Zwischen Ikea und Designer-Marke: Das DTC-Startup NV Gallery inszeniert Möbel in „Drops“
Smartes Sourcing, Social Ads und SEO: So wurde die Pariser DTC-Möbelmarke vom Start weg profitabel
- Mehr als eine Million Umsatz direkt im ersten Jahr
- Zu reich für Ikea, zu arm für Designermöbel
- Aufwendige Inszenierung der Produkte
- Flirt mit dem Massenmarkt wurde zum Fail
- Kollektionen, Drops und Möbel für Instagram
- Zwischen Multiplikatoren und Umsatzbringern
- NV Gallery im Instagram-Feed verankern
- Ein Monat von der Idee zum Produkt
- NV Gallery plant Popup in deutscher Metropole
Möbel und E-Commerce, das ist keine ganz unproblematische Kombination. Doch durch die Corona-Pandemie haben auch Online-Player im Interior-Business wie NV Gallery einen mächtigen Push erfahren. Allein in diesem Jahr erwartet das von der Deutschen Natalie Hanczewski und ihrem französischen Partner Thibaut Saguet gegründete Pariser DTC-Möbel-Label ein Wachstum von 50 Prozent. OMR hat mit Hanczewski darüber gesprochen, warum sie Möbel in Kollektionen und Drops denkt, wie man Retourenraten minimiert und warum deutsche Kund:innen teurer als französische sind.
Mehr als eine Million Umsatz direkt im ersten Jahr
Der Erfolg der jungen Marke hat einen Namen: Wayne. Als sich NV Gallery 2017 mit einer schmalen Kollektion aus gerade einmal 30 Möbeln auf den Markt wagte, war auch Wayne dabei. Der so benannte Stuhl kombiniert schlanke Metallbeine mit einer üppig gepolsterten Sitzfläche und breitem Rückenteil. Er war vom Start weg der Bestseller, so Hanczewski.
„Wayne war mit ausschlaggebend, dass wir in unserem ersten Jahr direkt über eine Million Umsatz gemacht haben“, sagt die Gründerin. Bis heute gehöre der Stuhl zu den meistverkauften Artikeln. Und am Beispiel von Wayne lässt sich gut zeigen, warum NV Gallery vom Bootstrapping-Startup, das vom Gründerpaar mit 40.000 Euro gestartet wurde, in nur vier Jahren zu einem Unternehmen wurde, das einen zweistelligen Millionenumsatz macht.
Zu reich für Ikea, zu arm für Designermöbel
Los geht es mit NV Gallery ein paar Jahre vor der offiziellen Gründung und – ganz klassische Gründerstory – mit einem „personal need“. Hanczewski fasst damals langsam Fuß im Berufsleben und verdient ein Gehalt, mit dem man auch in Paris mehr als nur über die Runden kommt. Sie hat keine Lust mehr auf Ikea-Einrichtung, aber dann doch noch nicht genug Geld, um ihre Wohnung mit Möbeln der renommierten Edelhersteller zu füllen. Und weil ihr schnell klar wird, dass sie nicht die einzige Twentysomething in dieser Lage ist, entsteht daraus die Idee für ein eigenes Business.
Hanczewskis Masterarbeit an der angesehenen Pariser Business School ESSEC wird zum Businessplan für NV Gallery: eine DTC-Brand mit hochwertigen, aber erschwinglichen Möbeln, die man so eher in einer Boutique oder Bar vorfindet als im Möbelhaus. Vorbilder für NV Gallery sind vor allem us-amerikanische DTC-Möbelmarken. Bei denen handelt es sich allerdings oft nicht um Pure-Online-Startups, sondern um die jungen Linien von etablierten Branchengrößen mit den entsprechenden Ressourcen im Rücken.
Aufwendige Inszenierung der Produkte
Hanczewski und ihr Partner Saguet dagegen haben keine Ahnung vom Möbel-Business. Ein ganzes Jahr verbringen sie damit, Produkte zu entwerfen und Hersteller zu finden, die ihren Qualitätsansprüchen genügen und trotzdem bereit sind, in kleinen Stückzahlen zu liefern. Sie stecken Teile ihres Ersparten in die Produktion der ersten 30 Möbelstücke, stellen einen IT-Developer ein und investieren ins Online-Marketing für ihre neue Marke.
„Wir haben alles selber geshootet und online gestellt“, sagt Hanczewski. Zum einen fehlt ihnen das Geld für professionelle Fotoproduktionen. Vor allem geht es dem Gründerpaar darum, NV Gallery exakt nach seinen Vorstellungen aufzubauen. Neben den üblichen Freistellern legt das Startup von Anfang an großen Wert darauf, den Kund:innen die Produkte in unterschiedlichen, aufwendig inszenierten Wohnsituationen zu präsentieren. Außerdem werden die Möbel sehr detailliert gezeigt und es gibt ausführliche Informationen zu verschiedensten Maßen. Dadurch will NV Gallery die Retourenraten möglichst gering halten. In Frankreich habe man sie mittlerweile auf drei bis fünf Prozent gedrückt. In Deutschland liege man etwas darüber.
Mit Blick auf ein hochwertiges Marken-Image verzichtet NV Gallery von Beginn an darauf, stilistisch passende White-Label-Produkte unter der eigenen Brand anzubieten. Lieber nimmt man in Kauf, zunächst nur eine Handvoll Artikel per Preorder und mit entsprechenden Lieferzeiten anbieten zu können. „Das limitiert einen am Anfang bei der Schnelligkeit des Wachstums“, sagt Hanczewski, „aber ich glaube, dass so die hochwertigere Marke entsteht.“ Zu dieser Branding-Strategie gehört auch, ihre Produkte ausschließlich über den eigenen Shop zu verkaufen.
Flirt mit dem Massenmarkt wurde zum Fail
Die Konsequenz, mit der Hanczewski und Saguet NV Gallery als individuelle Brand positionieren, zahlt sich aus. Das belegt nicht zuletzt ihr erster Bestseller. Den Stuhl Wayne gibt es irgendwie ähnlich zwar auch bei anderen Anbietern, aber eben nicht unverkennbar genau so wie bei NV Gallery. Das gilt auch für die meisten anderen Produkte der Pariser. „Wir haben gemerkt, je einzigartiger ein Produkt ist und je weniger es auf dem Markt zu haben ist, desto besser verkauft es sich“, sagt Hanczewski.
Diese Erkenntnis verfestigt sich spätestens im Jahr 2018. Da nimmt NV Gallery mit Blick auf den Massenmarkt und erfolgreiche Linien der Mitbewerber Möbel im klassischen Skandi-Design ins Angebot. „Das hat absolut gar nicht funktioniert“, sagt Hanczewski. Wegen der wie üblich geringen Stückzahlen, die zum Launch produziert wurden, sei es zum Glück kein teurer, aber eben doch ein prägender Fehler gewesen.
Kollektionen, Drops und Möbel für Instagram
Inzwischen hat NV Gallery eine Art Formel entwickelt, nach der neue Produkte auf den Markt gebracht werden. Wie in der Mode – die Fast-Fashion-Kette Zara ist ein erklärtes Vorbild – arbeitet das Pariser Interior-Startup mit Kollektionen. Jeweils im Winter und Sommer gebe es zwei große Kollektionen, so Hanczewski. Diese wiederum würden in drei „Drops“ gesplittet, der Main-Drop von zwei kleineren davor und danach flankiert. Die einzelnen Drops tragen Namen wie „Dolce Vita Club“ oder „Nostalgia“. Das jeweilige Konzept dahinter wird über aufwendige Fotografie und Texte inszeniert. Im Unterschied zu der vor allem von Streetwear bekannten Drop-Mechanik arbeitet NV Gallery allerdings nicht mit künstlicher Verknappung der Produkte.
Die jeweils zwischen 40 und 60 Artikel der einzelnen Kollektionen lassen sich in zwei Gruppen gliedern: „Uns ist es wichtig, einen guten Mix aus Produkten zu designen – ein Part für mehr avantgardistische Pieces, die den Ton der neuen Kollektion und Trends angeben, und ein Part für Produkte, die den Geschmack einer breiteren Käuferschicht treffen“, sagt Hanczewski. Das Verhältnis sei von Kollektion zu Kollektion unterschiedlich und ergebe sich meistens aus der Performance der vorherigen.
Zwischen Multiplikatoren und Umsatzbringern
Umsatzbringer sind die unspektakulären Designs. Doch für das Marketing sind die auffälligeren Stücke bedeutender – wiederum eine Analogie zur Fashion-Branche. Dort kommt mittlerweile keine Kollektion ohne zwei oder drei Stücke aus, die vor allem auffallen sollen. Potenzielle Kund:innen sollen an ihnen hängen bleiben, wenn sie in ihren Insta-Stories auftauchen. Auch NV Gallery nutzt solche Produkte für Social Ads, um Traffic auf den Shop zu lenken – auch wenn die meisten am Ende ein Basic-Modell in einer ruhigeren Farbe kaufen würden, sagt Hanczewski.
Zudem braucht NV Gallery die ausgefallenen Produkte, die Trends früh aufgreifen und vielleicht sogar ein wenig überzeichnen, um die Marke bei wichtigen Multiplikatoren zu positionieren. Gerade sind dies etwa Designs mit viel Schwarz und Chrom, die an die 1960er-Jahre erinnern würden. „Das ist teilweise sehr abgefahren und nichts für den durchschnittlichen Kunden, der das noch nicht in seinem Interior haben möchte“, sagt Hanczewski. „Aber die Opinion Leader und die Presse möchten das jetzt schon.“ Deswegen sei es so wichtig, immer einen Teil der Kollektionen auf dieses Segment abzustimmen und Kampagnen auf diesen Designs aufzubauen.
NV Gallery im Instagram-Feed verankern
Social Ads und vor allem der eigene Content, der über soziale Medien und Newsletter ausgespielt wird, solle die Empfängerinnen in erster Linie inspirieren, so Hanczewski. Neben Möbeln der Marke werden darum auch stimmungsvoll Fotos etwa von Urlaubsszenen geteilt, die ein Lebensgefühl der Marke inszenieren. Darüber will sich NV Gallery in den Feeds und Inboxen verankern, um zur Stelle zu sein, wenn eintritt, was Hanczewski „Kaufereignisse“ nennt: ein Umzug oder eine Renovierungen als die typischen Zeitfenster, in denen neue Möbel gekauft werden.
Neben Anzeigen und Content auf Instagram und Facebook setzt NV Gallery auf Google Shopping und SEO, um Leute mit konkreter Kaufabsicht anzusprechen, die etwa nach „blaues Ecksofa“ suchen. Die Gründerin versucht jedoch die Abhängigkeit von Paid-Kanälen möglichst zu minimieren. Gerade während sogenannter Sale-Phasen im Möbelmarkt werde der Traffic mittlerweile sehr teuer. Das gelte insbesondere für den deutschen Markt. Während im Heimatmarkt des Pariser Startups Möbel oft noch im klassischen Einrichtungshaus gekauft würden, sei es im Nachbarland bereits üblicher geworden, teure Produkte online zu bestellen, so Hanczewski. „Darum pushen wir die SEO-Strategie in Deutschland wesentlich stärker.“
Zu dieser Strategie gehört auch, dass Mitarbeitende aus dem Performance-Marketing-Team von NV Gallery am Tisch sitzen, wenn neue Kollektionen besprochen werden. Neben allgemeinen Trends der Branche und Google-Trends-Auswertungen spiele bei der Entwicklung neuer Kollektionen auch das Füllen von Lücken im eigenen Sortiment eine wichtige Rolle. Man schaue sich regelmäßig an, welche Kategorieseiten viel Traffic aufweisen, aber niedrige Conversions haben. Dies sei ein Indikator, dass NV Gallery dort nicht genügend Designs anbieten würde, man also zusätzliche Produkte ins Programm nehmen müsse, erklärt Hanczewski.
Ein Monat von der Idee zum Produkt
Bei diesem Ansatz ist Geschwindigkeit zentral. Darum hat NV Gallery von Beginn an versucht, den Zeitraum zwischen Konzeption und Launch der Produkte zu minimieren. Wo es geht, lässt das Startup in Europa produzieren. Im Schnitt vergehen laut Hanczewski nur ein bis drei Monate, bis aus einer Idee ein im Shop gelistetes Produkt geworden ist. Das habe sich vor allem während der Corona-Krise ausgezahlt, als NV Gallery sein Angebot vergleichsweise schnell um Bürostühle und kleinere, flexible Möbel, die sich zu Arbeitsplätzen umfunktionieren lassen, erweitern konnte.
Ein eher ungünstiges Timing erwischt NV Gallery Ende 2019 allerdings bei der Eröffnung des ersten Flagship Stores in Paris. Erst gibt es viele Streiks, dann kommen Pandemie und Lockdown. Wäre es nach Hanczewski gegangen, hatte es das 700-Quadratmeter-geschäft wohl eh nicht gegeben. „Ich komme aus dem E-Commerce. Es war für mich nicht Ziel Nummer eins, einen Laden zu eröffnen“, sagt die Gründerin. „Man kann es nicht messen, was mich am Anfang sehr daran gestört hat.“
NV Gallery plant Popup in deutscher Metropole
Doch ihre Investoren, die ihr Geld mit einem französischen Zara-Pendant gemacht hatten, pushten sie in die Richtung. Das Gründerpaar hatte sie für fünf Millionen Euro gegen eine Minderheitsbeteiligung ins Unternehmen geholt, um den Bau eines eigenen Lagers in der Nähe von Paris zu finanzieren. Mittlerweile kann auch Hanczewski dem Store, der bedingt durch mehrere Läden von Konkurrenten in der direkten Nachbarschaft viele Neukunden bringt, etwas abgewinnen. Für 2022 plant NV Gallery einen Popup-Store und später einen richtigen Laden in Hamburg oder München – den beiden umsatzstärksten Städten in Deutschland.
Außerdem ist eine erste Capsule Collection von NV Gallery in der Pipeline, die zusammen mit französischen Produktdesign-Influencern aufgelegt wird. Je nach Corona-Lage soll sie im November oder im März des kommenden Jahres launchen. Außerdem planen Hanczewski und Saguet die weitere Internationalisierung. Aktuell mache NV Gallery 60 Prozent seines Umsatzes in Frankreich. Doch Deutschland sei bereits der zweitwichtigste Markt, so Hanczewski. Außerdem liefert NV Gallery bereits nach Italien, Belgien, Österreich, in die Schweiz und die Niederlande. Als nächstes möchte man osteuropäische Länder ins Visier nehmen.
Um das Wachstum ihres Unternehmens voranzutreiben, denkt das Gründerpaar darüber nach, ihre Firma für weitere Investoren zu öffnen. Und dann wäre vielleicht auch Geld da, um Werbeanzeigen in Magazinen oder Fernseh-Spots zu buchen. Denn bei aller Leidenschaft für Daten und den effizient-möglichsten Einsatz der Mittel, weiß Hanczewski um die psychologische Komponente des Verkaufens: „Sobald man in Printmedien oder im TV stattfindet, glaubt der Kunde: Okay, die Marke, der ich 2.000 Euro für mein Sofa gebe, ist stark“, erklärt die Gründerin. NV Gallery wäre dann nicht mehr nur „das kleine Startup“, sondern auf Augenhöhe mit den Designer-Brands.