„Die waren uns zu dumm“: Wie Amazon Seller die Verhandlungen mit FBA-Aufkäufern erleben
OMR hat mit mehreren Amazon Sellern gesprochen, die ihr Business an Thrasio & Co. verkaufen woll(t)en oder es bereits getan haben
- „Ich muss nicht verkaufen“
- 3.300 Objekte der Begierde
- Aufkäufer scouten längst in den unteren Ligen
- Gespür für Nischen, Talent für SEO
- Angst vor dem „Gutsherrn Amazon“
- Den Dümmsten – oder den Professionellsten?
- Hart, aber fair und partnerschaftlich
- Erste Firma auf dem Dachboden
- Zehn Prozent Gewinn im ersten Jahr
- Verkauf als eine Art Growth-Hack
- Die Verlockung des schnellen Geldes
- Unternehmensziel finanzielle Freiheit
Die Villa? Eine Yacht? Oder doch lieber ein Leben auf dem Golfplatz? Mit diesen Optionen lockt die Berlin Brands Group auf ihrer Website verkaufswillige Marktplatz-Seller. 250 Millionen Euro hat das E-Commerce-Unternehmen für Übernahmen von DTC-Businesses bereitgestellt. Daneben ist Thrasio – Urahn der Seller-Aufkäufer aus den USA – gerade mit 200 Millionen Euro in Deutschland auf Shopping-Tour. Weil zudem noch diverse Thrasio-Klone in Deutschland aufgeploppt sind, flutet aktuell eine satt neun- vielleicht bald zehnstellige Summe den hiesigen Markt. Kein Wunder, dass unter den Händlern gerade eine Art Goldgräberstimmung herrscht. Doch wie sieht es hinter dem Hype aus? OMR bei mehreren Sellern nachgefragt.
„Wenn ich wüsste, es würde die nächsten 20 Jahre so weiterlaufen, ich würde nicht einmal darüber nachdenken zu verkaufen“, sagt André Kruse. Doch der FBA-Seller weiß, dass ihm das niemand garantieren kann. Man muss sich nur einmal ein bisschen in den Foren umsehen, in denen sich FBA-Seller austauschen. Dort wird geklagt über Verkäuferkonten, die ohne ersichtlichen Grund gesperrt wurden, über unlautere Wettbewerber, aggressive B2C-Billigstkonkurrenz aus China, über Marktplatzbetreiber, die jederzeit die Regeln ändern können, wenn es ihnen gefällt – oder die eigenen Bestseller kopieren und vom Partner zum Konkurrenten werden, ohne dass man als kleiner Seller daran irgendetwas ändern könnte.
„Ich muss nicht verkaufen“
Auch aus diesem Grund hatte Kruse vor einiger Zeit angefangen, nach Käufern für seine DTC-Marke Arganöl Zauber zu suchen. Nicht mit Druck, aber doch echtem Interesse, sein Business abzustoßen. Das ist im Lauf der Jahre vom Affiliate-Shop zu einer FBA-Brand mit Produkten wie Nagelöl, Peeling und Augencreme nach eigenen Rezepturen geworden. Arganöl Zauber beschert Kruse bei ordentlicher Marge zwischen 250.000 und 300.000 Euro Umsatz im Jahr.
Zunächst hatte er es bei Firmenbörsen versucht. Dabei seien allerdings kaum brauchbare Anfragen herumgekommen. Und wenn, dann weit unter seiner Preisvorstellung. Dabei lebt Kruse den Traum ungezählter FBA-Glücksritter. Sein Business laufe komplett automatisiert, sagt Kruse, er zwei Stunden investiere im Monat in die Firma, verdiene dabei mehr als andere in ihrem Vollzeitjob. Der perfekte Side Hustle also. „Ich muss nicht verkaufen“, sagt Kruse. Aber er würde, wenn das Geld stimmt, und sich auf sein Hauptgeschäft, eine Ferienhausagentur, konzentrieren.
3.300 Objekte der Begierde
Die Chance, dass FBA-Händler ihr Geschäft verkaufen können, sind in den vergangenen Monaten geradezu exponentiell gestiegen. Vor rund einem Jahr nahm eine ganze Reihe von Thrasio-Klonen die Arbeit auf: Razor Group, Seller X, Orange Brands, Brands United, Merx, Amazing Brands, Marketplace Power Brands und ein paar weitere, von denen einige bereits wieder eingegangen zu sein scheinen. Daneben Thirtii, das mittlerweile durch einen Aqui-hire zum Deutschlandstandbein von Thrasio geworden ist. Zuletzt ist auch die Berlin Brands Group in das Wettrennen eingestiegen.
Im Fokus aller Aufkäufer stehen Händler und DTC-Brands, die über Marktplätze, insbesondere Amazon, eine Million Euro Umsatz oder mehr machen. Nach einer Analyse der Hamburger Amazon-Agentur Remazing gibt es allein in Deutschland 3.300 FBA-Händler, 4.200 weitere in anderen europäischen Ländern. Da die Aufkäufer sich vor allem auf sogenannte „Category Leaders“ stürzen würden, rechnet man bei Remazing trotz dieser Zahlen mit extremer Konkurrenz um wenige Stars, während es viel sinnvoller wäre, sich auf kleinere Händler zu fokussieren. Die machten zwar weniger Umsatz, seien vielleicht nicht einmal profitabel, böten dafür aber deutlich mehr Wachstumspotenzial. Allerdings, und hier scheint eine Schwachstelle vieler der eilig aus dem Boden gestampften FBA-Aufkäufer zu stecken, würde es „tiefes Verständnis des Marktes“ erfordern, „um diese Rohdiamanten zu entdecken“, so die Experten von Remazing.
Aufkäufer scouten längst in den unteren Ligen
Tatsächlich gilt das Interesse der Aufkäufer längst auch weniger großen Händlern. Er habe schon vor einer ganzen Weile Post von Brands United bekommen, sagt André Kruse. Als Kaufpreis sei ihm ein Multiple von 2,3 bis 2,6 des „angepassten Gewinns“ in Aussicht gestellt. „Wie sich der angepasste Gewinn zusammensetzt, dazu hüllten sie sich in Schweigen“, sagt Kruse. Ein möglicher Deal scheiterte dann daran, dass er seine Marke damals noch nicht hatte schützen lassen.
Kruse hat auch selbst den Kontakt zu den Aufkäufern gesucht. Jemand von Orange Brands habe sich schnell gemeldet, Allerdings sei denen seine Firma zu klein gewesen. Auf seine Anfrage über das Kontaktformular der Razor Group sei dagegen gar keine Reaktion gekommen. Das Unternehmen habe sich dann aber ein paar Monate später selbst bei ihm gemeldet – allerdings mit einem standardisierten Mailing. „Wenn ich Firmen kaufen möchte, schreibe ich nur die an, die ich auch kaufen möchte, und nicht pauschal alle, um nachträglich ’nein‘ zu sagen.“ Die Branche der FBA-Aufkäufer verströme für ihn „extremen Startup-Charakter“, sagt Kruse, „aber nicht im professionellen Sinne.“ Er kenne bislang niemanden, der sein Business erfolgreich auf diesem Weg verkauft habe.
Marc Staller, Gründer der Seller-Coach und Gründer der Community „AMZ Hackers“, kennt einige, deren FBA-Business bereits von einen Aufkäufer übernommen wurde ist, bestätigt im Kern aber Kruses Eindruck. Staller weiß, dass jeder Händler mit halbwegs guten Umsätze auf Amazon über Brief, Mail oder Telefon eine Anfrage von einem oder mehreren der Thrasio-Klone bekommen hat. „Oft mit verlockenden Multiples als Köder“, sagt Staller. Wobei in Gesprächen dann oft schnell klar würde, „dass hier erstmal ein großes Netz ausgeworfen wurde“. Die Aufkäufer würden sich eher die Rosinen aus dem Kuchen picken. Deals kämen bislang vor allem bei Händlern mit höheren sechsstelligen Monatsumsätzen zustande.
Gespür für Nischen, Talent für SEO
Zu denen, die ihr Business erfolgreich verkaufen konnten, gehören Philipp Ralfs und sein Partner Christopher Piehler. Die beiden waren vor dreieinhalb Jahren in das FBA-Business eingestiegen. Sie kauften White-Label-Ware billig in China ein, packten ihre stylische Brand drauf und pushten ihre Marke Anchorgoods durch SEO. „Wir haben immer versucht, Nischen zu finden, in denen nicht so große Konkurrenz herrscht“, sagt Ralfs. Ganz klassischer FBA-Ansatz also.
Vor rund zwei Jahren landeten die Hamburger dann einen Treffer. Eine Wandhalterung für Fahrräder. Zielgruppe: urbane Hipster, die sich damit ihr Fixie in den Flur ihrer Altbauwohnung hängen und Fotos davon bei Instagram posten. Es gelang ihnen, das Produkt zur europaweit meistverkauften Bike-Wandhalterung auf Amazon zu machen.
Angst vor dem „Gutsherrn Amazon“
Im vergangenen Jahr peilten die beiden Seller 750.000 Euro Umsatz an. Für 80 Prozent davon sei die Fahrradhalterung verantwortlich gewesen, so Ralfs. Und mit der Abhängigkeit von einem Produkt, das über eine Plattform verkauft wird, teilten sie das Problem vieler FBA-Händler. Die „Abhängigkeit von der Gutsherrenart“, nennt es Ralfs selbst.
Ihnen sei außerdem klar gewesen, was vor zwei Jahren geklappt hatte, muss nicht unbedingt noch einmal funktionieren. „Dass man sich allein mit geschickter SEO abheben kann wie es bis vor ein paar Jahren noch möglich war, das geht bei der derzeitigen Konkurrenz vielleicht nicht mehr“, sagt Ralfs. Hinzu kam: „Wir hatten nie vor, das bis an unser Lebensende zu machen.“ Für sie sei immer klar gewesen, „wir ziehen das hoch und gucken dann mal“.
Den Dümmsten – oder den Professionellsten?
Darum kam ihnen die Anfragen der Seller-Aufkäufer ganz gelegen. Die erste trudelte im Mai 2020 ein, einige weitere im Laufe des Jahres. Nicht jede habe einen überzeugenden Eindruck gemacht. Am Ende hatten sie fünf Angebote, die seriös erscheinen, und schließlich fünf Übernahme-Offerten. „Wir mussten uns am Ende entscheiden: Nehmen wir den Dümmsten oder den Professionellsten“, sagt Ralfs.
Sie hätten sich dann gegen den Meistbietenden – wobei das höchste und das niedrigste Gebot ohnehin nur fünf Prozent auseinander gelegen hätten – und für einen Asset-Deal mit der Berliner Razor Group, die den Verkaufsprozess in ihren Augen am professionellsten anging. Wobei das Prozedere bei allen Aufkäufern ähnlich war: Ralfs gaben den Interessenten ihre Zugangsdaten zur Amazon Seller Central, beantworteten umfangreiche, über 100 Punkte umfassende Fragenkataloge, legten Lieferanten und Werbepartner offen, bekamen eine Woche später Rückfragen.
Hart, aber fair und partnerschaftlich
Die Razor-Leute hätten hart gebohrt, seien dabei aber immer fair gewesen, so Ralfs. Es habe ein partnerschaftliches Verhältnis geherrscht. Ihnen sei auch mehr Mitsprache nach dem Verkauf angeboten worden, doch die beiden wollten einen möglichst kompletten Exit. Nun haben sie alle Unternehmenswerte an die Razor Group übertragen und müssen noch ihre leere FBA-Firmenhülle abwickeln. Dem Aufkäufer stehen sie zudem in beratender Funktion zur Verfügung. Ein monatlicher Call und ein bis zwei Stunden Arbeit die Woche, so die aktuelle Vereinbarung.
Natürlich hatten Ralfs und Piehler sich im Vorfeld in der Szene umgehört. Da sie aber früh in den Fokus der Aufkäufer geraten waren, konnten sie nicht auf der Erfahrungen anderer aufbauen. „Ich war so froh, dass mein Partner Jurist ist“, sagt Ralfs. Er rät allen Sellern, die mit einem Verkauf liebäugeln, sich sich professionelle Unterstützung zu holen.
Erste Firma auf dem Dachboden
Sich externe Hilfe zu holen, das ist auch der zentrale Rat des Händlers, der gerade mit der Berlin Brands Group in Verhandlungen steht (und deshalb für diesen Artikel nur anonymisiert zitiert werden kann). Er ist gewissermaßen Routinier, was Exits angeht. Seine erste Firma gründete der heute 33-Jährige als Student. Vom WG-Dachboden verkaufte er über Amazon und Ebay Mode, die er preiswert von den Kanalinseln importierte. Später kamen Sportartikel hinzu, schließlich die eigene Sportmarke.
Die Brand wuchs in nur dreieinhalb Jahren auf neun Millionen Euro Umsatz. Dann verkaufte er sein Unternehmen an einen Vorläufer der heutigen Aufkäufer, der erfolgreiche DTC-Marken bündeln und über Synergien und Marketing größer machen wollte. Der Seller und sein Kompagnon wechselten mit zum Käufer – und verließen die Firma bald wieder aufgrund unterschiedlicher Vorstellungen und nicht eingehaltener Zusagen, so erzählt es der Gründer.
Zehn Prozent Gewinn im ersten Jahr
Sie hätten zusammen dann direkt die nächste Firma gegründet. Die habe zunächst aber nur aus einem Namen bestanden. Sie hatten Erfahrung mit E-Commerce über Marktplätze und mit dem Sourcing in China. Es fehlte nur noch ein passendes Produkt, um das DTC-Game noch einmal durchzuspielen. Das fanden sie letztlich im Mix der Themen Nachhaltigkeit und „Home and Living“. Im Sommer 2019 verkauften sie ihren ersten Artikel. Das erste volle Geschäftsjahr 2020 sei mit 3,1 Millionen Umsatz und 300.000 Euro Gewinn abgeschlossen worden, sagt der Gründer.
Dass sie dieses aufstrebende Unternehmen nun verkaufen wollen, habe vor allem private Gründe. „Das Businessmodell, das wir fahren, ist nicht machbar mit Familie.“ Also hätten sie sich einmal angehört, was Thrasio und dessen Klone ihnen anbieten können. „Die waren uns aber alle zu dumm“, sagt der Gründer. So habe man ihnen etwa in Aussicht gestellt, eine IT-Infrastruktur mit einem Remote-Programmierer in wenigen Monaten aufzubauen. „Das ist etwas, wofür andere nachweislich Jahre gebraucht haben.“
Verkauf als eine Art Growth-Hack
Ausschlaggebend dafür, dass die Verhandlungen mit BBG konkret geworden sind, sei am Ende gewesen, dass die Berliner die glaubwürdigste Wachstumsperspektive für ihre Marke bieten könnten. Aktuell verkaufe man über Amazon und Ebay, eine nachhaltige Nischenplattform sowie den eigenen schnell zusammengebastelten, aber „extrem profitablen“ Shopify-Store. Der Gründer geht davon aus, auf den bereits bedienten Märkten mit seiner Marke nicht weiter wachsen zu können.
Die Erschließung weiterer Märkte wiederum sei mit hohen Kosten verbunden. Der Verkauf an BBG stellt für ihn eine Art Abkürzung dar: „Die bedienen wesentlich mehr Marktplätze als wir“, sagt der Seller. „Wenn wir unsere Produkte in die BBG-Maschine geben, werden sich unsere Umsätze verbreitern.“ Dieser Faktor ist für ihn so wichtig, weil der Verkauf mit einem Earn-out einhergehen soll, ein Teil des Verkaufspreises also erst später und erfolgsabhängig ausgezahlt werden wird.
Die Verlockung des schnellen Geldes
Der Verkauf lohnt sich also vor allem dann, wenn die Marke weiter wachsen kann und besser als es aus der Kraft der Gründer alleine möglich gewesen wäre. Und dass eben nicht geschieht, was der Seller bereits einmal erlebt hat: dass dem Aufkäufer auf dem Weg die Luft ausgeht und man zusehen muss, wenn der selbst aufgebaute Umsatz sich halbiert. Und damit der Earn-out-Deal sich nicht wie erwartet auszahlt.
Sein Rat an alle, die vor dem Verkauf stehen, lautet darum: „Ich würde mich nicht vom schnellen Geld verlocken lassen. Ein Earn-out ist immer kacke, wenn der andere nicht die Kompetenz hat, deine Firma auch fortführen.“ warum setze er auf ein Unternehmen wie BBG, bei dem er keine Sorge hat, dass es – wie bei den ersten deutschen Thrasio-Klonen bereits geschehen – in den kommenden ein oder zwei Jahren verschwindet.
Das Unternehmen dieses Sellers ist allerdings nicht der typische Fall einer FBA-Übernahme. Die Marke bedient bereits mehrere Marktplätze und hat einen gut funktionierenden eigenen Shop, der allein im Januar ohne Werbung 50.000 Euro Umsatz gemacht habe. Nur fünf bis zehn Prozent des Umsatzes würden über FBA generiert, sagt der Gründer. Das sei durchaus eine bewusste Entscheidung. Bei einer seiner vorigen Firmen hatte Amazon ihm für eine FBA-Bestellung über 100 Badekappen auch 100 Mal die Versandkosten von 1,80 Euro in Rechnung gestellt. Seitdem hegt er gewisse Vorbehalte gegenüber diesem Modell.
Unternehmensziel finanzielle Freiheit
Arganöl-Seller André Kruse kennt die Herausforderung, sich aus der Abhängigkeit von Amazon zu befreien. Er betreibt ebenfalls einen eigenen Webshop und baut gerade ein B2B-Geschäft mit einem Großabnehmer in Indien auf. Und klar spielt er immer wieder mit dem Gedanken, seine Marke größer zu machen, hat neue Produkte in der Pipeline. Doch all-in gehen wird er nicht. „Von vielen ist es nicht der Traum, Amazon-Verkäufer zu sein“, sagt Kruse. Bei einem Side Hustle wie Arganöl Zauber gehe es um finanzielle Freiheit.
Dort sieht er sich noch nicht, dafür brauche es schon ein paar Millionen auf dem Konto. Dass die von einem der FBA-Aufkäufer irgendwann auf sein Konto überwiesen werden glaubt er nicht. Das Indiengeschäft, von dem er selbst nicht sagen kann, wie groß es noch wird, würde ihm Stand heute niemand bezahlen. Und überhaupt, sagt Kruse, „auf den Stundenlohn umgerechnet wäre Arganöl Zauber eh viel zu teuer für den Käufer“.