Vtuber haben Millionen von Abonnenten und hohe Umsätze – aber eigentlich gibt es sie nicht

Halbvirtuelle Streamer verzeichnen auf Youtube bereits mehr als eine Milliarde Views – pro Monat!

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Mit Motion-Tracking-Software lässt sich Mimik und Gestik mittels Kamera auf einen Avatar übertragen (Quelle: Live3D auf Medium.com)
Inhalt
  1. „Voice Actresses“ verleihen den Vtubern ihre Stimme
  2. Kizuna AI wird zum ersten virtuellen Star
  3. Ein Avatar mit einer halben Milliarde Youtube-Views
  4. 16 der 20 meistabonnierten Vtuber-Kanäle gehören zu Hololive
  5. Mehr als eine Million US-Dollar Einnahmen an Chat-Trinkgeldern
  6. Anzüglichkeiten helfen der Reichweite, aber bremsen die Vermarktung
  7. Die Einstiegshürden sinken
  8. Die erste deutsche Vtuber-Agentur ist gestartet

Stell Dir vor, Du könntest Deiner liebsten Zeichentrickfigur live dabei zuschauen, wie sie singt, zockt oder sich mit anderen Charakteren unterhält – und noch dazu könntest du mit ihr chatten. Das ist die Idee hinter Vtubern: Comic-Avatare, in der Regel im japanischen Stil gezeichnet, die live im Netz streamen und dabei von echten Menschen synchronisiert werden. Dahinter steckt ein stark wachsendes Geschäft mit größeren Agenturen wie Hololive, Nijisanji und Vshojo. Manche der Figuren haben alleine per „Superchat“-Fanspenden bereits siebenstellige US-Dollar-Summen eingenommen. OMR taucht mit Euch tief in die Welt der Vtuber ein.

Der 22. November ist ein besonderer Tag für Takanashi Kiara: Ihr Youtube-Kanal ist erst seit dem 12. September aktiv und doch steht die Vtuberin kurz davor, eine halbe Million Abonnenten gewonnen zu haben. Sie streamt live und singt Karaoke, während ihre eingeblendete Subscriber-Zahl kontinuierlich ansteigt. Nach 13 Minuten hat sie mehr als 500.000 Abonnenten; doch Takanashi streamt noch knapp drei Stunden weiter. Währenddessen machen ihre Fans ihr in Youtubes „Superchat“ immer wieder Geldgeschenke – um durch besonders hervorgehobene Nachrichten die Aufmerksamkeit ihres Idols zu erhaschen. Am Ende des Tages soll Takanashi Kiara laut dem Youtube-Analytics Dienst Playboard via Superchat fast 10.000 US-Dollar eingenommen haben.

„Voice Actresses“ verleihen den Vtubern ihre Stimme

Takanashi Kiara ist eine fiktive Figur, ein Zeichentrick-Charakter mit eigener Geschichte. Wer dem jungen Comic-Mädchen die Stimme verleiht, ist unbekannt – lediglich, dass die Muttersprache der „Voice Actress“ (Stimmschauspielerin) deutsch ist. Ihre Fans spekulieren aufgrund ihres Akzents darüber, dass sie möglicherweise aus Österreich stammt. Hinter Takanashi Kiara steht die Vtuber-Agentur Hololive, betrieben von der Cover Corporation.

Die Entwicklung der View-Zahlen von Vtubern auf Youtube (Quelle: Youtube)

Hololive ist eine der treibenden Kräfte für die rasant steigende Popularität von Vtubern. Im Oktober 2020 sollen die monatlichen Abrufzahlen aller auf Youtube aktiven Vtuber erstmals mehr als eine Milliarde übersprungen haben, so Youtube. Innerhalb des diesjährigen „Trend & Culture Reports“ widmet das Youtube-Team dem Phänomen des Vtubings ein eigenes Video, dass eine gute Einführung in das Phänomen bietet.

Kizuna AI wird zum ersten virtuellen Star

Als erste soll die britische Vloggerin Ami Yamato im Jahr 2011 auf Youtube Videos als stilisierter Avatar hochgeladen haben. Yamatos Avatar erinnert eher an die Figuren aus Pixar-Filmen oder den Sims-Spielen. Der wirkliche Aufstieg des Vtubings begann erst im Jahr 2016 mit der japanischen Figur Kizuna AI (hier der Wikipedia-Eintrag über sie) – einer jungen Frau im japanischen Anime-Stil, die erklärt, selbst eine künstliche Intelligenz zu sein. Ihre Videos sind ähnlich denen anderer Youtuber; Kizuna kommuniziert mit ihren Fans auch auf anderen Social-Media-Plattformen – nur, dass es die Person, die in den Videos und Posts zu sehen ist, so in dieser Form gar nicht gibt.

Hinter Kizuna steht anfänglich das japanische Startup Activ8, das offenbar ein ganzes Produktions-Team für die Erstellung der Inhalte beschäftigt. Später lagert Activ8 das Geschäft rund um Kizuna in die hauseigene Agentur Upd8 aus. Die lässt seine Figur anfänglich von immer ein und derselben Schauspielerin synchronisieren, beginnt aber 2019 damit, Kizuna teilweise auch von anderen Schauspielerinnen synchronisieren zu lassen – offenbar zum einen, um sich nicht zu abhänging von einer „Voice Actress“ zu machen, zum anderen, um Kizuna auch andere Sprachen sprechen lassen und damit beispielsweise auch den chinesischen Markt besser bedienen zu können.

Ein Avatar mit einer halben Milliarde Youtube-Views

Dieser Schritt entzweit jedoch die Anhängerschaft; Upd8 und Nozomi Kasuga, die japanische Schauspielerin, die Kizuna ursprünglich synchronisiert hatte, trennen sich zwischenzeitlich offenbar im Streit. Heute soll Kasuga als Beraterin wieder mit an Bord sein bei dem Unternehmen, das Activ8 rund um Kizuna AI gegründet hat.

Mit insgesamt mehr als 500 Millionen Views und 4,4 Millionen Abonnenten über zwei Youtube-Kanäle sowie angeblich mehr als einer Million Abonnenten auf der chinesischen Streaming-Plattform Bilibili dürfte Kizuna AI immer noch die reichweitenstärkste einzelne Vtuberin sein. Activ8 hat in diesem April im Rahmen einer Series-C-Finanzierung Kapital von umgerechnet 9,3 Millionen US-Dollar eingesammelt, das vor allem für die globale Expansion verwendet werden soll.

16 der 20 meistabonnierten Vtuber-Kanäle gehören zu Hololive

Bislang haben nicht nur Activ8, sondern auch andere Vtuber-Agenturen, die im Fahrwasser von Kizuna AI entstanden sind, den internationalen Markt wenig bearbeitet. Die Streams finden zu großen Teilen zu Uhrzeiten statt, die sie für westliche Zuschauer wenig attraktiv machen. Nun wollen offenbar nicht nur Activ8, sondern auch andere japanische Unternehmen mit Vtubern weitere Märkte erobern. Das ist zum einen Ichikara, Betreiber des Netzwerks Nijisanji, das 2018 in Japan den Betrieb aufgenommen hat. Das ist seitdem auch in andere asiatische Märkte wie China, Indonesien, Korea und Indien expandiert.

(Quelle: virtual-youtuber.userlocal.jp)

Deutlich dominanter aber ist die Cover Corporation, Betreiberin des Vtuber-Netzwerks Hololive. Deren Gründer Motoaki Tanigo hat nach eigenen Angaben zuvor für Sanrio (der japanische Konzern, der u.a. hinter Hello Kitty steht) virtuelle Figuren entwickelt und Ende 2016 die Cover Corp gegründet. Heute gehören 16 der 20 reichweitenstärksten Vtuber-Kanäle auf Youtube zu dem Cover-Corp-Netzwerk Hololive.

Mehr als eine Million US-Dollar Einnahmen an Chat-Trinkgeldern

Noch deutlicher wird Cover Corps Dominanz im Vtuber-Biz, wenn man sich die „Superchat“-Einnahmen anschaut: Nach Schätzungen des Youtube-Analytics-Dienstes Playboard gehören von den zehn Kanälen, die über Superchat die meisten Trinkgelder eingesammelt haben, acht zu Hololive. Kiryu Coco, die in dieser Hinsicht erfolgreichste Vtuberin, soll bereits mehr als eine Million US-Dollar über Superchat eingesammelt haben. Mehreren übereinstimmenden Berichten zufolge erhält Youtube 30 Prozent von den Superchat-Einnahmen.

(Quelle: Playboard)

Auch die Cover Corporation hat vor wenigen Monaten Kapital für eine Internationalisierung eingesammelt, umgerechnet 6,6 Millionen US-Dollar. Im September startete Hololive English, eine erste Gruppe von fünf englischsprachigen Youtubern. Vor allem über die Social Community Reddit generierte Hololive English enorme Aufmerksamkeit. Weil die Hololive-Fans durch ihre starkes Engagement Posts über die englischsprachigen Vtuber immer wieder auf die extrem aufmerksamkeitsstarke Reddit-Startseite pushten, fragte sich dort ein Nutzer schon einmal verwundert, was da eigentlich gerade passiert.

Anzüglichkeiten helfen der Reichweite, aber bremsen die Vermarktung

Von den Streaming-Zeiten her scheint Hololive English bisher eher auf den US-amerikanischen Markt zu schielen. Dort trifft das Netzwerk auch auf Vshojo. Dahinter steht mit Justin Ignacio einer ganz frühen Twitch-Mitarbeiter. Vshojo hat zum Start die Vtuberin Projekt Melody unter Vertrag genommen, wie diese selbst auf Twitter bekannt gegeben hat. Die ist als virtuelles Camgirl auf der Seite Chaturbate und im Zuge dessen auch durch einen Artikel von Vice bekannt geworden.

Projekt Melodys Historie zeigt eine Problematik, die zumindest aus unternehmerischer Sicht für das Vtuber-Geschäft gilt: Für viele Marken dürfte das Umfeld nicht immer „brandsafe“ sein. Ein im Netz kursierender Zusammenschnitt von Hololive-Ausschnitten zeigt, dass die Anonymität der „Voice Actresses“ womöglich für manche Zuschauer auch einen gewissen Reiz ausmacht, weil diese sich dadurch vollkommen ungezwungen geben, im Stream rülpsen und über Körperausscheidungen sprechen. Daneben gibt es auch immer wieder teilweise wenig subtile sexuelle Anspielungen – der Schritt von Anime zu Hentai scheint nie sehr weit zu sein.

Die Einstiegshürden sinken

Trotzdem konnten bereits diverse Vtuber namhafte Werbepartnerschaften abschließen, Kizuna AI beispielsweise mit Softbank anlässlich der Präsentation eines neuen iPhone-Modells sowie mit dem Lebensmittelkonzern Nissin. Daneben verdienen die Vtuber und die sie unterstützenden Netzwerke Geld mit Kanal-Mitgliedschaften. Ähnlich wie bei Twitch können Fans auf Youtube Mitgliedschaften abschließen, um die Streamer zu unterstützen. Sie erhalten im Gegenzug Zugriff auf exklusiven Content. Hinzu kommen die Superchat-Einnahmen.

War früher deutlich teurere „Motion Tracking“-Technologie notwendig, um einen Avatar zum Leben zu wecken, sind die Kosten dafür im Verlauf der vergangenen Jahre stark gesunken – und damit auch die Einstiegshürden ins Vtubing. Einfache Streams, bei denen nur der Kopf zu sehen ist, sind bereits mit extra dafür angebotenen Smartphone-Apps umsetzbar – einige davon sind aber nur im japanischen App Store verfügbar. In Deutschland verfügbar ist die App Vtube Studio, hinter der offenbar ein SAP-Ingenieur steckt.

Die erste deutsche Vtuber-Agentur ist gestartet

Vtube Studio ist nicht das einzige Beispiele für eine erste, aufkommende Vtuber-Kultur in Deutschland: Mit VRIdol gibt es ebenfalls ein erste deutsche Vtuber-Agentur. Dahinter stecken jedoch drei Fans Anfang, Mitte 20 ohne unternehmerischen Anspruch, wie Gründer Denny Bogdan gegenüber OMR erklärte.

Danke an Christoph Janke von Pendect für den Hinweis auf das Thema!

VtuberYoutube
Roland Eisenbrand
Autor*In
Roland Eisenbrand

Roland ist seit mehr als zehn Jahren als Journalist in der Digitalbranche aktiv. Seit 2014 verantwortet er als Head of Content (und zweiter Mitarbeiter) alle inhaltlichen Komponenten von OMR, darunter vor allem den OMR Blog und redaktionelle Arbeit rund um das OMR Festival.

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