in Vergessenheit gerät. Mit dem "Museum of Modern Ahrts" haben er und seine Mitstreitenden nun eine deutschlandweite Ausstellung geschaffen, die die Geschichte der Menschen erzählt, die alles verloren haben. Damit wollen sie an den Erfolg ihrer Flutwein-Kampagne anknüpfen.

Neben der Bushaltestelle in Hamburg, auf der Straßenkreuzung in Frankfurt, auf dem Nachhauseweg in Köln: In deutschen Großstädten blicken Passanten Menschen mit ernsten, durchdringenden Blicken von Citylight-Postern entgegen. Vor schwarzem Hintergrund ist zum Beispiel Peter Kriechel zu sehen. Der Winzer aus dem Ahrtal konnte in der Flutnacht seine Hühner noch retten, vieles andere hingegen nicht. Oder Thomas Pütz, Mitgründer des Helfer-Shuttles, das 150.000 Freiwillige an die Orte brachte, an denen ihre Hilfe am meisten benötigt wurde. Die kurzen Clips sind Teil des "Museum of Modern Ahrts", der Name ist eine Zusammensetzung aus dem Fluss Ahr und dem berühmten New Yorker Museum of Modern Arts (MoMA).Ein zur Kampagne gehörender Kurzfilm wurde seit Februar 2023 rund 60.000 Mal deutschlandweit in rund 2000 Kinos gezeigt.

Darin erzählen Menschen ihre Geschichte vom Hochwasser im Ahrtal in Rheinland-Pfalz, das am 14. Juli 2021 nach Unwettern und Starkregen immer weiter steigt. Orte entlang der Ahr werden überflutet, Häuser zerstört. Über Tausend Menschen werden zunächst vermisst, mehr als 130 verlieren ihr Leben. Die Wassermassen lassen Schlamm, Schutt und Zerstörung zurück.

"Auf Marketing-Skillsets zurückgreifen, um Gutes zu tun"

Initiator der Kampagne, die an die Geschehnisse erinnern soll, ist Daniel Koller. Der 34-Jährige ist in Stuttgart geboren, hat ungarische Wurzeln und wohnt heute in München. Es sind Orte, die weit weg sind vom Epizentrum der Katastrophe. Doch das Projekt liegt ihm am Herzen, er setzt es ehrenamtlich als Privatperson um. Als Marketer und Change-Manager gelingt es ihm jedoch, für die Idee nicht nur Menschen aus seinem Umfeld als Mitstreitende zu gewinnen, sondern auch viele große Unternehmen als Partner: Marken, Produktionsfirmen und Agenturen unterstützen das Projekt. Die Seven.One Ad Factory, für die Koller unter Geschäftsführer Thomas Schwarz hauptberuflich arbeitet, entwickelt als Lead-Agentur die Kampagne. Firmen wie WallDecaux, Weischer Cinema oder Focus Online spenden ihre Reichweite.

Als Unternehmen Haltung zu zeigen, werde immer wichtiger, ist Koller überzeugt. Und die zeige man durch Handeln. "Purpose Marketing ist nicht nur eine Werbegeschichte. Vor allem bei der jungen Zielgruppe werden Kaufentscheidungen immer häufiger davon abhängig gemacht, ob die Marke zu meinem sozialen Wertegefüge passt." Und dahinter müssten auch unternehmerische Handlungen stehen: "Wenn man auf das Thema Purpose, Haltung oder soziale Verantwortung setzt, muss man das auch in der Unternehmens-DNA tragen, nicht nur im Marketing-Storytelling." Werber und Marketers seien Experten darin, Kommunikation zu gestalten, um Produkte zu verkaufen. "Auf dieses Skillsets kann man auch zurückgreifen, um Gutes zu tun."

Für Koller selbst ist das in seiner Freizeit eine Art Spezialgebiet geworden: "Sozialen kreativen Aktivismus" nennt er das. Es ist bereits die zweite Kampagne, die er für das Ahrtal initiiert hat. Die erste war so erfolgreich, dass sie deutschlandweit wohl fast jeder Person ein Begriff ist. Ihren Ursprung hat sie in der Flutnacht.

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Ein Foto im Whatsapp-Chat

Als am 14. Juli 2021 das Hochwasser an der Ahr steigt, die Wassermassen ganze Häuser mit sich reißen und Menschen ihre Nachbarn vermissen, ist Daniel Koller 500 Kilometer weit weg in München. Die schrecklichen Nachrichten erreichen ihn über Whatsapp. Seine Verwandten, die im Ahrtal leben und einen Gasthof betreiben, informieren die Familie über einen Liveticker – bis der Funk abbricht. Dann herrscht Stille im Chat.

Eine Fotonachricht, die seine Tante Linda später schickt, guckt Daniel Koller sich länger an. Im Hintergrund sind Weinflaschen zu sehen, vor lauter Matsch sind die Etiketten kaum lesbar. Zwischen all der Zerstörung und den unzähligen menschlichen Schicksalen ein Symbolbild dafür, dass die Flut auch den wichtigsten Wirtschaftszweig des Ahrtals beschädigt hat: Mehr als fünf Millionen Liter werden in der Region jährlich produziert. Daniel Koller aber sieht aus der Ferne etwas anderes: ein Keyvisual.

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Innerhalb von 48 Stunden nach der Flut entwickelt er mit Mit-Initiator und Winzer Peter Kriechel, dem Vorsitzenden des Ahrwein e.V., und einer Projektgruppe eine Kampagne, die auf diesem Visual, der Flasche aus dem Matsch, fußt. Daniel Koller selbst kommt nicht aus dem Ahrtal und ist daher nicht so gut vernetzt wie Kriechel oder seine Tante. Die stellen vor Ort alles auf die Beine und vermitteln. "Die Winzer*innen hätten sonst wahrscheinlich gedacht, wieso kommt da so einer aus München mit so einer verrückten Idee?"

4,5 Millionen Euro Spenden kommen zusammen

Natürlich, er hätte auch an die Ahr fahren und sich Gummistiefel anziehen können, um mit anzupacken in all den zerstörten Häusern und Straßen. Aber Kollers Gedanke ist ein anderer: "In einer Krise entstehen aus der Not heraus sehr viele gute Ideen und der Knackpunkt ist, dass es Menschen braucht, die eine solche Idee verwirklichen können. Ich denke, es wichtig seine persönlichen Stärken zu reflektieren: Was kann ich tatsächlich tun, was andere vielleicht nicht können? Und so war in meinem Fall die Idee für Flutwein vielleicht wertvoller, als eine Person mehr zu sein, die schaufelt."

Sechs Tage nach der Flut entsteht die Marke #flutwein, die in den Wochen darauf national und international bekannt wird. Durch einen Hangtag, also einen Produktanhänger mit der Aufschrift #flutwein, bekommen die Flaschen unterschiedlicher Winzerbetriebe neben dem Schlamm ein zusätzliches einheitliches Kennzeichen. Der Flutwein wird zur erfolgreichsten Crowdfunding-Kampagne, die es in Deutschland je gab: fast 200.000 verschlammte Flaschen werden auf Startnext verkauft und nach und nach verschickt.

4,5 Millionen Euro Spenden kommen so zusammen, die erst nach bürokratischen Hürden und Auseinandersetzungen mit der Politik mit einer Sondergenehmigung im Frühjahr2022 endlich an die Winzer*innen ausgezahlt werden können. Die Flutwein-Macher werden für ihre Kampagne ausgezeichnet: Sie erhalten Effie-Awards, mit denen in der Werbe- und Kommunikationsbranche erfolgreiches Marketing belohnt wird, u.a. in der Kategorie "Doing Good".

Aus Katastrophen lernen

Mission erfüllt, könnte man meinen. Während an der Ahr der Wiederaufbau beginnt und die Menschen sich so etwas wie Normalität zurück erkämpfen, fällt es abseits der Katastrophenregion einfacher, zum normalen Leben zurückzukehren. Daniel Koller fasst das drastischer zusammen: "Das Interesse der Medien nach einer Katastrophe wie im Ahrtal verschwindet sehr schnell. Die Flutgeschichte war tot und wurde durch andere Katastrophen ersetzt." Und damit geht auch die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit nach und nach verloren.

Nach der Zerstörung kommt die Stille. "Das ist das, wovor sich Menschen nach Katastrophen am meisten fürchten", sagt Koller und kritisiert: "Wir kehren von Katastrophen viel zu schnell zur Normalität zurück und lernen nicht daraus für das nächste Mal." Flutwein sei ein großer Erfolg gewesen, aber eben eine Einzelfalllösung. "Für die nächste Naturkatastrophe gilt das nicht." In allen Bereichen – von der Prävention über die Ersthilfe bis zum Wiederaufbau – müssten Lehren gezogen werden.

Koller will, dass die Erinnerung an die Flutkatastrophe lebendig bleibt. Daher das Museum of Modern Ahrts, daher die Plakate überall in Deutschland. Kernstück der Kampagne ist ein Cube, eine Art Zeitkapsel, in der Relikte aus der Fluchtnacht eingegossen wurden, um mit Kunst dem Vergessen entgegenzuwirken. Das haptische 3,5 Tonnen schwere Mahnmal steht in Ahrweiler. Die "Digital Out of Home"-Anzeigetafeln dienen als Verlängerung, als Galerieflächen in ganz Deutschland. Auf ihnen werden die Relikte gezeigt und auch die Botschaften der Menschen, die dahinterstehen.

Ziel ist es dieses Mal nicht, Spenden zu sammeln. Stattdessen sollen die Menschen im Ahrtal nicht vergessen werden – nicht von den Menschen außerhalb der Krisenregion. Und vor allem nicht auf bundespolitischer Ebene. Katastrophenhilfe müsse gemeinnützig werden, fordern diejenigen, die in den Momahr-Clips zu sehen sind. So sollen in Zukunft finanzielle Hilfen schnell und unbürokratisch ausgezahlt werden können.

Über zwei Millionen Pageviews

"Die Power von Marketing ist ja, dass man in der breiten Gesellschaft etwas bewirken kann", sagt Daniel Koller. Wie erfolgreich das im Falle der Momahr-Kampagne bisher geschieht, ist schwer messbar. Auf der Momahr-Website gab es bis Juli seit dem Start im Februar mehr als zwei Millionen Aufrufe mit einer Verweildauer von sechs Minuten im Durchschnitt.

Mit Bild- und Videomaterial reagiert die Projektgruppe um Daniel Koller auf aktuelle Krisen wie Brände, Fluten oder Erdbeben, im In- und Ausland und will so in den Austausch gehen und die Bekanntheit der Marke Momahr steigern. Offline soll der Cube als Mahnmal vor Ort bestehen bleiben und Türöffner sein, so wie im Februar, als die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) ihn zur Eröffnung besuchte und Bürger*innen zum Gespräch zur Verfügung stand.

Daniel Koller möchte weitermachen, auch aus der Ferne, und plant schon sein nächstes Projekt, um mit seinem Marketing-Werkzeugkoffer neben dem Daily Business im Kreativbereich Aufmerksamkeit und Hilfe zu generieren, wo diese dringend gebraucht wird. Worum es dieses Mal geht? Das möchte Daniel Koller noch nicht verraten.

Foto-Credits: Tomaso Baldessarini, Max Harrus, Stephan Dinges (Staatskanzlei Rheinland-Pfalz)

Marketing
Tanja Karrasch
Autor*In
Tanja Karrasch

Tanja Karrasch ist Redakteurin bei OMR. Sie hat bei der Tageszeitung Rheinische Post volontiert und anschließend als Redakteurin gearbeitet. Vor ihrem Wechsel zu OMR arbeitete sie für die TV-Produktionsfirma Bavaria Entertainment und war als Redaktionsleiterin für zwei ZDF-Shows zuständig.

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