Netflix, Drama, „Social-Sportschau“: Mit diesem Playbook will der Ski-Weltverband die Gen Z erreichen
Content Creator und neue Channels sollen die Reichweite des Wintersports auf über eine Milliarde verdoppeln – mit Learnings von Netflix und Amazon
- Von Vierschanzentournee bis "Super Bowl des Ski"
- Was der Wintersport von Netflix lernen kann
- Neue Channels für Nischen-Communities
- Eigene "Social-Sportschau" für Nationalverbände
- Vom Sport-Content-Anbieter zum Geschichtenerzähler
- FIS will Reichweite auf eine Milliarde verdoppeln
- Red Bull und Prada bauen Schanze für Weltrekord im Skifliegen
Viele Wintersportprofis haben dasselbe Problem: Sie sind versteckt hinter Helmen und Skibrillen. Das führt dazu, dass sie in der breiten Masse weniger wahrgenommen werden. Der Ski-Weltverband FIS will das nun ändern und den Athlet*innen im Weltcup-Zirkus im wahrsten Sinne des Wortes ein Gesicht geben. Dafür baut der Dachverband eine zentrale Digitalplattform auf, die die Social-Media-Kanäle der Sportler*innen und Nationalverbände gleichermaßen mit Short- und Long-Form-Content füttern soll. OMR zeigt, wie Storytelling zum Erfolgsgaranten zwischen Snowboard-Halfpipe und Abfahrtspiste werden soll, welche Ski-Stars mit ihren Social-Media-Videos schon jetzt über 40 Millionen Views erzielen und welche Marken von Oakley bis Ovomaltine hier bereits mitmischen.
Von Vierschanzentournee bis "Super Bowl des Ski"
Audi, Red Bull, Viessmann und viele weitere Unternehmen investieren seit Jahren Millionen-Budgets in verschiedene Wintersport-Disziplinen von Ski Alpin bis Skispringen oder in Partnerschaften mit Athlet*innen. Auch Highlightevents wie die traditionsreiche Vierschanzentournee im Skispringen florieren. "Wir sind seit einigen Jahren so stabil in der Vermarktung der Tournee wie vielleicht noch nie", sagte zuletzt Michael Witta, Vice President Marketing Sales and Services von Infront, im kicker. Er spielte damit insbesondere auf die vier Hauptsponsoren der traditionsreichen Vierschanzentournee im Skispringen an, die zum Teil bereits über zehn Jahre an Bord sind: Bauhaus (seit 2012), Veltins (seit 2014), Hörmann und Liqui Moly (beide seit 2018).
Ein anderes alljährliches Vorzeige-Event sorgt weit über die Grenzen des Ski-Sports hinaus für Schlagzeilen: Das Hahnenkamm-Rennen gilt als das spektakulärste Ski-Rennen überhaupt. Und zwar auch hinter den Kulissen, denn an der "Streif" in Kitzbühel geben sich prominente Gäste von Arnold Schwarzenegger bis Bernie Ecclestone die Klinke. Die dafür verantwortliche Sportmarketingagentur WWP will das Rennen sukzessive zu einer Art "Mixed Zone für Meinungsführer aus renommierten Unternehmen ausbauen", wie es Philipp Radel aus dem WWP-Verwaltungsrat formuliert. Er sagt: "Das Rennwochenende hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten bereits zum B2B-Hub für Sport, Wirtschaft und Showbusiness entwickelt. Wir haben hier gewissermaßen einen 'Super Bowl des Ski' geschaffen. Künftig wollen wir das Event noch stärker als mehrtägige Business-Plattform mit Festival-Charakter denken."
Was der Wintersport von Netflix lernen kann
Doch es ist längst nicht alles Gold, was glänzt. Genau wie andere Sportarten steht auch der Wintersport im Kampf um Aufmerksamkeit vor vielen Fragen. Eine der drängendsten hat sich Benjamin Stoll in den vergangenen knapp 24 Monaten nicht nur einmal gestellt: Wie können wir im Wintersport für mehr Drama sorgen? Der Deutsche ist Director Digital and Innovation beim Ski-Weltverband FIS. Zuvor hatte er ähnliche Positionen im Fußball sowohl bei der FIFA als auch beim FC Bayern München inne. Er sagt: "Wir wünschen uns in anderen Sportarten immer alle, dass wir auch eine Netflix-Serie wie Drive to Survive bekommen. Das eigentliche Learning ist aber: Die Formel-1-Doku hat es geschafft, sämtliche Hintergrundgeschichten komplett zu dramatisieren. Und genau das ist das Rezept, das wir in der täglichen Praxis auch für den Wintersport brauchen. Dazu brauchen wir nicht zwingend eine Netflix-Doku."
Gemeinsam mit seinem Team will Stoll nicht weniger als "alle FIS-Wintersport-Disziplinen digitalisieren". Die FIS will er dafür zu einer Art "Mini-Mediahaus" formen und dafür die "Superpower einer zentralen Content-Plattform" nutzen, wie es Stoll formuliert. Die Betonung liegt dabei auf "zentral". Denn der Wintersport steht vor der Herausforderung, dass er gleich in mehrerlei Hinsicht fragmentiert ist. Zum einen wären da die dezentral organisierten Nationalverbände – wie etwa der Deutsche Skiverband (DSV) oder Ski Austria in Österreich – mit ihren jeweiligen Interessen und ihren individuellen medialen Verwertungsverträgen.
Neue Channels für Nischen-Communities
Zum anderen sind da gleich 13 verschiedene Disziplinen von traditionsreichen Sportarten wie Ski Alpin und Skispringen bis zu den "new Kids on the block" wie Freestyle. "Wir haben es im Wintersport mit sehr vielen Nischen-Communities zu tun", sagt Benjamin Stoll. Die könne man "nicht einfach alle gleich behandeln, sondern muss die kulturellen Unterschiede herausarbeiten". "Unsere neue Content-Strategie soll daher allen voran Mehrwerte für die verschiedenen Subkulturen liefern", sagt Stoll.
Für die Praxis heißt das beispielsweise, dass Stoll und sein Team zuletzt in den einzelnen Disziplinen in einem ersten Schritt die verschiedenen Social-Media-Channels auseinandergedröselt und neu aufgesetzt haben. Ein Beispiel dafür ist ein erst im Oktober gelaunchter neuer "Park and Pipe"-Channel auf Tiktok, der aus einem vorherigen Sammelbecken aus Speed-, Halfpipe- und Freestyle- Disziplinen hervorgegangen, das wiederum in viele kleinere Kanäle aufgesplittet wurde. Zwischenfazit: Zehn Tage nach Start kommt der "Park and Pipe"-Channel auf Tiktok auf über 400.000 Likes, einzelne Videos erzielen Millionenaufrufe. "Fast 60 Prozent der Nutzer*innen sind zwischen 18 und 24 Jahren alt und mehr als die Hälfte ist weiblich. Das ist eine gute Kostprobe dafür, was alles möglich ist", sagt Stoll. Die FIS will die Disziplinen Snowboard, Freestyle und Freeski mit diesem kulturellen Zuschnitt und entsprechendem Content in eine neue "social era" führen.
Eigene "Social-Sportschau" für Nationalverbände
Neben der Neujustierung der Vielzahl von Channels stehen Content-Kreation und -Distribution ganz oben auf der digitalen Agenda der FIS. Ziel ist es beispielsweise, dass künftig alle Athlet*innen des Wintersports zeitnah nach einem Weltcup-Event einen 45-sekündigen Highlight-Zusammenschnitt ihrer besten Sequenzen bekommen, um diese auf ihren Social-Media-Kanälen auszuspielen. Gleiches gilt für die Nationalverbände, denen die FIS pro Disziplin 60 Sekunden Bewegtbild ausschließlich von ihren Weltcup-Athlet*innen zur weiteren Verbreitung zur Verfügung stellen will. "Die Verbände können sich mit dem Material ihre eigene kleine Social-Sportschau zusammenstellen und darüber erzählen, an welchen Pisten, Loipen oder Halfpipes ihre Sportler*innen am Weltcup-Wochenende unterwegs waren", sagt Stoll.
Über eine Content-Exchange-Plattform will die FIS die Athlet*innen darüber hinaus in der Produktion weiterer inhaltlicher Formate unterstützen. Sie bekommen dort beispielsweise spielerische Aufgaben, für deren Beantwortung sie sich selbst filmen und den entsprechenden Content danach zurückschicken müssen. Der Dachverband übernimmt dann wiederum die Veredlung, sodass beide Seiten das fertige Snippet im Anschluss posten können.
"Wir sind selbstkritisch genug, um zu wissen, dass die FIS als Weltverband selbst keine Lovebrand ist. Unsere Strategie hat deshalb vielmehr das zentrale Ziel, die Athlet*innen in den Mittelpunkt zu stellen. Wir wollen ihre Geschichten erzählen und sie bestmöglich dabei unterstützen, dass sie ihren Communities und Fans werthaltigen Content bieten können", sagt Stoll. Das ziehe letztlich "Bekanntheit, Reichweite und Engagement aller Stakeholder des Wintersports nach oben" und sei damit das "Fundament für weiteres Vermarktungspotenzial".
Vom Sport-Content-Anbieter zum Geschichtenerzähler
Die oberste Investment-Priorität im Zuge der neuen Digitalstrategie der FIS liegt gemäß des Storytelling-Fokus' auf inhaltlich denkendem Personal. Pro Disziplin wird an jedem Weltcup-Wochenende ein Content Creator vor Ort sein. Diese werden in der Regel remote von einem Content Manager unterstützt, der Highlights cuttet, die jeweiligen Channels mit Inhalten bespielt und sich obendrein um das Community Management kümmert.
Auch die Art der Inhalte will Digitalchef Stoll mit seinem Team anpassen – Stichwort: Drama. "Wir werden vom reinen Sport-Content-Anbieter zum Geschichtenerzähler über die Menschen hinter den Athlet*innen. Das bedeutet für uns intern schon einen radikalen Kultur-Shift", sagt Stoll. Behind-the-scenes-Inhalte seien dabei unabdingbar, insbesondere "aufgrund der für die Fans nicht immer leichten Identifikation der Sporter*innen, deren Gesichter zumeist von Helmen und Skibrillen verdeckt" werden. "Wie soll ich als Wintersport-Interessierter eine emotionale Bindung zu einem Ski- oder Snowboardprofi aufbauen, wenn ich nicht einmal weiß, wie er oder sie aussieht?", fragt Stoll.
Bei der Umsetzung des neuen Storytelling-Ansatzes glauben Stoll und Team an ein Zusammenspiel von Short-Form- und Long-Form-Inhalten. Ein Beispiel dafür ist eine 17-teilige Reihe, die die FIS in diesem Jahr anlässlich ihres 100-jährigen Jubiläums veröffentlicht hat. Die Episoden sind jeweils zwischen vier und acht Minuten lang. Für deren Promotion wurden wiederum Mikro-Storys herausgeschnitten. Die FIS spielt dabei die komplette Klaviatur: Abseits von Owned Channels wie App und Website sind das Youtube, WhatsApp und Social Media mit einem Schwerpunkt auf Instagram und Tiktok. Auch Facebook spielt immer noch eine große Rolle. "Bei aller angestrebten Verjüngungskur interessieren sich für den Wintersport schon auch noch viele ältere Zielgruppen und Traditionalisten", sagt Stoll dazu. Die FIS bespiele Facebook zwar nicht dediziert, sondern nutze lediglich Synergien über Instagram. Dennoch berichtet Stoll von Wachstumsraten zwischen zehn und zwanzig Prozent auf Facebook über alle Disziplinen hinweg. In Sachen Engagement falle Facebook aber insbesondere im Vergleich zu Instagram und Tiktok deutlich ab.
FIS will Reichweite auf eine Milliarde verdoppeln
Über alle Kanäle hinweg erreicht die FIS mit ihren Disziplinen nach dem Ende der vergangenen Saison 2023/24 rund 2,5 Millionen Follower*innen – ein Plus von 37 Prozent im Vergleich zur Vorsaison. Der Großteil davon kommt aus China, wo der Weltverband auf den drei Kanälen Weibo, Douyin und Xiaohongshu („Red“) aktiv ist und hier in Summe auf knapp 700.000 Follower*innen kommt (+184 Prozent gegenüber 2022/23). Bei den Disziplinen ist global betrachtet Ski Alpin am beliebtesten, hier geht die Zahl der Follower*innen über alle Kanäle hinweg auf die Marke von einer Million zu, Instagram macht dabei mit bald 500.000 Follower*innen beinahe die Hälfte aus.
Die2023 gelaunchte Strategie scheint bereits erste Früchte zu tragen. Von der Saison 2022/23 zur Saison 2023/24 hat die FIS so gut wie alle Kennzahlen massiv gesteigert. Die Anzahl der Posts stieg um 71 Prozent auf 16.500, die Interaktionen um 45 Prozent auf 20 Millionen und die Reichweite um 76 Prozent auf über 500 Millionen. Laut Stoll geht da aber noch viel mehr: "Ich würde die Zahlen in der Saison 2024/25 gern verdoppeln", sagt der Digitalchef der FIS, sprich: auf über fünf Millionen Follower*innen und eine Reichweite von mindestens einer Milliarde. Ein erster Fingerzeig war der Saisonstart des Ski-Alpin-Weltcups in Sölden Ende Oktober. Im Rahmen des Season Openings generierte die FIS nach eigenen Angaben auf ihren Social-Media-Kanälen über 20 Millionen Views.
Red Bull und Prada bauen Schanze für Weltrekord im Skifliegen
Spätestens bei solchen Reichweiten wird es spannend für Sponsoren. Wobei: Zahlreiche Top-Marken haben das virale Potenzial der Wintersport-Stars ohnehin schon längst erkannt. Das lässt sich unter anderem an den Partnerschaften einer Top 90 der Ski-Influencer 2024 aufgestellt von Feedspot ablesen.
Fast schon Gesetz ist im Weltcup-Zirkus disziplinübergreifend, dass die coolsten, speziellsten, erfolgreichsten Charaktere der Szene von Red Bull gesponsert werden. Und der Brausehersteller aus Fuschl am See weiß wie kein Zweiter, wie man mit den Athlet*innen virale Geschichten erzählt. Dafür muss es nicht immer die Größenordnung Lindsey Vonn sein, die als Red-Bull-Testimonial zwar nicht mehr für das US-Ski-Team auf der Piste steht, aber im globalen Wintersport mit ihren 2,4 Millionen Follower*innen allein bei Instagram nach wie vor die wohl bekannteste Personenmarke ist.
In die Kategorie Storytelling mit Hidden Champions fällt derweil der spektakuläre Weltrekordflug des japanischen Skisprungstars Ryoyu Kobayashi auf 291 Meter. Eigens dafür hat sich Red Bull mit der Luxusmarke Prada zusammengetan und eine eigene Schanze auf Island erbaut. Während Koboyashi selbst bei Instagram lediglich rund 155.000 Follower*innen zählt, kommt das Video zum Rekordsprung im April 2024 allein hier auf über 40 Millionen Views.
40 Millionen Views? Damit kennt sich auch der Schweizer Freeskier Andri Ragettli aus, der mit seinen Follower-Zahlen bei Instagram (649.000) und Tiktok (1,9 Millionen) der erfolgreichste Wintersport-Athlet im deutschsprachigen Raum ist. Auf beiden Plattformen hat er bereits Videos veröffentlicht, die die Views des Kobayashi-Rekordflugs pulverisieren – sei es mit einer #StayAtHome-Challenge bei Tiktok oder dem riskanten Slide mit anschließenden Sturz von einer Brücke bei Instagram. Die spektakulären Tricks und körperlichen Einlagen nutzt unter anderem die Lebensmittelmarke Ovomaltine und erzielt über die entsprechenden Videos immer wieder siebenstellige Aufrufe. Bei Weltcup-Events werben derweil im Hintergrund globale Brands wie Toyota und Visa.
In ähnliche Größenordnungen wie Kobayashi und Ragettli stößt punktuell auch der populäre australische Snowboarder Scotty James vor, zum Beispiel als er sich bei einem Halfpipe-Trick filmen lässt. Das Video verzeichnet bei Instagram 36 Millionen Aufrufe – und James trägt dabei standesgemäß für einen Athleten seiner Natur den Red-Bull-Helm auf dem Kopf. Hinzu kommt eine Brille der Marke Oakley, bei der er sogar eine eigene Produkt-Linie hat. Bei Tiktok kommt James auf 450.000 Follower*innen. Seine Videos haben bereits über 30 Millionen Linkes eingesammelt, bei 16 Millionen Views in der Spitze.
Die beiden meistgefolgten, noch aktiven Stars des Wintersports auf Instagram sind derweil mit großem Abstand zwei Frauen. Die US-amerikanische Ski-Alpin-Spezialistin Mikaela Shiffrin kommt auf 1,4 Millionen und wird damit nur noch getoppt von der Chinesischen Freeskierin Eileen Gu, der auf der Plattform zwei Millionen Menschen folgen. Während Shiffrin für die italienische Pastamarke Barilla auf ihrem Ski-Helm wirbt, könnt ihr euch den Helm-Sponsor von Eileen Gu sicher schon denken. Oakley tragen natürlich beide.