Tiktoks Langform-Offensive: Ernsthafte Konkurrenz für Youtube – oder sogar Netflix?

Warum Tiktok Creator*innen dazu bringen will, längere Videos hochzuladen

Vorhang auf und Popcorn her – Tiktok-Clips sind jetzt bis zu 30 Minuten lang. User*innen streamen auf der Plattform ganze Filme.
Inhalt
  1. Welche Accounts nutzen den 60-Sekunden-Plus-Boost?
  2. Netflix oder Tiktok vor dem Schlafengehen?
  3. "Podcast-Effekt" durch Companionship-Content
  4. Einmal hin, alles drin – jetzt auch bei Tiktok
  5. Kommen jetzt die Midroll-Ads?

Vorhang auf und Popcorn her: Tiktok-Clips sind jetzt bis zu 30 Minuten lang, User*innen streamen auf der Plattform komplette Filme und Tiktok selbst pusht seine Creator*innen aktiv, Longform-Content zu erstellen – durch bevorzugte Ausspielung und zusätzliche Monetarisierung. Tatsächlich verbringen Nutzer*innen bereits jetzt 50 Prozent ihrer Zeit mit Inhalten, die länger als eine Minute sind – sagt Tiktok. OMR hat mit Social-Media-Expert*innen gesprochen, die überzeugt sind: Tiktok will durch den Richtungswechsel Netflix und Youtube noch mehr Konkurrenz machen. Das könnte auch neue Möglichkeiten für Werbetreibende eröffnen.

Es ist die Geschichte einer Ehe, die mächtig in die Hose gegangen ist: Was für Teresa Johnson, die sich im Internet Reesa Teesa nennt, als große Liebesgeschichte begann, endete in unendlich vielen Lügen, Betrug und schließlich in der Frage: Wen zur Hölle habe ich eigentlich geheiratet? In einer 50-teiligen Tiktok-Serie auf ihrem Kanal reesamteesa erzählt sie ihre dramatische Geschichte – vom ersten Kennenlernen bis zur Scheidung – und Millionen Menschen hören ihr zu. Jeder Teil der "Who TF did I marry?"-Serie ist zwischen sechs und zehn Minuten lang, jeder hat mehrere Millionen Aufrufe – Part 1 kommt auf ganze 40,9 Millionen! Reesa Teesa wird damit innerhalb kürzester Zeit zur viralen Internet-Sensation mit 3,6 Millionen Follower*innen – ohne vorherige nennenswerte Reichweite.

Die US-Amerikanerin ist ein extremes Beispiel für Longform-Content auf Tiktok, aber auch ein extrem erfolgreiches. Lange war die Plattform dafür bekannt, die Aufmerksamkeitsspanne ihrer User*innen auf wenige Sekunden runter zu trainieren. Alle 15 Sekunden der nächste Clip, der nächste Tanz, die nächste Emotion, gepaart mit einem extrem starken Algorithmus, der dafür sorgte, dass User*innen bestens unterhalten und lange an die App gebunden werden. Aktuell geht die Tendenz jedoch in die andere Richtung.

Im Laufe der Zeit hat Tiktok die maximale Clip-Länge für Uploads stetig erhöht – erst auf eine Minute, dann drei, dann – Anfang 2022 – auf zehn Minuten. Das Interesse am Long-Form-Storytelling sei seit der ersten Einführung von längerem Content stetig gewachsen, heißt es von Tiktok. Testweise können aktuell sogar bis zu 30 Minuten lange Videos veröffentlicht werden. Und Tiktok pusht Creator*innen aktiv, von diesen neuen Möglichkeiten auch Gebrauch zu machen. Gerade erst hat die Plattform das "Creator Rewards Program" fest eingeführt, das zuvor in einer Beta-Phase getestet worden war. Dadurch sollen Creator*innen laut Tiktok ermutigt werden, "durch das Teilen längerer Inhalte höhere Einnahmen und neue Möglichkeiten zur Monetarisierung zu erschließen." Für Auszahlungen kommen dabei nur Videos infrage, die länger als eine Minute sind. 

Welche Accounts nutzen den 60-Sekunden-Plus-Boost?

Creator*innen versuchen, von dem Push, den Videos über eine Minute von Tiktok erhalten, zu profitieren: Immer häufiger ist auf der Plattform Content zu finden, der knapp über eine Minute lang ist, zum Beispiel auf dem Kanal von Herr Anwalt. "Das ist für die Creator ein smarter Hebel für mehr Views und von Tiktok eigentlich ein Hack gegen Youtube, denn Shorts erlaubt gerade noch keine Minute", erklärt Adil Sbai, CEO der Agentur Wecreate, die auf der einen Seite Creator (wie Herrn Anwalt) managt und auf der anderen Seite Kampagnen für Kunden auf Tiktok, Instagram und Youtube umsetzt. Das Tiktok "Kurzvideos" von mehr als einer Minute erlaubt, führe zu mehr originärem Content auf der Plattform, so Sbai. Andererseits hätten einige auch einfach ihre Youtube-Longformvideos bei Tiktok hochgeladen, "das performt auch überraschend gut."

Auch in der Corporate-Welt wird Longform diskutiert. "Es ist definitiv ein heißes Thema, weil es ein Umdenken erfordert von den Marken, die auf Tiktok präsent sein wollen", sagt Josephine Ludewig, die mit Joli Consulting Firmen beim Social-Media-Marketing berät. Einige Unternehmens-Accounts sind mit längerem Content schon extrem erfolgreich. Die A+S Dialog Group hat mit seriellem Content einen Volltreffer bei Tiktok gelandet und erreicht mit minutenlangen Videos regelmäßig virale Hits mit mehreren Millionen Aufrufen. (Hier liest Du unseren Artikel, wie die Marketingagentur ausgerechnet mit IT-Satire den Durchbruch geschafft hat).

Netflix oder Tiktok vor dem Schlafengehen?

Was aber steckt hinter Tiktoks neuer Strategie? Die von OMR befragten Social-Media-Expert*innen sind überzeugt: Der Ruf nach Langformaten hat seinen Ursprung bei den User*innen: "Trends entstehen immer aus der Community heraus und Tiktok versteht es sehr gut, die Needs seiner User*innen zu verstehen und darauf zu reagieren", sagt Lina Arnold, Geschäftsführerin der Agentur Joli Berlin. Aber die Plattform weiß offenbar auch, die Entwicklung für ihre eigene Agenda zu nutzen. Dabei gehe es vor allem darum, den Wettbewerbern Youtube und Netflix Watchtime zu klauen, glaubt Adil Sbai: "Am Ende kämpfen alle Plattformen um die Aufmerksamkeit der Menschen. Und für viele ist es eine reale Abwägung, zu überlegen: Verbringe ich vor dem Schlafengehen eine halbe Stunde auf Tiktok oder schaue eine Folge auf Netflix?"

Das Vorgehen beim Longform-Content erinnert an Tiktoks wachsende Beliebtheit als Suchmaschine: "Tiktok hat auch da erkannt: Die User*innen wollen das; die suchen etwas über die Suchmaske. Und erst dann haben sie diesen Fokus Richtung Search geschaffen", sagt Lina Arnold. Das Ergebnis: Große Teile der Gen Z nutzen angeblich inzwischen Tiktok oder Instagram eher für Suchanfragen als Google. Und Longform und Suchmaschinenoptimierung gehen sogar Hand in Hand, vermutet sie: „Früher hat man die App geöffnet und wollte einfach unterhalten werden. Und plötzlich gab es nicht mehr nur dieses Entertainment von der Tiktok-Seite her, sondern Nutzer*innen haben angefangen, proaktiv nach Inhalten oder Informationen zu suchen." Entsprechend seien sie von ihrer Grundeinstellung viel mehr bereit, sich ein längeres Video zu dem entsprechenden Thema anzugucken, als wenn sie nur unterhalten werden möchten.

"Podcast-Effekt" durch Companionship-Content

Durch den Richtungswechsel ändert sich die Art des Contents, der auf der Plattform zu finden ist, aber auch die Art und Weise, wie User*innen ihn konsumieren. Beliebte Longform-Formate sind beispielsweise "Get Ready with me"-Videos: Creator*innen sitzen dabei ähnlich wie bei einem Facetime-Anruf vor der Kamera und erzählen eine Geschichte, während sie sich für den Tag fertigmachen. Tiktok-Star Alix Earle etwa ist damit berühmt geworden, sich zu schminken und nebenbei den neuesten Gossip aus ihrem Leben zu teilen (über ihr Erfolgsgeheimnis haben wir hier berichtet).

"Wir nennen das Companionship-Content", sagt Josephine Ludewig, CEO von Joli Consulting. "Durch das ‚FaceTime-Format‘ leistet man als Zuschauer*in einer anderen Person sehr natürlich Gesellschaft" – ein krasser Kontrast zum üblichen Tiktok-Content mit Hooks, die nach Aufmerksamkeit schreien und schnellen Schnitten. Dadurch sei diese Art von Content auch geeignet, ihn nebenbei zu konsumieren, etwa beim Second Screening oder im Alltag, sagt Ludewig, "zum Beispiel beim Kochen wie einen Podcast. TikTok kann also passiv genutzt werden, man muss nicht ständig weiterswipen"

Und sogar zum Streamen, wie man es bisher eigentlich von Netflix, Prime Video oder Apple TV kennt, wird Tiktok inzwischen genutzt: Teilweise laden manche Accounts ganze Serien oder Filme auf Tiktok hoch, gestückelt in mehreren Teilen. Legal ist das nicht; gerade sind erste Firmen aufgrund von Urheberrechtsverletzungen vor einem Münchner Gericht gegen Tiktok vorgegangen, aber: "Bisher wird das bewusst oder unbewusst toleriert, vielleicht weil man weiß, dass diese Clips auch Aufmerksamkeit für die eigenen Inhalte generieren", sagt Adil Sbai. Und mit Paramount hat ein erster Filmverleih das Streaming-Potenzial von Tiktok erkannt und selbst getestet: Die zum Kult gewordene 2004er Teenie-Komödie Mean Girls war kurzzeitig in 23 Clips aufgeteilt komplett und kostenlos auf Tiktok abrufbar.

Einmal hin, alles drin – jetzt auch bei Tiktok

Gibt es also bald nur noch langen Content auf Tiktok? Vermutlich nicht. Das Geheimnis soll ein Mix aus Shorts und Longform sein: "Bei Youtube z.B. sehen wir schon, dass sich Shorts und Longform nicht beißen, sondern sich sogar gegenseitig befeuern", sagt Sbai, "wenn sie auf einem Kanal stattfinden und thematisch in eine ähnliche Richtung gehen." Die meisten Menschen würden einen Mix mögen aus kurzen, rein unterhaltsamen Videos und Themen, bei denen sie einen Deep Dive interessant finden, einen Blick hinter die Kulissen oder ein DIY.

Vielmehr geht es Tiktok wohl darum, möglichst die gesamte Content-Bandbreite abzubilden. Die Plattform wandelt sich dadurch immer mehr zur One-Solution-Plattform: "Am Anfang gab es nur kurze Videos, jetzt ist Tiktok auch Suchmaschine, Kommunikationsmittel und ich muss noch nicht mal mehr auf eine andere Plattform gehen, um längeren Content zu sehen", erklärt Lina Arnold. Noch umfangreicher könnte das Angebot werden, wenn Tiktok Shop bald nach Deutschland kommt und die App auch zum Shoppen genutzt werden. (Welche Indizien es gibt, dass der Europa-Start kurz bevorstehen könnte, haben wir zuletzt hier berichtet.)

Kommen jetzt die Midroll-Ads?

Für die Creator-Economy wird Tiktok durch das Rewards-Programm und Longform zwar attraktiver, von Youtube-Standards bei der Ausschüttung können Creator*innen aber bisher nur träumen: "Sie sind immer noch weit entfernt von den 3-7 Euro TKP, die Youtube zahlt", sagt Adil Sbai. "Und da wird Tiktok auch noch lange brauchen, bis es das matchen kann." Für Creator*innen bleibt es daher am attraktivsten, längere Inhalte, die viral gehen könnten, als Youtube-Longform hochzuladen. Gute Vermarktung von Longform-Content könnte eine Option für Tiktok sein, seine Einnahmen bedeutsam zu steigern und mehr an Creator*innen auszuschütten.

Bietet sich hier also die Möglichkeit für eine ganz neue, sehr lukrative Werbeform durch Midroll-Ads? Bisher sind Ads bei Tiktok nämlich immer "skippable", User*innen können sie einfach wegklicken – anders als bei Youtube. Die Meinungen der Expert*innen gehen bei der Frage, ob Tiktok den Content künftig für Ads unterbrechen wird, auseinander: Bei Joli Berlin glauben Lina Arnold und Josephine Ludewig nicht, dass es Midroll-Ads geben wird. Sie bezweifeln, dass Tiktok das seinen User*innen zumuten würde, "weil Tiktok im Vergleich zu anderen Plattformen immer stark darauf achtet, dass die Power der Nutzer*innen gewährleistet bleibt", sagt Arnold. Dadurch sei es für Brands in den letzten Jahren auch so schwer gewesen, Tiktok zu erobern. "Wenn ich es schaffen muss, dass die Person freiwillig dran bleibt, muss ich Werbung ganz neu denken und es schaffen, einen Mehrwert zu delivern." Das habe den positiven Nebeneffekt, dass Werbung auf Tiktok weniger als Störfaktor wahrgenommen wird, sagt Josephine Ludwig: "In den Kommentaren wird gute Werbung sogar gefeiert."

Adil Sbai ist hingegen überzeugt, dass hinter der Longform-Offensive auch der Plan steckt, Content mit Werbung zu unterbrechen. "Tiktok ist sehr gut und schnell darin, Ad-Modelle zu entwickeln. Und bei einem Video, was 10 Minuten geht, bist du ab Minute vier so hooked, dass du auch die letzten 6 Minuten noch schauen willst", glaubt er. Da keine Werbung zwischendurch zu schalten? "Wär doch fahrlässig."

Social MediaTikTokCreator Economy
Tanja Karrasch
Autor*In
Tanja Karrasch

Tanja Karrasch ist Redakteurin bei OMR. Vor ihrem Wechsel arbeitete sie für die TV-Produktionsfirma Bavaria Entertainment und war als Redaktionsleiterin für zwei ZDF-Shows zuständig. Sie hat bei der Tageszeitung Rheinische Post volontiert und anschließend als Redakteurin gearbeitet.

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