Vom Startup zum Recommerce-Riesen: Momox macht dreistellige Millionenumsätze mit Second-Hand-Ware
Bei keinem anderen Händler auf Amazon gibt es so viele Käufe wie bei Momox aus Berlin. Doch der Großteil des Umsatzes kommt inzwischen sogar über den eigenen Online-Shop.
- 377 Millionen Jahresumsatz im Jahr 2024
- Großteil der Bestellungen im eigenen Shop
- Seller mit den meisten Amazon-Transaktionen
- 20 Artikel verkaufen in 30 Minuten
- Ziel: Keinen einzigen Artikel ins Recycling geben
- Billiganbieter überschwemmen Fashion-Bereich
Wenn es nach der Anzahl der Verkäufe geht, kommt der größte Amazon-Seller weltweit aus Deutschland. Die Ware: gebrauchte Bücher, CDs, Videospiele und Kleidung. Und auch mit dem eigenen Online-Shop dominiert Momox in der Nische des Second-Hand-Handels den Markt. Wie ist aus einem Ein-Mann-Startup mit 1500 Euro Startkapital ein internationaler Player mit mehr als 370 Millionen Euro Jahresumsatz geworden?
Für Stuckrad-Barres “Panikherz” gibt's noch zwei Euro und zwei Cent, für "Spinner" von Benedict Wells 1,77 Euro. Das zeigt die App an, sofort nachdem der Barcode gescannt wurde. Und der Thriller von Charlotte Link? Wird zurzeit nicht angekauft. Wer bei Momox seine ausrangierten Bücher oder Kleidungsstücke verkaufen möchte, bekommt Ankaufspreise in Echtzeit angezeigt. Und etwas Nervenkitzel gibt's gratis dazu: Denn alle 30 Minuten bewertet der Algorithmus mithilfe künstlicher Intelligenz die Preise neu. Es ist eine Frage von Angebot und Nachfrage, wie an der Börse, nur eben für Bücher. Stuckrad-Barre und Wells könnten dann mehr wert sein, aber auch weniger. Also – verkaufen oder halten?
Rund 10.000 Menschen entscheiden sich täglich für den Verkauf. So viele Boxen mit durchschnittlich 20 gebrauchten Büchern, Medien oder Kleidungsstücken kommen jeden Tag in Leipzig an. Dort befindet sich das Logistikzentrum des Recommerce-Unternehmens. Mehr als 14 Millionen Produkte sind auf 150.000 Quadratmetern eingelagert, das ist umgerechnet etwa die Fläche von 21 Fußballfeldern. Sobald neue Boxen eintreffen, werden Qualität und Vollständigkeit der angekauften Artikel überprüft, um sie dann wieder in den Verkauf zu geben. Angeboten werden sie schließlich über die eigenen Plattformen Medimops und Momox Fashion, aber auch über Amazon, Ebay, über das Second-Love-Angebot bei About You und Co. Manches ist ganz schnell wieder weg, anderes findet erst Wochen, Monate, Jahre später ein neues Zuhause. Nachhaltige Kreislaufwirtschaft – für Momox ist das ein Millionengeschäft.
377 Millionen Jahresumsatz im Jahr 2024
Heiner Kroke, CEO von Momox.
Übervolle Bücherschränke, CD-Regale, die aus allen Nähten platzen, vollgestopfte Kleiderschränke – sie sind, wenn man so will, der künftige Warenbestand für Momox. “Viele würden sich gerne was Neues kaufen, aber das passt gar nicht mehr in die Schränke rein. Man muss also erst mal wieder Platz schaffen, aber man möchte es auch nicht einfach wegwerfen. Und genau der Kunden-USP treibt uns an”, sagt Heiner Kroke, der seit 2013 die Geschäfte bei Momox führt.
Kroke kommt damals vom Internetauktionshaus Ricardo, zuvor war er schon bei Ebay.de in leitenden Funktionen tätig. Als er als CEO bei Momox übernimmt, sei es ein “spannendes, kleines Startup” gewesen, sagt er im Gespräch mit OMR. Wobei, ergänzt er, klein natürlich relativ sei. “Wir hatten zu dem Zeitpunkt ungefähr 50 Millionen Umsatz und 400 Mitarbeiter. Unser Gründer hatte das alles gebootstrappt und von 0 auf diese Größe entwickelt.” Die Rede ist von Unternehmer Christian Wegner, der 2004 aus der Arbeitslosigkeit heraus seine Geschäftsidee, Bücher und CDs online zu verkaufen, mit 1500 Euro Starkapital umsetzt. Wegner gehört damit zu den Pionieren der Recommerce-Branche, also dem Online-Handel mit gebrauchten Waren. Mit den Jahren wird aus der anfänglichen Ich-AG ein immer größeres Unternehmen. “Und dann hat er irgendwann festgestellt: Das wächst ihm über den Kopf und es war auch nicht mehr das, was er eigentlich machen wollte", erklärt Kroke. "Und deshalb wurde ein neuer CEO gesucht.”
Inzwischen ist das Unternehmen in anderen Dimensionen unterwegs: 2100 Mitarbeitende an drei Standorten, internationales Geschäft unter anderem in Frankreich, Spanien, USA oder Kanada, kontinuierliches Wachstum: 2023 lag der Jahresumsatz mit insgesamt 347 Millionen auf Rekordniveau. 2024 konnte das Unternehmen den Umsatz erneut steigern, um 8,6 Prozent auf 377 Millionen Euro. Als Wachstumshebel nennt Heiner Kroke drei Faktoren: In der jüngeren Vergangenheit habe es einen Corona-Push gegeben, als plötzlich alle zu Hause ausmisten und Platz schaffen wollten. Der zweite, langfristige Hebel sei die wachsende Bedeutung von Nachhaltigkeit. Besonders bei jüngeren Generationen werde nachhaltiger Konsum immer wichtiger, zunehmend aber auch bei den Älteren: “Früher war es ein bisschen verpönt, Second-Hand-Kleidung zu tragen oder Second-Hand Bücher zu lesen”, sagt Kroke. “Heute ist das nicht mehr so, ich würde sagen, es ist eher fashionable, wenn man nachhaltig konsumiert und vor allem ist es natürlich so, dass der Preis viel niedriger ist.” Auch vom grundsätzlichen Wachstum im E-Commerce profitiere Momox.
Die Markenbekanntheit ist hingegen das größte Manko, wenn es ums Wachstum geht: Denn obwohl Momox Marktführer ist und deutlich größer als direkte Mitbewerber wie Rebuy, Buddy&Selly oder World of Books aus Großbritannien, kennt längst nicht jeder das Geschäftsmodell. Und das trotz Marketing auf fast allen Kanälen. Daran will man bei Momox weiter arbeiten.
Großteil der Bestellungen im eigenen Shop
Dass die bisherigen Bemühungen dennoch Früchte tragen, zeigt sich an der Menge der Käufe, die inzwischen direkt über die eigenen Online-Shops Medimops.de und momoxfashion.com getätigt werden. Während Momox als reiner Amazon-Seller gestartet ist, finden bei Medimops (Bücher und Medien) inzwischen 60 Prozent der Verkäufe im eigenen Shop statt, erst danach folgt Amazon als zweitwichtigster Point of Sale mit 30 Prozent, dann Ebay und andere Marktplätze. Bei Kleidung sind es sogar 90 Prozent der Verkäufe, die über Momox Fashion stattfinden.
Weil Amazon von seinen Händlern hohe Gebühren verlangt, soll der Anteil der eigenen Shops kontinuierlich erhöht werden. Trotzdem sind die Plattformen für das Geschäft weiterhin relevant. “Amazon und die anderen Marktplätze ermöglichen es uns, Kunden zu erreichen, die wir sonst nicht erreichen würden, weil sie Medimops oder Momox Fashion noch nicht kennen oder die standardmäßig immer auf Amazon oder Ebay gehen, um online einzukaufen”, sagt Kroke. Die Gebühren werden dann allerdings an die Kund*innen weitergegeben, wohl auch, um einen Preisanreiz zu schaffen, beim nächsten Mal direkt über Medimops zu shoppen.
Seller mit den meisten Amazon-Transaktionen
Obwohl der Amazon-Anteil also in den Jahren deutlich weniger geworden ist, führt Momox nicht nur in Deutschland das Ranking der größten Amazon-Seller an, wie Zahlen der Amazon-Analyse-Plattform Marketplace Pulse zeigen, sondern zum Beispiel auch in Frankreich, UK, Italien oder Kanada, wo Momox inzwischen auch verkauft. Als Indikator für das Verkaufsvolumen legt Marketplace Pulse die Zahl der Reviews zugrunde. “Was die Anzahl der Verkäufe anbelangt, ist Momox der größte Verkäufer auf Amazon. Und das nicht nur hier in Deutschland oder in Frankreich, sondern weltweit”, sagt Heiner Kroke. “Wir verkaufen einfach wahnsinnig viel Ware, jeden Tag 60.000 Verkäufe, das sind 200.000 Artikel. Und 30 Prozent davon gehen über die Amazon-Plattform.” E-Commerce-Experte und Geschäftsführer von Spryker Systems GmbH, Alexander Graf, findet diese Entwicklung spannend: “Dass ein deutscher Recommerce-Seller in dieser Nische global führend ist, zeigt, dass Amazon selbst nicht in der Lage oder willens war, diesen Markt direkt zu dominieren.”
Bei genauer Betrachtung tendiert Graf zu "nicht willens". Amazon hätte die besten Voraussetzungen gehabt, das Recommerce-Geschäft für Bücher selbst zu betreiben, erklärt er. Aber: "Amazon optimiert auf hochmargige, skalierbare Produkte. Das Geschäft mit gebrauchten Büchern ist aufwändig im Hinblick auf Sortierung, Bewertung, Logistik und bietet weniger Margenspielraum als Neuwaren." Außerdem verdiene die Plattform an jeder Transaktion – ob ein Buch neu oder gebraucht verkauft wird, ist für Amazon also zweitrangig, solange es Gebühren generiert. "Warum also selbst ins mühsame Recommerce-Business einsteigen, wenn andere Händler wie Momox das übernehmen?"
20 Artikel verkaufen in 30 Minuten
Bei Momox dürfte man glücklich darüber sein, dass Amazon ihnen das Feld überlässt und man gleichzeitig von der riesigen Reichweite der Plattform profitieren kann. Dennoch gibt es wachsende Konkurrenz von Marktplätzen, auf denen Privatpersonen ihre Produkte direkt verkaufen können, wie Vinted oder Kleinanzeigen. Und natürlich die klassischen Offline-Optionen, Gebrauchtes loszuwerden wie Flohmärkten oder Kleiderspenden. Mit Momox, so das Versprechen, soll das Ausmisten im Vergleich besonders leichtfallen und deutlich schneller gehen, als beispielsweise selbst auf dem Flohmarkt zu sitzen oder je Kleidungsstück eine Marktplatz-Anzeige zu erstellen. "20 Kleidungsstücke zu verkaufen dauert bei uns ca. eine halbe Stunde und alles ist erledigt. 20 Artikel bei Vinted zu verkaufen, inklusive der Kommunikation mit den Käufern, Pakete zur Post bringen, Geld eintreiben, da ist man definitiv einige Stunden beschäftigt”, rechnet Heiner Kroke vor.
Dafür müssen sich die Verkäufer*innen aber auch mit den Momox-Ankaufpreisen zufriedengeben. Der Ankaufpreis liege bei durchschnittlich zwei Euro pro Buch, der Verkaufspreis bei 10 Euro, erklärt der CEO. Kleidungsstücke werden im Schnitt für 7-9 Euro angekauft und für etwas über 20 Euro weiterverkauft. “Das Geheimnis, warum das für uns funktioniert, liegt in der automatisierten Preisfindung. Wir handeln jeden Tag über 200.000 Artikel. Dadurch haben wir unheimlich viele Datenpunkte, aus denen wir mit KI-Algorithmen den richtigen Ankaufspreis bestimmen.”
Ziel: Keinen einzigen Artikel ins Recycling geben
Bei Vinted und Co. wäre für private Verkäufer*innen vielleicht ein höherer Gewinn für das ein oder andere Kleidungsstück möglich. Doch Momox setzt auf datengetriebene automatisierte Prozesse statt individuelle Verhandlungen oder Bauchgefühl beim Ankauf – nur so ist die schiere Menge der An- und Verkäufe in der Kreislaufwirtschaft zu bewältigen. “Das Ziel muss immer sein, dass wir hinten raus keinen einzigen Artikel ins Recycling geben. Erstens werden wir sonst unserem Nachhaltigkeitsgedanken nicht gerecht und zweitens auch dem wirtschaftlichen Ziel nicht, denn für den Artikel haben wir irgendwann Geld bezahlt, wir haben noch mehr Geld bezahlt, ihn lange zu lagern und am Schluss dann keinen Erlös gemacht.” Aktuell finden sich für 2-3 Prozent der angekauften Artikel keine Käufer*innen. Damit ist Heiner Kroke zufrieden: “Wenn man sich den sonstigen Handel anschaut, ist das ein wirklich unglaublich kleiner Prozentsatz.”
Das liege neben den datengetriebenen Ankäufen auch an den kurzen Beschaffungszeiten. Also daran, nicht ein Jahr im Voraus Ware bestellen zu müssen, die dann extra produziert werde in der Hoffnung, in der kommenden Saison Käufer*innen zu finden. “Wir machen unsere Kaufentscheidung immer abhängig von der gegenwärtigen Situation”, sagt Heiner Kroke. “Wenn unsere Algorithmen heute sagen, es gibt eine Nachfrage für Buch X, dann ist der Preis für das Buch attraktiver, dadurch werden uns mehr Menschen das Buch verkaufen und wir können es dann direkt weiterverkaufen. Wir legen uns nichts in Lager, weil wir darauf hoffen, dass es da in ferner Zukunft irgendwann mal eine Nachfrage geben wird.” Das Kerngeschäft sei daher der "Bestseller von gestern". Denn vom Bestseller von heute gebe es noch nicht genügend gebrauchte Exemplare und für zu alte Schinken nicht genügend Nachfrage.
Billiganbieter überschwemmen Fashion-Bereich
Apropos alter Schinken – 2024 hat Momox bereits seinen 20. Geburtstag gefeiert. Das Startup ist erwachsen geworden. Wenn Heiner Kroke in die Zukunft blickt, sieht er die größten Wachstumschancen darin, neue Märkte zu erschließen und im Ausbau der Kategorie Kleidung. "Der Fashion Markt ist deutlich größer als der Buch- und Medienbereich", sagt er. Aktuell macht dieser Bereich aber nur 16 Prozent des Gesamtumsatzes aus. Liegt dort also das große Potenzial?
E-Commerce-Experte Alexander Graf ist da skeptisch – und das liegt in erster Linie an Billiganbietern aus China. "Nachhaltigkeit und Inflation treiben das Interesse an Secondhand an. Für Bücher und Medien sehe ich weiterhin sehr gute Chancen für Recommerce, weil der Preisvorteil enorm ist und es keine 'Wegwerf-Produkte' sind", sagt er. Im Bereich Fashion hingegen überschwemmen Anbieter wie Temu den Markt zunehmend mit neuen, extrem billigen Produkten. "Das macht es schwerer, Verbraucher für gebrauchte Mode zu begeistern." Wie es trotzdem funktionieren könnte? Premium-Secondhand, also der Handel mit Luxusmarken, wachse stark, rät Graf. "Momox könnte hier noch mehr investieren."
Anmerkung der Redaktion: Kurz nach der Veröffentlichung des Artikels hat Momox seine Umsatzzahlen für 2024 veröffentlicht. Wir haben den Artikel dahingehend aktualisiert und den Jahresumsatz ergänzt.