Das Scheitern der Thrasio-Klone: Warum das einst gefeierte Geschäftsmodell am Ende ist
Amazon-Aggregatoren galten als die nächsten E-Commerce-Stars. Jetzt wird einer der größten Player sogar versteigert
Jetzt geht es ganz schnell: In wenigen Tagen versteigert die weltgrößte Investmentgesellschaft Blackrock den deutschen Amazon-Aggregator SellerX. 2022 galt das Unternehmen noch als Unicorn. Gründer Malte Horeyseck sprach im OMR Podcast von globalen Ambitionen. Heute steht SellerX symbolisch für die Lage der Thrasio-Klone und das Geschäftsmodell insgesamt. Wir haben uns in der Branche umgehört und erklären, was bei den Amazon-Aufkäufern falsch gelaufen ist.
Zum Start eine kleine Geschichtsstunde rund um das Geschäftsmodell der Aggregatoren. Im Juli 2018 geht Thrasio in den USA an den Markt. Der Plan: Das Unternehmen will Brands aufkaufen, die ihre Produkte vor allem auf Amazon anbieten und so eine Holding aus unzähligen dieser Marken bauen. Schon zu Beginn beschränken sich weder Thrasio noch die Wettbewerber auf eine bestimmt Branche. Sie kaufen Sportartikler, Grillhersteller, Home & Living-Anbieter. Dabei will Thrasio Synergie-Potenziale heben, Learnings von einer auf die andere Brand übertragen – im Marketing und auch bei der Produktentwicklung. Mitte 2020 wird Thrasio zum Unicorn und stellt einen Rekord auf. Nie war ein US-Unternehmen von Gründung bis zur Milliardenbewertung schneller.
Die Erfolgsgeschichte zieht deutsche Copycats an. Wir berichten erstmals im Dezember 2020 über den Trend. Damals entstehen Player, die bis heute auf dem Markt aktiv sind: SellerX, Razor Group, aus Chal-Tec wird in der Zeit die Berlin Brands Group. Andere überstehen schon die Anfangszeit des Trends nicht und sind der gut finanzierten Konkurrenz nicht gewachsen. Insgesamt fließen wohl 16 Milliarden US-Dollar an Aggregatoren auf der ganzen Welt. Heute ist allerdings der komplette Markt in Schieflage. Das große Vorbild Thrasio meldet im Februar 2024 Insolvenz an.
Vom Unicorn zum Versteigerungsobjekt
"Das Modell ist eigentlich relativ einfach erklärt: Wir brauchen Kapital, um die Firmen zu kaufen, wir müssen die richtigen Firmen identifizieren und dann müssen wir nach dem Kauf die Firmen wachsen lassen", sagt Malte Horeyseck im April 2021 im OMR Podcast. "Wir schauen uns ein großes Spektrum an Marken an. Der Sweet Spot ist ein Jahresumsatz zwischen einer und zehn Millionen." Lange Zeit gilt SellerX als das große Aushängeschild für das Geschäftsmodell in Deutschland. Insgesamt sammelt das Unternehmen bis heute 800 Millionen Euro von Investoren und Banken ein und kauft Ende 2021 auf dem Höhepunkt den deutschen Amazon-Player KW Commerce mit allein 100 Millionen Euro Umsatz. 2023 liegt der Umsatz dann bei 400 Millionen Euro.
Die SellerX-Gründer Philipp Triebel und Malte Horeyseck (v.l.) haben das Unternehmen im Juni 2024 verlassen (Foto: SellerX)
Doch der Traum vom globalen E-Commerce-Player scheint nicht aufzugehen. Schon 2021 bekommt SellerX einen 400-Millionen-Dollar-Kredit vom Investmentriesen Blackrock, der auch in das Unternehmen investiert ist. Für die Übernahme von US-Konkurrent Elevate Brands 2023 wird dieser nochmal um 100 Millionen Dollar aufgestockt. Offenbar können die Gründer den Kredit nicht zurückzahlen, deshalb lässt Blackrock das Unternehmen jetzt am 17. September versteigern – wohl um gemeinsam mit weiteren Investoren und Kreditgebern die komplette Kontrolle über SellerX zu erlangen und weitere Investoren mit ins Boot zu holen.
Am Ende dürfte es Blackrock also nicht darum gehen, SellerX zu liquidieren oder zu zerschlagen. Vielmehr will Blackrock seine Investitionen so gut es geht retten – mit mehr Kontrolle über das Unternehmen. SellerX wollte sich auf Anfrage von OMR nicht öffentlich zu dem Verfahren äußern. Das Unternehmen kommentiere Gespräche zwischen Investoren und Kreditgebern nicht.
Der Markt hat sich gedreht
Die SellerX-Versteigerung steht dabei nur symbolisch für die gesamte Schieflage der Aggregatoren-Branche. Schon 2022 muss das Unternehmen Mitarbeitende entlassen. Auch die Berlin Brands Group entlässt im gleichen Jahr 100 Mitarbeitende. Wenig später gibt Gründer Peter Chaljawski die operative Führung der Gruppe ab. Ex-Ebay-Mann Eben Sermon übernimmt. Auch die SellerX-Gründer Malte Horeyseck und Philipp Triebel verlassen ihr Unternehmen im Juni 2024. Und ganz frisch: Die Amazing Brands Group aus Köln musste vor wenigen Tagen Insolvenz anmelden. Nur bei der Razor Group ist es derzeit relativ ruhig. Im März 2024 hatte das Unternehmen die Übernahme des US-Konkurrenten Perch verkündet – dabei aber außer Buzzwords keine Zahlen genannt. Weder die Berlin Brands Group, noch die Amazing Brands Group und die Razor Group wollten sich auf OMR-Anfrage zur aktuellen Lage ihrer Unternehmen äußern.
Peter Chaljawski hat die Berlin Brands Group groß gemacht. Anfang 2024 geht er von Bord (Foto: Berlin Brands Group)
Die negative Entwicklung bei vielen Aggregatoren folgt auf eine wahnwitzige Aufwind-Phase während und kurz nach der Corona-Pandemie. Alle Welt glaubt damals an ein immerwährendes E-Commerce-Wachstum, das Geld bei Investoren sitzt locker. Heute sind die wirtschaftlichen Vorzeichen ganz andere.
"An sich leiden die Aggregatoren unter denselben Faktoren wie der E-Commerce im Allgemeinen. Die E-Commerce-Bewertungen sind stark gesunken. Und es mangelt am Kapitalzugang. Das macht es allen nicht-profitablen E-Commerce-Modellen gerade extrem schwer", sagt E-Commerce-Experte Jochen Krisch von Exciting Commerce gegenüber OMR. "Bei den Aggregatoren kommt hinzu, dass sie sich bei der Übernahmejagd gegenseitig hochgeschaukelt haben und so extrem hohe Preise, zum Teil auf Pump, bezahlt haben. Das rächt sich nun."
Die Entwicklung sieht auch Franz Jordan, Gründer des Amazon-Analytics-Tools Sellics, als einen der Hauptgründe: "Die Zinsen auf die Darlehen sind erheblich gestiegen. Das trifft zwar viele Unternehmen, Aggregatoren trifft es aber besonders hart, weil sie in zwei entscheidenden Bereichen im Nachhinein zu aggressiv unterwegs waren. Zum einen haben sie relativ zum Eigenkapital sehr viel Darlehen aufgenommen und zum anderen haben sie von den vielen Darlehen sehr hohe Kaufpreise für die Amazon-Seller bezahlt."
Das mache es schwer, in dieser neuen Zinswelt Geld zu verdienen. "Wenn ein Aggregator den achtfachen Jahresgewinn für einen Seller bezahlt und 80 Prozent der Kaufsumme über Darlehen finanziert, die Zinsen auf das Darlehen von fünf Prozent auf 15 Prozent steigen, dann fließt mittlerweile der gesamte Gewinn der Firma (sofern der Gewinn gleich geblieben ist) nur in die Zinszahlung", so Jordan. "Diese aggressive Finanzierungs- und Akquisitionsstrategie ist aus meiner Sicht eine direkte Folge der extrem hohen Investitionssummen in die Aggregatorenbranche, was zu einem harten Wettbewerb um die Seller geführt hat. Darüber hinaus sind die Zinsen für die Darlehen wohl nicht nur wegen der Erhöhung der Leitzinsen, sondern auch wegen der Underperformance der Aggregatoren gestiegen."
Übermut und eigene Fehler
Mark Steier, selbst lange Jahre unternehmerisch im E-Commerce aktiv und Betreiber des Wortfilter-Blogs rund um das Thema, sieht die Macher hinter den Aggregatoren stärker in der Verantwortung: "Ich möchte zunächst sagen, was nicht die Hauptgründe [für die Schieflage, Anm. d. Red.] sind. Und das ist die allgemeine Entwicklung des E-Commerce in Deutschland. Natürlich macht es der Umsatzrückgang schwieriger, die Wachstumsstory weiter zu erzählen, aber das ist nicht die Hauptursache für die dramatische Entwicklung der Aggregatoren." Denn viele andere Player auf dem Markt würden trotz der schwierigen Lage nicht so schlecht dastehen, wie SellerX & Co.
"Die Ursache für die schlechte und unter dem Marktdurchschnitt liegende Performance ist in der nicht gelungenen Integration und Zusammenführung der Marken zu sehen. Im Detail betrachtet entwickeln sich alle Akquisitionen unter dem neuen Dach schlechter als zu Zeiten der Alteigentümer", so Steier. "Fast alle Alteigentümer, mit denen ich gesprochen habe, bescheinigen den neuen Markenmanagern bei den Aggregatoren schlechte Arbeit auf allen Ebenen. Also Einkauf, Marketing, Strategie, Planung und Logistik. Hier sind den Aggregatoren also die Kosten davongelaufen."
Auch Jordan hält die Bemühungen der Integration vieler Marken für eine Aufgabe, die kaum einer der Aggregatoren effektiv geschafft hat: "Ein Kern-Pitch der Aggregatoren war ja, dass sie das 'Unilever des Internets' werden. Nun hat sich aber herausgestellt, dass das Schaffen von richtigen Marken am Fließband alles andere als einfach ist. Tatsächlich haben sich aus meiner Sicht die wenigsten der gekauften Marken zu echten Konsumentenmarken entwickelt. Das liegt auch daran, dass die Expansion auf andere Channels als Amazon ebenfalls nicht so gut funktioniert hat wie geplant."
SellerX hat nach eigenen Angaben bisher über 40 Marken gekauft und zusätzlich wie erwähnt die Mitbewerber KW Commerce und Elevate Brands übernommen. An anderer Stelle ist sogar von 80 gekauften Brands die Rede. Die Berlin Brands Group spricht von über 45 Marken und die Razor Group von über 40.000 Produkten im Portfolio. Das zeigt, welche Größe die Aggregatoren mittlerweile erreicht haben. Und anscheinend ist die Integration so vieler Marken doch nicht so einfach, wie es die Macher*innen erhofft und Investoren geglaubt hatten.
Globale Effekte auf deutsche Player
Angetreten waren auch die deutschen Thrasio-Klone ursprünglich mit dem Versprechen, auch kleinere Marken international zu vertreiben und vor allem in diesem Punkt bisher ungenutzte Potenziale zu heben. Offenbar sind auch deshalb so viele große Investoren bereit, Geld in die Projekte zu stecken. Bei SellerX sind wie erwähnt Blackrock aber auch Cherry Ventures, Upper90 und Victory Park Capital investiert. Zu Investoren der Berlin Brands Group zählen Bain Capital und Ardian. Und in die Razor Group haben ebenfalls unter anderem Blackrock und Upper90 viele Millionen gesteckt.
Hier eine Auflistung der größten Investoren der Branche weltweit (Quelle: Bloomberg)
Investor | Aggregatoren |
Blackrock | Razor Group, SellerX |
Victory Park Capital | Razor Group, Perch, Heyday, SellerX, Wonder Brands, Juvo+, Cap Hill Brands |
Upper90 | Thrasio, Razor Group, Elevate Brands, Acquco, Valorei, Stryze Group |
L Catterton | Razor Group, SellerX, Dragonfly, Valoreo |
CoVenture | Benitago Group, Acquco, D1 Brands, Wonder Brands, Gravitiq |
"Das Narrativ war einfach zu verstehen und absolut plausibel. Sie entsprach den Beobachtungen der Geldgeber: Kleine Marken stoßen an ihre Grenzen. Den Alteigentümern fehlt es oft an Professionalität, um ihre Marke auf die nächste Stufe zu heben. Wir (die Aggregatoren) kaufen Experten ein, haben (schaffen) Infrastruktur, heben Skalen- und/oder Synergieeffekte und bedienen neue Märkte, in denen die Brands noch nicht aktiv sind", sagt Mark Steier. "Das schafft Wachstum. Skalen, Synergien, Prozesse (Infrastruktur), gebündelter Einkauf, schaffen mehr, viel mehr Ertrag. Und dieses Narrativ hält fast jeder kritischen Diskussion stand."
Am Ende geht aber genau dieses Narrativ nicht auf – offenbar vor allem wegen internationaler Konkurrenz. "Die 'Aggregation' der Marken hat zur Peak Phase von Amazon gestartet, in einem Marktumfeld bei dem Aliexpress, Temu & Co. noch nicht aktiv waren in Deutschland. Viele der gekauften Marken waren allerdings nicht viel mehr als umgelabelte Produkte aus China auf denen bereits bei Amazon ein erheblicher Wettbewerb bestand und in der Temu-Welt hatten diese Marken gar keinen USP mehr, sodass der Wettbewerbsdruck noch stieg", erklärt E-Commerce-Experte und Spryker-Gründer Alexander Graf.
Franz Jordan fügt hinzu: "Auf Amazon ist es sehr schwierig (unmöglich?), einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil aufzubauen. Das Argument der Aggregatoren war, dass die gekauften Produkte ja viele Rezensionen haben und es dadurch neue Wettbewerber schwer haben werden. Das ist aber nur augenscheinlich korrekt. Tatsächlich habe ich Geschichten gehört, dass Seller ihre Marke an einen Aggregator verkauft haben und dann direkt im Anschluss quasi die gleiche Firma nochmal neu gegründet haben, und diese neue Firma dann schnell erfolgreicher als der Aggregator war."
Nicht nur SellerX & Co. leiden
Doch nicht alle Verkäufer*innen sind nach einem Deal so wieder neu durchgestartet. Die Pleitewelle und Schieflage der Branche trifft deshalb nicht nur die Unternehmen, Mitarbeitenden und Investoren. Wie Mark Steier erzählt, sind viele Händler*innen enttäuscht von der Entwicklung nach dem Verkauf ihrer Marken an Aggregatoren: "Die Alteigentümer sind die eigentlichen Verlierer in diesem Spiel, da sie auf einen Großteil ihres erwarteten Kaufpreises verzichten müssen. Der Earn-out ist die erfolgsabhängige Komponente, die nach dem Verkauf ausgezahlt wird. Kein Wachstum, keine Rendite, also auch kein Earn-out. Und der machte teilweise 30 bis 40 Prozent des Kaufpreises aus."
Vielen liege ihre Marke weiterhin am Herzen, seien noch direkt involviert. "Die meisten Ex-Brand-Owner waren nach dem Verkauf noch beratend an Bord und sollten eigentlich gemeinsam mit den Brand Managern die Marke weiterentwickeln", so Steier. "Diese Zusammenarbeit erwies sich jedoch aus vielerlei Gründen als schwierig bis unmöglich. Die alten Verkäufer gingen, den Brand Managern fehlte es an Erfahrung und Wissen. Das Projekt scheiterte."
Gibt es Hoffnung?
Aber wie geht es jetzt weiter mit dem Geschäftsmodell, mit den Firmen, die noch da sind? "Eine wirklich gute Idee waren die Aggregatoren noch nie, weil sie sehr von Amazon und den Marktplätzen abhängen. Im Grunde eine typische Berateridee, in der Hoffnung, mit Optimierungen und effizienzsteigernden Maßnahmen den Wert zu steigern. Es kann aber sein, dass nach der Implosion der ein oder andere übrig bleibt", sagt Jochen Krisch.
Das klingt nicht gerade optimistisch, wir haben aber auch andere Meinungen gehört. Alexander Graf glaubt zumindest an das Modell – wenn auch nicht unbedingt für deutsche Firmen: "Das Geschäftsmodell macht weiterhin Sinn. Im Grunde genommen ist es ja die logische Weiterentwicklung des Modells der Wünsche Gruppe die gerade im OMR Podcast war", so Graf. "Durch den globalen Wettbewerb auf der Plattform gibt es allerdings kaum lokale Vertriebs- oder Sourcingvorteile, die Unternehmen wie Wünsche oder Ralf Dümmels DS Produkte früher hatten. Es gibt deshalb auch nicht den 'Deutschen Markt' und ich würde mich eher fragen, warum der natürliche Markführer für so ein Modell nicht aus China kommen sollte."
Franz Jordan und Mark Steier glauben mit Abstrichen zumindest an eine Zukunft des Modells auf dem deutschen Markt. "Ich denke, es kommt darauf an, was genau das Geschäftsmodell ist. Das 'Unilever des Internets, das am laufenden Band neue Brands einkauft' halte ich für gescheitert", sagt Jordan. "Einen großen, erfolgreichen E-Commerce Player mit Fokus auf Amazon und andere Marktplätze und sehr vielen SKUs halte ich für ein valides Modell. Es gab und gibt ja schließlich Seller, die genau das erfolgreich machen."
Steier nimmt vor allem die verbliebenen Aggregatoren in die Pflicht, besser zu arbeiten: "Das Geschäftsmodell ist sicherlich nicht gescheitert, denn die Kernerzählung stimmt. Den meisten Aggregatoren ist es nur nicht gelungen, die versprochene Expertise zu erfüllen: Es fehlte an Personal, an Wissen und an der notwendigen, aber versprochenen Infrastruktur. Und in der Tat haben sich genau die Aggregatoren gehalten, denen es am besten gelungen ist, ihre Marken zu integrieren und weiterzuentwickeln. Konkret haben das nicht einmal eine Handvoll sehr gut gemeistert. Auch sie mussten Federn lassen, haben es aber geschafft, sich neu auszurichten und gut zu finanzieren, so dass sie den Blick nach vorne richten können. Ein gutes Beispiel ist die Berlin Brands Group."