Whatsapp-Krypto-Scam: Der Funnel ins Verderben 

Christian Cohrs27.11.2023

Wie funktioniert eigentlich das Marketing von Krypto-Betrügern? Unser Autor analysiert einen Abzockversuch via Whatsapp-Gruppenchat

"+92 341 1492115 hat dich hinzugefügt." Schon mit der ersten Mitteilung ist mir klar: Hier wird jemand versuchen, an dein Geld zu kommen. Doch mit der ungefragten Einladung in die Whatsapp-Gruppe "📈 Carlyle Group 📈 A152" begann eine spannende Reise in einen bizarren wie elaborierten Betrugsversuch. Vorhang auf für ein Chatbot-Drama über Gier und Geldsorgen, FOMO, Freundschaft und … Female Empowerment. 

Die Protagonisten (Auswahl):

  • Herr Neil(l), Analyst, Investmentbanker und Krypto-Experte  
  • Emma, seine Assistentin, benutzt fünf Handys simultan
  • Yuhgh, Krypto-Skeptiker, Mediziner und Hobbykoch
  • Peter Froizheim, verheiratet, Familienvater, vorsichtiger Anleger 
  • Erna, Mutter, bislang glücklose, aber lernwillige Hobbyspekulantin
  • Dirk Carey, Fitness-orientierter Krypto-Bro  
  • Hanna, Investment-Newbie mit wenig Startkapital
  • Leah Evans, Krypto-Spekulantin, leider etwas verplant 

Insgesamt sind über vier Wochen neben mir mehr als 150 Personen zumindest vorübergehend Teil der Chatgruppe. Es ist nicht zu klären, wie viele davon real sind. Ich gehe aber davon aus, dass es sich bei den allermeisten, wenn nicht allen, die nach 48 Stunden die Gruppe nicht verlassen haben, um Bots handelt. Vermutlich bin ich der einzige Gast in dieser Investment-Theater-Chatgroup. Was nicht heißt, dass das besonders exklusiv ist. Denn es gibt Indizien, dass vor anderen exakt dasselbe Stück aufgeführt worden ist und eine ziemlich banale Erklärung für das ab und an sehr holprige Deutsch der Mitchattenden. Aber dazu später mehr. 

Prolog (und Spoiler):

Wenn man von einer pakistanischen Handynummer ungefragt in einen super-exklusiven Investment-Zirkel eingeladen wird, wo ein erfahrener, US-amerikanischer Analyst kostenlos und auf Deutsch Tipps für die Spekulation mit Krypto-Währungen teilt, nun ja, da kann man schon etwas misstrauisch werden. Aber es gibt natürlich eine Erklärung. Direkt zu Beginn des Whatsapp-Chats erklärt Emma, Assistentin des Analysten Neil, man feiere das 36-jährige Jubiläum der Investment-Firma Carlyle Group und die Expansion in den deutschen Markt. Das überzeugt mich dermaßen, dass ich doch lieber noch ein wenig rumgoogle.

Immerhin: Carlyle gibt es tatsächlich. Emma teilt im Chat Screenshots von der echten Website. Ruft man diese auf, sieht man aber, dass das Unternehmen sich seines Scammer-Problems bewusst ist. Direkt auf der Homepage gibt es einen eigenen Unterpunkt zum Thema "Fishing & Fraud".

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Wer könnte diesem Mann nicht vertrauen? Porträt des nachnamenlosen Analysten Neil.

Analyst Neil – der sich manchmal auch Neill schreibt und dessen Nachnamen ich nie erfahren werde – ist nicht so leicht im Web aufzuspüren. Dafür teilt Emma seinen Overachiever-Steckbrief: geboren am 23. Juli 1979 in New York, Bachelor an einer Ivy-League-Uni, schon bald darauf leitender Analyst der Kryptobörse Binance – erstaunlich, weil Neil bereits 2016 zu Carlyle gewechselt sein soll, also ein Jahr bevor Binance überhaupt gegründet wurde.

Auch die Suche nach seinem Profilbild erzeugt eher Irritation: Es verweist auf den X-Account einer shady Krypto-Newsseite, wo Neil allerdings Andrew Thomas heißt und an der Universität in Berkeley tätig sein soll, den man dort aber nicht findet. Auch Neils von Emma genannte "Berufsnummer" A14FEGIA–117 verweist ins Nichts. Aber hey, was stört mich ein etwas fadenscheiniger CV, wenn ich dank dieses Finanzgenies bald jede Menge Cash auf dem Konto haben werde. Also los. Let’s make some money!

1. Akt – "Ich brauche Geld" 

Neils Assistentin Emma ist so einnehmend wie direkt. In ihrem ersten Post stellt sie den "Freunden" in der Gruppe einen täglichen Profit von 500 bis 2.000 Euro in Aussicht. Am Ende des vierwöchigen Gratis-Kurses werde ich also 15.000 bis 60.000 Euro reicher sein. Oder, wie ich noch lernen werde, noch sehr, sehr, sehr viel reicher. So oder so aber natürlich nur, wenn ich den "Handelssignalen" von Analyst Neil Folge leiste.

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Freundlich, kompetent und immer ansprechbar: Emma, Assistentin von Neil.

Dann meldet sich der Maestro selbst im Chat. Auch Neil begrüßt uns als "Freunde", umreißt dann seine Strategie. Doch ein Zweifler ist in unserer Runde: "Ich würde das Gleiche tun wie du. seine Echtheit überprüfen", schreibt Markus Resmer. Unklar, auf wen Markus hier Bezug nimmt, aber seine Mahnung geht eh unter in Neils länglichen Ausführungen zur Carlyle Group und den vielen Posts, in denen Dutzende meiner neuen Krypto-Freunde offenherzig teilen, was sie sich von der ganzen Sache hier versprechen.

"Ich brauche Geld, wie sollen wir zusammenarbeiten? ? ?" Oder: "Ich hoffe, dass es mir mehr Wohlstand bringt🍻" Andere schreiben von ihrem Kalkül, nach hohen Verlusten mit Krypto-Spekulationen von Neil nun zu lernen, wie man es besser macht und das Geld zurückzugewinnen. Mein Favorit aber ist das Geständnis von Jess Vasquez Rodriguez: "Meine Lebenslast ist seit meiner Heirat enorm. Kann die Carlyle Group mir mehr Wohlstand verschaffen und mein Leben verbessern?"

Dieses von Neil gepostete Video soll seine Kolleg*innen zeigen– ich würde zu gerne wissen, ob man hier tatsächlich echte Scammer bei der Arbeit sieht. 

Tatsächlich glaube ich, dass die ausgestellte Naivität der Bots ein smarter Move der Betrüger*innen ist. Denn sie schafft ein Framing für die Frage, die sicher nicht nur Freund "hgg" umtreibt: "Das klingt großartig, aber ich frage mich, welchen Zweck die Carlyle Group damit verfolgt? Erheben Sie eine Gebühr? Ich glaube nicht, dass die Carlyle Group uns kostenlos helfen wird."

Das tut sie natürlich nicht. Nach der einmonatigen Testphase werde eine Provision fällig, so Neil. Es folgt erstmals ein Dialog der Bots: "10 % sind für mich etwas hoch!!!", mault "Jjjk". Woraufhin Frank diesen Kleingeist in unserem Zirkel gekonnt bloßstellt: "Das ist nicht zu hoch. Wenn Sie Geld verdienen, brauchen Sie sich um dieses kleine Geld keine Sorgen zu machen. Sie können mehr Geld verdienen, wenn Sie eine höhere Vision haben."

Insgesamt aber herrscht ein freundliches Klima in der Gruppe. Emma dekoriert ihre Posts mit Herzen, Smileys und Blumen-Emojis, wünscht allen "einen Tag voller Energie" und dass jeder viel Geld verdienen mag. Und spät am Abend, wenn die Kommunikation endet, wünschen sich die Freunde gegenseitig eine Gute Nacht.

2. Akt – "Vertrauen ist sehr wichtig"

Neil ist ein viel beschäftigter Mann. Eines Abends endet die Kommunikation abrupt "aus Zeitgründen". Vermutlich steckt dahinter eine gewisse Cliffhanger-Logik. Denn in den ersten Tagen geht es vor allem um Education. In seinen Nachrichten erklärt Neil detailliert – und wie mir als Krypto-Amateur erscheint – sachlich korrekt die Geschichte des Bitcoin sowie den Ablauf von Spekulationsgeschäften. Neil betont die Volatilität des Marktes. In seinen Ausführungen verwendet er viele Fachbegriffe wie Short- und Long-Kontrakte, Spotmarkt, Hebelgeschäfte und so weiter. 

Wer anfällig für diese Betrugsmasche ist, dürfte wenig Ahnung von der Finanzwelt haben und entsprechend beeindruckt von Neils geballter Kompetenz sein. Auch seine Assistentin Emma überschüttet die Freunde mit ausufernden Informationen zur super-smarten Vorgehensweise der Carlyle-Analysten. Wobei die Grenze zum Nonsense fließend ist: "Natürlich überwinden unsere Finanzanalysten keine Barrieren und sind sowohl Partner als auch Konkurrenten, machen gemeinsam Fortschritte und erreichen eine Win-Win-Zusammenarbeit." Okay, alles klar.

Unsere Community ist auf jeden Fall auf einer deutlich geringeren Flughöhe unterwegs. "Dinge, an denen man beharrlich festhalten kann, führen oft zu guten Ergebnissen.👍🏻", küchenphilosophiert Erna zwischendurch. Andere Freunde allerdings berichten von ihrer eigenen Expertise in Sachen Krypto-Spekulation, nie aber, ohne ihre Bereitschaft zu betonen, von Neil zu lernen. Nach ein paar Tagen, in denen Neil immer wieder Anekdoten aus seiner Senior-Laufbahn droppt und mit seiner breiten Expertise prahlt, ist zumindest die Hierarchie geklärt.

Und allen noch immer zweifelnden Freund*innen in unserem Kreis macht der anfangs extrem kritische Yuhgh klar: "Vertrauen ist sehr wichtig. Durch diese wenigen Tage der Beobachtung, einschließlich meiner eigenen Nachforschungen, habe ich die Stärke von Carlyle gesehen👍🏻 Ich denke, das ist die Grundlage für den Aufbau von Vertrauen zwischen uns."

3. Akt – "Es ist unglaublich"

So ziemlich jede*r – selbst Leute, die nach drei Tagen in der Carlyle-Chatgruppe immer noch nicht begriffen haben, dass hier eine Bot-Armee dabei ist, sie in einen Betrug reinzuziehen – dürfte wissen: Bitcoin & Co sind nicht der sicherste Hafen für das eigene Vermögen. Darum gibt sich Neil auch alle Mühe, den Freunden die Vorteile der Krypto-Spekulation gegenüber anderen Anlageformen schmackhaft zu machen. 

Immobilien? Lohnend, aber teuer. Aber das braucht er den Freunden nicht zu erklären. "Wissen Sie, wie teuer die Immobilienpreise in Berlin sind? Wer investiert in Immobilien?", schreibt Anna mit leichtem Hohn zwischen den Zeilen. Tomas Piller sekundiert: "Früher war ich Immobilienentwickler, aber jetzt sind die Immobilienpreise extrem hoch und die Investition zu groß. Das ist keine kluge Entscheidung! ! ! Neil! ! !" Klassische Finanzanlagen? Zu kompliziert. Versicherungen? Zu schlecht verzinst. Also bleibt? Krypto! 

Moment, so einfach machen es sich die Betrüger*innen nicht. Im Chat entspinnt sich eine kleine Debatte: "Kryptowährungen schwanken zu stark und sind für uns Normalbürger zu teuer", kommentiert Leah. Auch Peter macht offensichtlich eher ambivalente Erfahrungen – oder hat einfach nur Pech: "Im Vergleich zu anderen stabilen Anlagen und echten Kapitalanlagen bevorzuge ich Kryptowährungen, aber dadurch verliere ich immer Geld, was unverschämt ist."

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Was macht eine lebendige Scam-Community aus? Rege Diskussionen und realer Fin-Talk.

Analyst Neil übergeht diesen eher wirren Einwurf galant und kommt auf den Punkt: "Wenn wir die oben genannten Arten von Investitionen vergleichen, können wir erkennen, dass Investitionen in Kryptowährungen sehr einfach sind und schnell Gewinne erzielen können." Der Trick sei der "Vertragshandel", also Hebelgeschäfte, die den Einsatz vervielfachen können – aber eben auch extrem riskant sind und zum Komplettverlust führen können. Dieses Detail unterschlägt Neil allerdings.

Und an dieser Stelle wird dann deutlich, wie die Betrugsmasche funktioniert. Denn ich bin offensichtlich nicht der Einzige in der Gruppe, der keine Ahnung von Krypto-Hebelgeschäften hat. Neil schreibt, wer mehr wissen wolle, solle einfach ihm oder seiner Assistentin Emma eine private Nachricht schicken. Ich widerstehe …

… um am folgenden Tag festzustellen, dass nicht alle so zauderhaft sind. Während die eine Hälfte der Gruppe teilt, wie viel Geld sie bereits eingezahlt haben und vor Vorfreude auf die ersten Trades bebt, regen sich bei Erna Anzeichen von Fomo: "Ich habe kein Konto und weiß nicht, wo ich ein Konto für den Handel mit Verträgen eröffnen soll. Wo ist es also?"

Dann gibt Neil seinen ersten Trading-Tipp, dekoriert mit gleich zehn Geldsack-Emojis. Sieben Minuten später fordert er die Freunde auf, ihre Positionen zu schießen – und es herrscht Chaos in der Gruppe. Auf der einen Seite jubelt Anle: "Es ist unglaublich, ich habe in nur wenigen Minuten 6.000 $ verdient!" Bei anderen herrscht großer Katzenjammer. "Nein, warum kann ich nicht finden, wo es gehandelt wird? ?", jault  Adamietz. "Neil, bitte antworte auf meine DM-Nachricht! Ich möchte diesem Deal beitreten!" Und damit wir alle was zu lachen haben, meldet sich auch Leah zu Wort: "Ich habe auf Binance das Falsche gekauft. Verdammt!"

4. Akt – "Okay, Lehrer Neil😘"

Die wachsende Verwirrung ist auf jeden Fall Prinzip. Denn an diesem und den folgenden Tagen bieten die vermeintlichen Carlyle-Mitarbeitenden den Freunden im Chat immer wieder ihre Hilfe an. "Sie können auf jeder Plattform handeln oder Emma kontaktieren, um ein neues Konto für den Handel zu eröffnen", schreibt etwa Neil. Was schon ein bisschen clever ist, denn wer bis hierhin im Chat geblieben ist, dürfte die ausgestreckte Hand dankbar ergreifen. Und man kann wohl davon ausgehen, dass jeder Euro, der auf dem von Emma und Neil empfohlenen Konto landet, für immer verloren ist. 

Nach einigen Tagen beginnt Emma eine Trading-Plattform namens Bittobank zu empfehlen. Die scheint zwar nicht komplett fake zu sein, genießt im Internet aber keine sonderlich gute Reputation. Kurz überlege ich: Ist diese ganze Investment-Chat-Community-Nummer am Ende doch real und am Ende nur ein sehr aufwendiger Lead-Generator für eine reale Kryptobörse? Die Welt ist schlecht, darum vermutlich nicht.

Die Screenshots in unserer Chatgruppe ähneln in der Tat dem Auftritt der Bittobank. Dazu passt, was ein deutscher Rechtsanwalt über Bittobank schreibt. Ihm zufolge würden den Kund*innen große Trading-Gewinne simuliert, während man sie zur Erhöhung ihrer Einlagen dränge. Wer sich das Geld auszahlen lassen will, werde dagegen hingehalten und mit massiven Gebühren konfrontiert.  

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Einer der Screenshots, mit denen die "Freunde" ihre erfolgreichen Trades mit der Gruppe teilen.

Mit Beginn des Handels nimmt die Aktivität im Chat sichtlich zu. Die Bot scheinen tatsächlich Dialoge zu führen. Es werden Fragen gestellt und beantwortet. Zugleich achten die Scammer auf eine gewisse Bandbreite zwischen vielen euphorischen und ein paar zweifelnden Stimmen. Auch wenn ihnen dabei Flüchtigkeitsfehler unterlaufen. So lassen sie ausgerechnet den längst zum Neil-Fanboy konvertierten Yuhgh in seine ursprüngliche Skepsis zurückfallen: "Ich werde dieses Team und die kombinierten Fähigkeiten von Neil weiterhin überwachen und keine Investitionen tätigen, bis ich völlig überzeugt bin."

Aber – sieht man von den Grammatikfehlern und sprachlichen Kuriositäten einmal ab – insgesamt wirkt der Chat inzwischen wie eine lebendige Community. Und deren vermeintliche Authentizität wird dadurch unterstrichen, dass sich auf den geposteten Kryptobörsen-Screenshots deutscher Text und das jeweils aktuelle Datum finden. Zugegeben, dass ich nicht verfolgt habe, ob sich die im Chat genannten Kursverläufe mit der Realität decken. Ich gehe aber – siehe oben – davon aus, dass dies nicht der Fall ist.

Spannender finde ich ohnehin, wie die Betrüger*innen Storytelling-Elemente einsetzen, um die Glaubwürdigkeit der Bot-Armee im Chat zu unterstreichen. An einer Stelle etwa verweist Neil auf die hohe Volatilität der Kurse und verzichtet darum auf einen Trading-Tipp. Stattdessen gibt es eine Art Lagerfeuermoment, in dem er ausführlich die Funktionsweise und Besonderheiten von Kryptowährungen erklärt. Und zwischendurch flechten andere Bots Anekdoten ein, wie Anna Weir, die davon berichtet, wie sie Tage auf eine Überweisung von Geld an den Ex-Mann warten musste, während die mit Kryptowährungen in wenigen Minuten möglich sei.

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Neben Screenshots ihrer Krypto-Konten teilen die Freunde auch private Fotos – hier die Münchner Schneiderin Vanessa.

So gehen die Tage in meiner Krypro-Investmentgruppe ins Land. Mittlerweile hat auch Erna es geschafft, ihr Konto anzulegen und freut sich, mit einem Trade annähernd so viel Gewinn gemacht zu haben, wie sie mit ihrem Job in einem Monat verdient. Die Gruppe wird vertraulicher. "Okay, Lehrer Neil😘", bedankt sich Erna für mein Gefühl etwas zu kinky für eine Whatsapp-Gruppe. Überhaupt Komplimente: Dirk Carey bekommt eins, nachdem er ein Foto aus einem Fitnessstudio gepostet hat: "Wow, kein Wunder, dass du so eine gute Figur hast! Normalerweise mache ich Aerobic", lobt Hanna – Profilfoto: Dessous-Selfie vor dem Kleiderschrank. Dirk pariert schlagfertig mit der einladenden Info, das Foto habe er im Gym in seiner Straße gemacht.

Keine Frage, sollte es mal ein IRL-Treffen dieser Chatgruppe geben, ginge da sicher einiges. Außer zwischen der Schneiderin Vanessa und Maca, einem ergrauten Schnauzbartträger. Denn die Münchnerin reagiert auf dessen überaus plumpen Flirtversuch – "schönes Mädchen" auf die einzig richtige Weise: "Ich interessiere mich nicht für ältere Gangster🖕" Bäm. Ich liebe die Vorstellung, dass der Writers Room hinter diesem Whatsapp-Scam diese Stelle nur eingebaut hat, um dem Betrüger-Chef mit einem kleinen Cameo-Auftritt zu huldigen.

5. Akt – "Geld für schöne Frauen"

Nach ein paar Tagen stellt sich ein gewisser Ennui ein. Abend für Abend dasselbe Muster. Neil gibt sein Handelssignal, die Freunde bejubeln ihren Profit, diskutieren Kniffe bei Hebel-Geschäften. Die unglaubliche Redundanz, mit der die Vorteilhaftigkeit von Krypto-Investments im Allgemeinen und die des Hebels im Besonderen beschworen wird, nervt. Ein paar Tage lese ich mit, dann stelle ich die Gruppe stumm.

Zum Glück schaue ich ab und an trotzdem nach, was in der Gruppe geht. Und so bekomme ich mit, wie Peter einen Deal verpasst, weil er gerade im Garten Blumen gepflanzt hat. Oder wie Yughg – offensichtlich zurück im Team Neil – noch in der Küche stand, um sein Abendessen zu kochen, während die anderen reich wurden. "Ich mag deine Kochkünste🥲🥲🥲", tröstet Laura Yughg. Worauf der sie etwas übergriffig einlädt: "Komm nach München, ich mache Frühstück, Mittag- und Abendessen für dich😘😘😘". Wieso eigentlich immer München?

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Nach dem erfolgreichen Trade geht Sebastian direkt feiern.

Und die Freunde teilen inzwischen auch, was sie mit ihrem durch Neils Tipps erworbenen Reichtum anstellen. Benjamin hat seiner Frau eine Dior-Handtasche gekauft. Vanessa verbringt ein Wochenende in Paris. Bernd träumt von einem Mercedes. Ein Freund mit dem weirden Nickname "Ich will es dir nicht" kauft sich einen BMW. Sebastian postet ein Bild seines erhobenen Drinks aus dem Club: "Ein Hoch auf unseren Sieg. Wenn ich Geld verdiene, muss ich es für schöne Frauen ausgeben.🫠" Dirk wäre gerne dabei: "Ich habe dir eine private Nachricht geschickt, Bruder, bitte sag mir den genauen Ort. Ich möchte auch Geld für schöne Frauen ausgeben".

Während der mittlerweile vier Wochen, die ich den Chat verfolge, begegnen mir immer wieder solche Momente der Mackerhaftigkeit. Doch es gibt noch eine kleine Storyline, die ich fast überscrollt hätte. Tatsächlich tritt Emma für einen Moment aus Neils Schatten und teilt eigene Tipps im Chat. Sie bekommt jede Menge Zuspruch, vor allem von den Freundinnen. Krypto-Bros erwarte ich in einem solchen Chat. Aber Female Empowerment? Die dramaturgischen Ambitionen der Scammer-Truppe nötigt mir doch einen gewissen Respekt ab.

Irgendwann taucht dann ein neues Thema auf: Neils "Wealth Plan" – ein noch exklusiverer Zirkel, der höhere Gewinne verspricht, in den man sich aber einkaufen muss. Es gibt verschiedene Stufen, die entsprechend teurer sind. Teilnehmende berichten von satt dreistelligen Gewinnen. Das verfängt, manche aus der Gruppe nehmen Kredite auf, um aufgenommen zu werden – und kurz muss ich mich selbst erinnern, dass ich hier keinen echten Menschen zuschaue, die sich gerade um ihr komplettes Vermögen bringen, sondern Bots, deren Hinterleute es auf meine Kohle abgesehen haben. 

Trotzdem packt mich ein wenig Wehmut, als sich die Zeichen verdichten, dass meine Zeit in der Chatgruppe "📈 Carlyle Group 📈 A152" zu Ende geht. Denn stellvertretend für alle, die sich nicht in Neils Wealth Plan einkaufen können oder wollen stellt Lukas die entscheidende Frage: "Wann endet die kostenlose Handelsstrategie?"

Und ich weiß nicht, ob Vanessas Abfuhr Maca zum Misanthropen gemacht hat oder hier doch der Ober-Scammer spricht, der einen letzten Versuch unternimmt, mich mit einer Art Haiku in die Fomo-Falle zu locken:  

Ende innerhalb dieser Woche /

vielleicht nach heute /

vielleicht nach morgen /

vielleicht vor nächstem Montag

Und ein Wochenende später fiel dann tatsächlich der Vorhang. "+49 1521 9530513 hat dich entfernt."

Epilog

Natürlich habe ich einige Zeit in die Recherche gesteckt, um mehr über die Hintergründe dieser Betrugsmasche zu kommen. Und schon ziemlich früh fand ich über eine Bildersuche nach Neils Profilfoto auf den Substock-Account Max Read. Dort gibt es einen Artikel, in dem einer der beiden Autoren des Blogs beschreibt, wie er ebenfalls in einem Gruppenchat mit Analyst Neil gelandet ist. Allerdings auf Telegram. Und Herr Neil war damals bei Bain Capital tätig. Ansonsten aber sind die Inhalte identisch, soweit sich das aus den gezeigten Screenshots ableiten lässt. 

Das heißt also: Meine Chatgruppe ist eine direkte Übersetzung des englischsprachigen Originals – was auch die teilweise ungelenke Ausdrucksweise der Mittchattenden erklärt. Bei Max Read haben die Autoren ihrem Text eine wunderbar treffende Überschrift verpasst: "My life in the Telegram Bitcoin scam group chat of ghosts".

WhatsappFraudKryptowährungen
Christian Cohrs
Autor*In
Christian Cohrs

Editor & Content Strategist bei OMR und Host des FUTURE MOVES-Podcasts. Zuvor war er Redaktionsleiter des Wirtschaftsmagazins Business Punk in Berlin, Co-Autor des Sachbuchs "Generation Selfie".

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