So sammelt eine Schrauberbude aus dem Sauerland mit Kurzvideos Millionenreichweiten ein

1. Siebenstellige Abrufzahlen mit nur einem Video
2. Größere Reichweiten als so manche Auto-Show im TV
3. Polarisierung sorgt für Engagement sorgt für Views
4. Von der Industriekauffrau zur Werkstatt-Chefin
5. "Wer schaut sich das an? Das nervt ja nur"
6. Fünf Stunden Aufwand pro Woche
7. Koch-Inspiration statt Reichweiten-Monitorung

2018 übernimmt Nina Müsse die Geschäfsführung im Betrieb ihres Großvaters im sauerländischen Menden: einen angeschlagenen Autoteile-Handel mit angeschlossener Werkstatt. Um das Geschäft anzukurbeln, fängt die junge Geschäftsfrau 2023 damit an, Kurzvideos auf Social Media zu veröffentlichen. Ihr Glück: Ihr KFZ-Meister Marco Santos hat starke Meinungen und scheut sich nicht, diese in den Videos zu erläutern. Hier erklärt Geschäftsführerin Nina Müsse, wie die kleine Werkstatt die Videos produziert – und was sie dem Unternehmen gebracht haben.

"Jetzt mach ich mir richtig viele Freunde", lautet Marco Santos' erste Antwort auf die im Off gestellte Frage, ob die Start-Stop-Automatik bei Autos schlecht für deren Motor sei. Sein verschmitztes Schmunzeln deutet schon an, dass diese Aussage nicht ganz ernst gemeint gewesen sein könnte. "Ist totaler Scheiß. Es ist wirklich eine totale Katastrophe", fährt er fort. Bei gleich mehreren Komponenten des Motors würde diese Funktion den Verschleiß enorm beschleunigen, so Santos sinngemäß. Sein finales Fazit: "Ja, Start-Stop schadet dem Motor. Ich sehe da keinen Mehrwert an Ersparnis durch dieses System."

Siebenstellige Abrufzahlen mit nur einem Video

Santos' klare Meinung schlägt auf den digitalen Plattformen Wellen: Instagram weist für das vor rund zwei Wochen hochgeladene Video 2,4 Millionen Abrufe aus, Facebook 1,4 Millionen, Tiktok 1,2 Millionen und Youtube 541.000 Views. Beachtliche Zahlen – auch, weil sie nicht von einem Profi-Influencer oder einem Unternehmen mit großem Marketingbudget kommen, sondern von einem Zehn-Personen-Betrieb: KFZ-Teile Brinkmann aus Menden. Dort ist Santos seit 1997 tätig , 2003 hat er seinen Meister gemacht.

Seit dem vergangenen Jahr ist Santos nun auch so etwas wie das offizielle Gesicht von KFZ-Teile Brinkmann. Denn im Herbst 2023 hat Geschäftsführerin Nina Müsse ihren Werkstattmeister davon überzeugt, für Videos auf Instagram, Facebook und Tiktok regelmäßig vor der Kamera etwas über typische Werkstatt-Themen zu erzählen. Die reichen dann vom Unterschied zwischen Winter-, Sommer- und Allwetterreifen über Verfallsdaten von Trennscheiben bis hin zu unangenehm riechenden Klimaanlagen.

Größere Reichweiten als so manche Auto-Show im TV

Damit hat das Unternehmen auf den unterschiedlichen Plattformen zwischen 11.700 (Youtube) und 52.800 (Instagram) Abonnent*innen eingesammelt. Erstaunlicherweise liegt die eigentliche Reichweite der Accounts jedoch zumindest zeitweise noch deutlich höher. Screenshots, die Nina Müsse mit OMR geteilt hat, zeigen, dass KFZ-Teile Brinkmann sowohl auf Instagram als auch auf Tiktok und Youtube innerhalb der zurückliegenden 28 Tagen jeweils mehr als eine Million Menschen erreicht hat – auf Tiktok sogar 3,5 Millionen Menschen.

Die aktuellen Tiktok-Statistiken von KFZ-Teile Brinkmann

Diese Daten passen auch zu den durchschnittlichen Aufrufzahlen der Brinkmann-Clips auf den Plattformen. Müsse und Santos veröffentlichen meist mehrere Kurzvideos pro Woche, die in der Regel auf fünfstellige Abrufzahlen kommen. Einige liegen aber auch im sechsstelligen, ein paar wenige große "Hits" sogar im niedrig siebenstelligen Bereich. Und das alles, ohne die Videos mit Mediaspend zu pushen, wie Nina Müsse gegenüber OMR geklärt.

Polarisierung sorgt für Engagement sorgt für Views

Was ist der Grund für diesen Erfolg? Meister Santos greift typische Fragen von Autobesitzer*innen auf, aber auch sich hartnäckig haltende Mythen. In der Schrauber- und Bastlerszene haben offensichtlich viele zu jedem Thema eine eigene Meinung und tun diese gerne kund. Und wenn der KFZ-Meister dann im Clip selbst noch sehr meinungsstark auftritt, explodiert das Engagement – was dafür sorgt, dass die Plattformen die Videos noch häufiger ausspielen.

Wenn Marco Santos darüber spricht, dass Mercedes-Benz eine Öl-Ablass-Schraube aus Metall, die drei Euro kostet, durch eine aus Kunstoff ersetzt hat, die nur einmal verwendbar ist und 22 Euro kostet ("Da kam jemand bei Mercedes auf die Idee, BWL zu studieren"), oder darüber, dass ein Fahrlehrer seinem Azubi fälschlicherweise empfohlen hat, an der Ampel die Kupplung durchgetreten zu lassen, dann können diese Videos siebenstellige Abrufzahlen ansammeln.

Von der Industriekauffrau zur Werkstatt-Chefin

Nina Müsse

"Bei polarisierenden Themen weiß ich schon vorher, dass da die Views durch die Decke gehen, weil die Leute sich in den Kommentaren streiten", sagt Nina Müsse im Gespräch mit OMR. Die heute 27-Jährige hat das Familienunternehmen im Jahr 2018 übernommen. Geplant war das eigentlich nicht, auch wenn sie schon im Alter von 15 Jahren zeitweise die Buchhaltung übernommen hatte.

Nach der Schule machte Müsse dann in einem anderen Unternehmen eine Ausbildung zur Industriekauffrau. Als sich ihr Vater aus gesundheitlichen Gründen aus dem Unternehmen zurückzog, kehrte ihr Großvater ins Geschäft zurück. Der habe dann zu ihr gesagt: "Schau Dir das doch einmal an." Weil sie selbst in ihrem damaligen Job damals nicht glücklich gewesen sei, sei sie dann "irgendwie da reingerutscht".

"Wer schaut sich das an? Das nervt ja nur"

Damals sei es dem Unternehmen nicht so gut gegangen, so die heutige Geschäftsführerin. Im Jahr 2020 wird KFZ-Teile Brinkmann dann auf Instagram und Tiktok aktiv (Youtube kommt später hinzu) – "um sichtbarer zu werden und mehr Aufträge zu generieren", sagt Müsse. Eine Zeit lang informiert das Unternehmen die Kunden dort mit Beiträgen im Infografik-Stil über die Notwendigkeit von Ölwechseln und postet Sonderangebote. "Dann habe ich gesagt: 'Ganz ehrlich, wer schaut sich das an und folgt dann unserem Account? Das nervt ja nur'", so Müsse.

So kommt sie auf die Idee, Marco Santos für die Videos einzuspannen. Einer der ersten Clips, in dem der KFZ-Meister erklärt, wie man eine knackende Autotür innerhalb von Sekunden reparieren kann, bekommt dann auf Tiktok innerhalb kurzer Zeit mehr als eine Million Views. "Von da an sind wir am Ball geblieben."

Fünf Stunden Aufwand pro Woche

Um die Videos kümmert sich die Geschäftsführerin nach wie vor selbst. "Das kostet mich in der Woche ein bis zwei Stunden für die Aufnahme und rund drei Stunden fürs Schneiden und die Untertitelung." Bis vor Kurzem hat sie noch mit dem Handy aufgenommen; zum Schneiden nutzt sie die App Capcut, die von der Tiktok-Mutter Bytedance angeboten wird. Nun hat sie immerhin eine eigenen Kamera und Mikrofone angeschafft.

Die dürften sich schnell amortisieren, denn durch die hohe Sichtbarkeit der Videos würden zum einen Bestandskunden daran denken, Reparaturen, Reifen- oder Ölwechsel vornehmen zu lassen. Zum anderen führen die Videos auch komplett neue Kunden in die Werkstatt. "Wir hatten schon mal jemanden, der extra eine zweistündige Anfahrt auf sich genommen hat", so Müsse. Und, auch wenn das anfangs gar nicht das Ziel war, machen die Clips KFZ-Teile Brinkmann als Arbeitgeber attraktiver, was in Zeiten von Fachkräftemangel äußerst wertvoll ist. "Wir bekommen jetzt auch Initiativbewerbungen", so Müsse.

Koch-Inspiration statt Reichweiten-Monitorung

Marco Santos lasse sich unterdessen von dem Trubel kaum beeindrucken, wie die junge Geschäftsführerin berichtet. Mit Instagram und Tiktok habe der Mechaniker persönlich gar nichts am Hut. "Ab und zu schaut er sich mal die Zahlen unseres Kanals auf Youtube an. Aber eigentlich interessiert er sich viel mehr für die Kochrezepte dort."