Nach dem NFL-Deal: Steigt Netflix jetzt großflächig ins Live-Sport-Game ein?
Viele Sportligen hoffen auf frisches Geld aus dem Streaming-Markt sowie von Tech-Konzernen
- "We aren’t anti-sports, we’re pro-profit"
- Drive to Survive, Netflix Cup, Tyson vs. Paul
- Fünf Milliarden US-Dollar für WWE-Rechte
- Netflix-Deal mit NFL "ein echter Paukenschlag"
- "Für 99 Prozent der Sportligen irrelevant"
- Amazon eröffnet den Wettkampf der Tech-Konzerne
- Was heißt all das für die Bundesliga?
- Werden die territorialen Vermarktungsgrenzen fallen?
- Umsatzmaximierung vs. Synchronisierung der Vertragslaufzeiten
- MLS-Deal mit Apple als Blaupause?
- NFL-Rechte treiben Werbegeschäft
- Peacock gewinnt mit einem NFL-Spiel fast drei Millionen Abos
- Fazit
Jahrelang hat sich Netflix den Mund fusselig geredet und immer wieder betont, nicht in den Live-Sport-Markt einsteigen zu wollen. Doch nach diversen Sport-Dokus von "Drive to Survive" bis "Full Swing" scheint der Streaming-Gigant nun doch Blut geleckt zu haben. Einem milliardenschweren Zehnjahresvertrag mit der Wrestling-Organisation WWE im Jahr 2023 folgte kürzlich die Bekanntgabe, dass Netflix Weihnachten 2024 erstmals NFL-Spiele live zeigen wird. Schwingt sich Netflix jetzt zu einem ernstzunehmenden Wettbewerber um den Kauf von Live-Sportrechten auf? Und was bedeutet der vermeintliche Strategiewechsel für andere internationale Sportligen? OMR hat sich auf die Suche nach Antworten begeben und dafür mit ausgewiesenen internationalen Experten gesprochen.
"We aren’t anti-sports, we’re pro-profit"
Ted Sarandos hat in den vergangenen Jahren in der Sportwelt nicht unbedingt die Hoffnung geschürt, dass sich Netflix zu einem relevanten Player im Kampf um Live-Sportrechte aufschwingen könnte. "We aren’t anti-sports, we’re pro-profit", sagte der Co-CEO des Streaming-Anbieters im Dezember 2022 auf der "UBS Global TMT Conference" und schob noch direkt hinterher: "I’m very confident we can get twice as big without sports." Klare Ansage.
Am 16. Mai 2024 jedoch klingen die Töne aus dem Hause Netflix auf einmal ganz anders: "Letztes Jahr haben wir uns dazu entschlossen, eine große Wette auf Live-Sendungen einzugehen – und dabei auf riesige Fangemeinden in den Bereichen Comedy, Reality-TV, Sport und mehr zu setzen", sagt Chief Content Officer Bela Bajaria in einem offiziellen Statement. Und zwar nicht in irgendeinem Statement, sondern jenem zum Kauf von globalen Live-Rechten für die NFL. "Es gibt keine jährlichen Live-Ereignisse, weder im Sport noch in anderen Bereichen, die mit dem Publikum vergleichbar sind, das NFL-Football anzieht. Wir sind begeistert, dass die Spiele der NFL am ersten Weihnachtsfeiertag nur auf Netflix zu sehen sein werden", erklärt Bajaria weiter.
Konkret wird Netflix in diesem Jahr am ersten Weihnachtstag zwei NFL-Spiele live und exklusiv zeigen sowie jeweils ein Weihnachtsspiel in den Jahren 2025 und 2026. Es ist das erste Mal, dass Netflix eine Partnerschaft mit einer der vier großen US-amerikanischen Sportligen eingeht. Nach übereinstimmenden Medienberichten zahlt der Streaming-Gigant dafür 75 Millionen US-Dollar pro Spiel.
Drive to Survive, Netflix Cup, Tyson vs. Paul
Spätestens durch den NFL-Deal dürfte auch dem Letzten klar sein, dass Netflix sich ganz offensichtlich doch mehr für Live-Sport interessiert, als es Co-CEO Ted Sarandos bis dato Glauben gemacht hatte. Gänzlich überraschend kommt der offensichtliche Sinneswandel dennoch nicht, denn zuletzt kamen die Einschläge immer näher. Die 2019 veröffentlichte Formel-1-Doku "Drive to Survive" brachte den Stein ins Rollen, neben vielen weiteren folgten 2023 ähnliche Formate im Tennis ("Break Point"), Golf ("Full Swing"), Football ("Quarterback") und Radsport ("Im Hauptfeld"). Eine NBA-Doku mit Stars wie LeBron James ist derzeit in Mache.
Am 14. November 2023 geht Netflix im Sport schließlich das erste Mal Live – und zwar wie schon bei den Dokus mit einer Eigenkreation. Beim Celebrity-Golfturnier "Netflix Cup" wurden für Duelle auf dem Grün PGA-Profis mit Formel-1-Fahrern gepaart. Kein halbes Jahr später, im März 2024, stehen sich dann der 22-fache Grand-Slam-Sieger Rafael Nadal und der amtierende Wimbledon-Champion Carlos Alcaraz beim sogenannten "Netflix Slam" gegenüber, ein nächtliches Tennisturnier in Las Vegas. In die Kategorie Live-Sport fällt auch der für den 20. Juli 2024 anberaumte Kampf zwischen der Boxlegende Mike Tyson und dem Kampfsport-Influencer Jake Paul, der vor 80.000 Zuschauer*innen im AT&T Stadium in Arlington, Texas, stattfinden und bei Netflix live gestreamt werden wird.
Fünf Milliarden US-Dollar für WWE-Rechte
Und dann wäre da noch ein fünf Milliarden US-Dollar schwerer Zehnjahresvertrag mit der Wrestling-Organisation WWE. Ab 2025 wird Netflix demnach die weltweite Ausstrahlung von "Monday Night Raw" sowie die Rechte an allen WWE-Programmen, einschließlich Premium-Live-Events, außerhalb der USA übernehmen.
Der WWE-Deal versetzt die Sportmedienwelt das erste Mal so richtig in Aufruhr. Denn es ist die mit Abstand größte Investition von Netflix in Live-Inhalte und wird damit von Vielen als klares Zeichen dafür gedeutet, dass das Unternehmen den Wert von Live-Sport als Teil seines Programm-Mixes endlich erkennt. Nun mag die WWE weniger im klassischen Live-Sport, sondern eher im Genre Sport-Entertainment anzusiedeln sein. Dennoch ist gleichzeitig nicht von der Hand zu weisen, dass sich die WWE in vielerlei Hinsicht wie eine typische Sportorganisation verhält, nämlich insbesondere mit wöchentlich wiederkehrenden Events, die wiederum Abonnenten über einen längeren Zeitraum attraktiven Live-Content bieten.
Und mit diesem Prolog zurück zur Ausgangsfrage: Wird Netflix insbesondere nach den Deals mit der WWE und der NFL künftig ernsthaft und mehr denn je im heiß umkämpften Live-Sportrechte-Markt mitmischen?
Netflix-Deal mit NFL "ein echter Paukenschlag"
"Dass Netflix auf das größte Sport-Asset überhaupt in den USA und innerhalb dessen auf das wichtigste Teilrecht außerhalb von Super Bowl und Play-offs geht, das ist zuallererst mal eine sehr laute Ansage an die Wettbewerber und aus meiner Sicht ein echter Paukenschlag", sagt Thomas Klingebiel, President Media des globalen Sportrechtevermarkters Sportfive, gegenüber OMR.
Es sei aus seiner Sicht ob der generellen Marktentwicklung "zwar keine Überraschung, dass sich ein Streaming-Anbieter die Spiele gesichert" habe. "Es ist aber sehr wohl eine Überraschung, dass es sich dabei um Netflix handelt", sagt Klingebiel. Doch ihm ist zugleich auch wichtig, den NFL-Deal richtig einzuordnen. "Es geht unterm Strich nur um zwei Spiele. Um genau zu sein laufen bei Netflix an Weihnachten 2024 rund acht Stunden NFL und dann das nächste Mal erst 2025 wieder. Deswegen ist dieser punktuelle Rechtekauf auch kein zwingendes Signal dafür, dass Netflix künftig auf größere Live-Sportrechte in oder außerhalb der USA bieten wird", sagt er.
Darüber hinaus sei die "NFL mit ihrer Marktposition eine der ganz wenigen Sport-Properties, die die Filetierung der Live-Spiele auf diese Weise durchziehen und dabei sogar zusätzlich auch noch ihre eigenen Direct-to-Consumer-Medienprodukte fahren können". "Ich finde, man muss generell vorsichtig sein, große Schlussfolgerungen aus Deals der NFL oder auch der NBA für den Rest der Sportwelt abzuleiten", sagt Klingebiel.
"Für 99 Prozent der Sportligen irrelevant"
Jochen Lösch wird im Gespräch mit OMR noch deutlicher: "Wer wirklich glaubt, dass Netflix zur Rettung der Sportrechtehalter aufmarschieren wird, der liegt leider falsch. Denn das wird nicht passieren." Der Netflix-Deal mit der NFL habe "mit Ausnahme einiger weniger Top-Rechte wie die englische Premier League oder die UEFA Champions League überhaupt keine Bedeutung" für den europäischen Sportmarkt.
Lösch ist seit über zwei Jahrzehnten als Experte im Sportmedienmarkt zu Hause. Der in London lebende Deutsche ist dafür bekannt, die Dinge realistisch und nicht rosarot zu sehen. Was ihn in Sachen Netflix so pessimistisch macht? "99 Prozent der Sportligen und -Verbände haben schlichtweg nicht die Art von Top-Content, die für Netflix relevant wäre", sagt Lösch.
Natürlich weist auch Lösch nicht von der Hand, dass Netflix trotz aller gegenteiligen Beteuerungen mit den jüngsten Rechtekäufen "endgültig im Kreis der Live-Sport-Broadcaster angekommen" sei. Er ist sich aber gleichzeitig sicher, dass sich Netflix nur auf einem "sehr begrenzten Spielfeld" tummeln werde – und zwar "ausschließlich in großen und wichtigen Märkten, und dort mit absoluten Top-Rechten". Das heißt beispielsweise, dass sich Netflix wie im Fall der NFL Christmas Games stets nur für ausgewählte Spiele an ganz bestimmten Daten interessieren werde. "Netflix wird das 'cherry-picking' noch stärker als Amazon kultivieren", sagt Lösch.
Amazon eröffnet den Wettkampf der Tech-Konzerne
Im Jahr 2021 kaufte Amazon für elf Milliarden US-Dollar Live-Rechte für "Thursday Night Football" und war damit seinerzeit das erste Tech-Unternehmen überhaupt, das sich Exklusivspiele an der NFL sicherte – noch vor Youtube mit seinem 14-Milliarden-Dollar-Vertrag für das "Sunday Ticket". Laut "Wall Street Journal investiert Amazon künftig neben ESPN und NBC im Rahmen eines 76-Milliarden-Dollar-Pakets für elf Jahre zudem in Live-Rechte der NBA. Der jährliche Anteil von Amazon soll bei 1,8 Milliarden US-Dollar liegen.
In Deutschland zeigt Amazon über seinen Service Prime Video seit der Saison 2021/22 exklusive Live-Spiele der UEFA Champions League. Seit 2019 überträgt Amazon derweil in England 20 Live-Spiele der Premier League pro Saison und zahlt dafür englischen Medienberichten zufolge umgerechnet rund 35 Millionen Euro pro Jahr.
"Amazons selektive, aber sich häufende Rechtekäufe in Territorien innerhalb und außerhalb des Heimatmarkts USA implizieren, dass Live-Sport sehr gut als Akquisitionskanal für neu Kund*innen dienen kann", sagt dazu Yannick Manuel Ramcke, Autor des Blogs "Offthefieldbusiness". Anders als im sonstigen Video-Entertainmentbereich gibt es laut des Media-Rights-Experten "wenige Substitut-Produkte zu einem bestimmten Live-Sportprogramm, die das gleiche Bedürfnis des Konsument*innen befriedigen würden. Das ist ein großes Alleinstellungsmerkmal im Kampf um die limitierten Ressourcen jener Endkonsument*innen: Zeit und Geld".
Was heißt all das für die Bundesliga?
Der einzige wirkliche Premium-Sportrechtehalter hierzulande ist die Deutsche Fußball Liga (DFL). Ist der hiesige Profifußball damit künftig also interessant für Tech-Konzerne und Streaming-Giganten? Jein.
Aus Sicht von Sportfive-Manager Klingebiel ist klar, dass sich "Sport-Clubs-, -Ligen und -Verbände künftig zwangsläufig stärker mit den Big-Tech-Firmen und deren Bedürfnissen auseinandersetzen" müssen. "Denn diese gewinnen einerseits weiter an Marktmacht. Und zum anderen schwächelt das Free-TV, egal ob öffentlich-rechtlich oder privat, seit geraumer Zeit aufgrund eines nach wie vor gedämpften Werbemarkts", sagt er.
"Big-Tech-Firmen werden im Live-Sportrechte-Markt allerdings nur nach ihren eigenen Regeln mitspielen wollen. Mittelfristig könnte ein Top-Rechtehalter wie die Bundesliga darüber nachdenken, Unternehmen wie Netflix und Amazon mit maßgeschneiderten Paketen anzulocken. Allerdings müssten solche Pakete für eine globale Verwertung und nicht nur für Deutschland ausgeschrieben werden, um entsprechendes Interesse zu erzeugen", sagt Jochen Lösch. Und Sascha Kojic von SN1 Consulting ergänzt im Gespräch mit OMR: "Wenn die Rechteinhaber intelligente Strategien anwenden, bin ich zuversichtlich, dass wir auch auf dem deutschen Markt mehr Investitionen in Premium-Live-Sportrechte von Plattformen wie Netflix sehen werden", sagt Sascha Kojic und ergänzt: "Die Rechteinhaber werden ihre kommerziellen Strategien erneuern müssen, um attraktive Investitionsziele zu werden, anstatt das gleiche Spiel wie in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu spielen."
Die NFL biete Amazon, Netflix, Youtube & Co. laut Kojic "seit einigen Jahren maßgeschneiderte Live-Pakete, um sie zunächst an den Live-Sport heranzuführen und sie perspektivisch bestenfalls zu Wettbewerbern im Kampf um größere Live-Pakete aufzubauen". Die schlechte Nachricht aus Sicht der Konsument*innen: Durch den Verkauf von zusätzlichen Live-Rechten an Netflix benötigen Fans künftig einen Dienst mehr, um alle Spiele der NFL sehen zu können. Dazu zählen ein Kabel- oder Youtube-TV-Abonnement sowie Amazon Prime Video, Peacock, ESPN+ und NFL+. Die zunehmende Fragmentierung geht für die Fans auch ins Geld: Auf Grundlage der Preise der vergangenen Saison und des aktuell günstigsten Angebots von Netflix würden alle NFL-Spiele laut "The Guardian" pro Jahr sage und schreibe etwa 1.600 US-Dollar kosten.
Werden die territorialen Vermarktungsgrenzen fallen?
Im europäischen Sport ist es derweil gängige Vergabepraxis, Live-Rechte Markt für Markt oder gebündelt in geographisch abgesteckten Territorien an unterschiedliche Unternehmen mit unterschiedlichen Vertragslaufzeiten zu verkaufen. In den USA überweist ESPN der Bundesliga laut "SPOBIS" beispielsweise bis zur Spielzeit 2025/26 rund 35 Millionen Euro per annum, während die Viaplay Group bis zur Saison 2028/29 durchschnittlich 62,5 Millionen Euro pro Jahr für insgesamt neun europäische Märkte wie Skandinavien und das Baltikum zahlt.
Über den Verkauf der Medienrechte aller internationalen Territorien zusammen erlöst die Bundesliga in dieser Saison etwas mehr als 210 Millionen Euro. Der europäische Markt außerhalb Deutschlands ist mit einem Anteil von rund 50 Prozent dabei für die Bundesliga mit Abstand am wichtigsten, gefolgt von Nordamerika (20 Prozent) und Asien (15 Prozent).
Der Medienrechtevertrag mit Viaplay ist international für die Bundesliga derweil nicht der Einzige, der bis zum Ende der Saison 2028/29 angelegt ist. In diversen europäischen und eurasischen Ländern schloss die DFL jüngst Verträge mit derselben Laufzeit. Zur Saison 2029/30 könnte demnach eine Synchronisierung einiger internationaler Medienrechteverträge der Bundesliga ins Haus stehen. Ganz nebenbei bemerkt endet zu dem Zeitpunkt auch der kommende Vierjahreszyklus der nationalen Medienrechte, deren Vergabe nach einem Streit zwischen Dazn und der DFL nach wie vor unterbrochen ist.
Umsatzmaximierung vs. Synchronisierung der Vertragslaufzeiten
Synchronisierte Laufzeiten mindestens der internationalen Medienrechte könnten durchaus zum Zünglein an der Waage werden, um Streaming-Giganten oder Big-Tech-Firmen globale Deals zu ermöglichen. „Es besteht kein Zweifel, dass Sportligen insbesondere im Premium-Fußball versuchen werden, einen gemeinsamen Cut-off-Punkt in ihren internationalen Verträgen zu haben, so dass ein globaler Vertrag zum Zeitpunkt X in der Zukunft zumindest theoretisch möglich wäre“, sagt Sascha Kojic.
Marktbeobachter Yannick Manuel Ramcke wirft dazu einschränkend ein, dass sich solche nicht kurzfristig umsatzmaximierenden und bereits nach ein oder zwei Jahren endenden „stop-gap Deals“ aufgrund von „wenig flexiblen Budgets und Kostenbasen kaum eine Sportliga leisten“ könne. „Umsatzmaximierung und die Vermeidung von Umsatzrückgängen stehen aus wirtschaftlichen und sportlichen Gründen für viele Sportrechtehalter als Interessensvertretungen der einzelnen Teams aktuell ganz oben auf der Agenda. Derzeit handeln viele Sportligen und vor allem die europäischen Fußballligen abseits der englischen Premier League aus einer Position der Schwäche und sind schlichtweg nicht in der Lage, strategische, langfristig ausgerichtete Investitionen in die Zukunft zu tätigen. Aufgrund des kurzfristigen Erfolgsdrucks ist es folglich nicht realistisch für eine der großen Ligen, beispielsweise Apple eine solche Proposition zu bieten.“
Und ob die großen Portemonnaies von Apple & Co. im Fall der Fälle überhaupt tatsächlich aufgehen würden, bleibt obendrein abzuwarten. Medienrechte-Experten wie Kojic sind sich jedenfalls einig, dass es zum Beispiel aus Sicht von Apple derzeit keinen Sinn ergibt, die gesamten nationalen Live-Rechte der Bundesliga auf Deutschland begrenzt für knapp eine Milliarde Euro pro Saison einzukaufen. Zur Erinnerung: Mit den gesamten internationalen Medienrechten erlöst die Bundesliga derzeit rund 210 Millionen Euro.
MLS-Deal mit Apple als Blaupause?
Ungeachtet der Rechte-Situation der Bundesliga könnte derweil der jüngste milliardenschwere MLS-Rechtevertrag mit Apple hinsichtlich seiner globalen Gültigkeit richtungsweisend sein. "Die MLS bietet ein großartiges Distributionsmodell – alle Spiele einer Liga weltweit. Und ich gehe davon aus, dass Apple ähnliche globale Verträge prüft, während sie Case Studies erstellen, was für ihre Plattformen funktioniert", sagt dazu der internationale Sportmedienexperte Peter Hutton gegenüber OMR.
NFL-Rechte treiben Werbegeschäft
Genau wie Hutton rechnet auch Sascha Kojic "absolut damit", dass Apple nach dem MLS-Vertrag weitere Sportechte einkaufen wird. Der NFL-Rechtekauf von Netflix sei dagegen vorerst nicht mehr als eine "experimentelle Investition" ins Live-Sport-Segment. "Netflix will aus meiner Sicht vor allem zwei Dinge testen. Erstens: Kann Live-Sport die günstigste, werbegestützte Ebene des Streaming-Anbieters deutlich aufwerten? Zweitens: Kann man effektiv Werbung rund um Live-Sport machen?", sagt Kojic.
Die Werbevermarktung spielt seit ihrem Launch im Jahr 2023 für Netflix eine große Rolle, doch noch tut sich der Streaming-Anbieter hier derzeit etwas schwer. Immerhin wächst das werbefinanzierte Angebot vergleichsweise schnell – von 23 Millionen Nutzer*innen (nicht Abonnent*innen!) im Januar auf rund 40 Millionen im Mai 2024. In Summe zählt Netflix zum Abschluss des ersten Quartals 2024 knapp 270 Millionen Subscriber*innen. Davon kommen rund 82,7 Millionen aus den USA und Kanada. Die Disney-Tochter ESPN erreicht hier mittlerweile nur noch rund 74 Millionen Haushalte. Der bloße Vergleich sei allerdings "zu platt", findet Yannick Manuel Ramcke. "ESPN bringt eine sehr stark vorselektierte sportaffine Zielgruppe mit an den Tisch, die wiederum entscheidend ist, um die letztendliche Audience für Live-Sportprogramme zu generieren. Dagegen sind die durchschnittlichen Nutzer*innen bei Netflix deutlich weniger als Die-Hard-Sportfans einzustufen. Für eine Erweiterung beziehungsweise Diversifizierung der Audience sind sie aus Sicht der NFL aber umso attraktiver", sagt der Branchenexperte. Der größte Netflix-Kundenstamm sitzt übrigens mit 91,7 Millionen Subscriber*innen und einem Anteil von 34 Prozent in der Geschäftsregion EMEA.
Live-Sport-Inhalte, gerade von der NFL, könnten das Werbegeschäft für Netflix weiter ankurbeln. "Es gibt für eine Plattform wie Netflix aus Vermarktungssicht keinen besseren Content und kein besseres Timing, um die eigenen Inhalte auch verstärkt über Werbung zu monetarisieren, weiterzuentwickeln und zu testen, als mit NFL-Football an einem Feiertag wie Weihnachten", sagt Sportfive-Media-Chef Klingebiel. Das sieht auch Yannick Manuel Ramcke so. "Im Umfeld der NFL möchte in den USA jeder Werbetreibende stattfinden. Netflix wird dadurch mit gänzlich neuen Marken in Kontakt kommen und damit auch für einen gewissen Halo-Effekt innerhalb der Werbeindustrie sorgen, sodass sich aus den erstmaligen Buchungen perspektivisch auch Werbebudgets für den restlichen Programmmix ergeben könnten", sagt er.
Netflix wird bei den Spielen an Weihnachten natürlich zwar nicht ansatzweise die sieben Millionen US-Dollar verlangen können, die Marken für einen Spot beim Super Bowl berappen müssen. Doch Experten gehen davon aus, dass Netflix sechsstellige Beträge für unzählige 30-sekündige Spots aufrufen wird und damit in Summe signifikant achtstellige Erlöse einfahren dürfte. Der Kaufpreis von 75 Millionen US-Dollar pro Spiel erscheint in diesem Kontext vergleichsweise erschwinglich, Netflix hat bei dem Deal finanziell also nicht allzu viel zu verlieren. Der Kaufpreis entspricht in etwa dem, was Netflix für einen mittelgroßen Film ausgeben würde. Auch sind es rund 25 Millionen Dollar weniger als die 100 Millionen Dollar, die Amazon für das "Black Friday"-Spiel 2023 an die NFL gezahlt hat. Seinerzeit schalteten übrigens nur rund 9,6 Millionen Zuschauer*innen bei Prime ein. Bei den diesjährigen Netflix-Weihnachtsspielen zwischen den Kansas City Chiefs und den Pittsburgh Steelers sowie den Baltimore Ravens und den Houston Texans ist mit 20 bis 30 Millionen Zuschauer*innen zu rechnen.
"Die NFL-Rechte werden Netflix dabei helfen, die ohnehin schon niedrige Churn Rate von rund zwei Prozent weiter zu drücken, neue Abonnent*innen anzulocken sowie Werbekunden ein attraktives Inventar zu bieten, das indirekt auch das neue ad-supported Abo promotet", sagt Jochen Lösch zusammenfassend. Aller Wahrscheinlichkeit nach werde "Netflix den Deal alleine mit Werbeeinahmen refinanzieren können, sprich: ohne den Verkauf neuer Abos und ohne Churn-Reduzierung", glaubt er.
Peacock gewinnt mit einem NFL-Spiel fast drei Millionen Abos
Wie man als Streaming-Anbieter Neukunden mit NFL-Live-Rechten gewinnen kann, hat im Januar 2024 "Peacock" vorgemacht. Allein im Dreitageszeitfenster rund um die exklusive Übertragung des Wild-Card-Spiels zwischen den Miami Dolphins und den Kansas City Chiefs hat der Service von NBC Universal beziehungsweise Comcast 2,8 Millionen neue Abonnent*innen gewonnen. Das Spiel verfolgten bei Peacock im Durchschnitt rund 23 Millionen Zuschauer*innen. Peacock hatte für den Rechtekauf zuvor rund 100 Millionen US-Dollar in die Hand genommen.
"Netflix wird über die beiden NFL-Spiele definitiv neue Subscriber*innen gewinnen. Aber derart punktuelle Rechte haben keinen nachhaltigen Impact auf den Customer-Lifetime-Value, der zu einem großen Teil durch die Fähigkeit der langfristigen Kundenbindung determiniert wird. Jene Kundenbindung muss jedoch über andere Wege als Live-Sport erfolgen, da dieser zu diesem Zweck im Einkauf auch viel zu teuer und daher unökonomisch wäre", sagt Yannick Manuel Ramcke über einen "abnehmenden Grenznutzen" weiterer Rechteakquisitionen im großen Stil als treibende Kraft die Neukundenakquise. Netflix sei folglich womöglich für eine gesteigerte Retention besser beraten, "jegliches inkrementelles Budget anders zu investieren, als noch mehr NFL-Spiele zu kaufen".
Fazit
Im Hier und Jetzt hat Netflix dank der Wachstumsraten eigentlich keine Not, in Live-Sportrechte zu investieren. Für das erste Quartal 2024 weist das Unternehmen einen neuen Rekordumsatz von rund 9,37 Milliarden US-Dollar aus (+14,8 Prozent gegenüber Q1 2023). Im Geschäftsjahr 2023 setzte Netflix 33,7 Milliarden US-Dollar um (+6.3 Prozent gegenüber 2022). Will sagen: Netflix würde aus einer absoluten Position der Stärke investieren. Ein womöglich optimaler Zeitpunkt also, um die Mechanismen im Profisport inklusive des lukrativen Werbemarkts drumherum auszutesten.
Gleichzeitig ist Netflix genau wie Amazon Prime und Apple laut Yannick Manuel Ramcke "weder auf eine kritische Masse an Live-Sportinhalten angewiesen“ noch hänge „das Kerngeschäft anders als bei vielen traditionellen Lizenznehmern von einem erfolgreichen Erwerb von Sportrechten ab". Er sagt: "Im Sportrechtemarkt werden immer wieder neue Rechtekäufer kommen und gehen. Dass jetzt aber alles von Big-Tech-Firmen gekauft wird, sehe ich auf keinen Fall."
Tatsächlich geistert die Hypothese, dass etablierte Sportmedien abgeschrieben und nicht mehr nachhaltig sind, schon seit über zehn Jahren im Markt herum. "Und sie wurde schon sehr oft widerlegt", sagt Ramcke. Zumal die genannten neuen Player auch immer die für sich optimalen Deals verhandeln werden und hier an einem vergleichsweise langen Hebel sitzen. "Sowohl Netflix als auch alle Big-Tech-Unternehmen haben genug Alternativen zu richtig großen Live-Sport-Paketen. Die haben kein Problem damit, vom Verhandlungstisch aufzustehen", beschreibt Ramcke die für Sportorganisationen herausfordernde Gemengelage. In einem zunehmend gesättigten Markt seien punktuelle Sportrechtekäufe aber nichtsdestotrotz "zweifellos effektive Wachstumstreiber für Big-Tech-Firmen".
Schlussendlich würde der Weg zu weiteren Live-Sport-Rechten das bisherige Konzept von Netflix zumindest in Teilen umschreiben. Denn bis dato bestand das Erfolgsrezept des Streaming-Anbieters vor allem darin, exklusive "Originals" zu erstellen und folglich deren Eigentümer zu sein. Der zeitlich auf eine Vertragsperiode befristete Kauf von Live-Sportrechten würde je nach Paketierung zwar Exklusivität bringen, aber Netflix damit vom Eigentümer zum Mieter werden lassen. Ob sich Netflix darauf künftig wirklich in größerem Stil als bisher einlässt, wird Co-CEO Ted Sarandos in den kommenden Jahren vermutlich noch ein ums andere Mal öffentlich anzweifeln.