Millionen von Views mit Business-Clips? – Das steckt hinter Linkedins neuem Video-Feed
Wir haben Reichweiten, Erfolgsrezepte und Hintergründe recherchiert
- "Videos sind das schnellstwachsende Format"
- Wo Linkedin überall Videos ausspielt
- Millionenreichweiten sind kein Einzelfall
- Was gut funktioniert und was nicht
- tl;dv: 20 Millionen Impressions mit Linkedin-Videos
- Der vielleicht größte Vorteil von Linkedin Videos
- Linkedins eigentliches Ziel: höhere Werbeumsätze?
- Wiederholt sich der "Pivot to video" aus 2015?
- Wollen die Linkedin-Nutzer*innen wirklich mehr Videos?
Videos sind auf Linkedin gerade das Thema der Stunde. Die Plattform pusht das Thema enorm, u.a. mit einem eigenen Video-Feed. Warum geht die Plattform hier so in die Offensive? Und welche Abrufzahlen können Einzelpersonen und Unternehmen erzielen, die früh auf den Trend aufsatteln? OMR hat sich im Markt umgehört, zeigt Screenshots mit Reichweitenzahlen und ordnet die aktuelle Entwicklung ein.
"Worin unterscheidet sich eigentlich die amerikanische von der deutschen Mitarbeiterführung", fragt Emma-Isadora Hagen in die Kamera, während im Hintergrund eine New Yorker Straßenszenerie zu sehen ist. Innerhalb von 56 Sekunden gibt die 32-jährige Keynote-Speakerin dann einige Antworten auf diese Frage. Auf Linkedin hat das Video, das auf einem Focus-Artikel aus dem Jahr 2015 basiert, bislang mehr als 1.700 Reaktionen und 231 Kommentare eingesammelt; 45 Mal ist es von anderen Linkedin-Mitgliedern geteilt worden.
"Videos sind das schnellstwachsende Format"
Mindestens ebenso beachtlich wie das Engagement ist die Reichweite: Wie Screenshots zeigen, die die Business-Influencerin mit OMR geteilt hat, weist Linkedin in Hagens Profil-Backend für das Video 4,6 Millionen Impressions, 1,9 Millionen erreichte Mitglieder und 750.000 Abrufe aus (Linkedin zählt nach zwei Sekunden einen Abruf). Auch andere Videos der 32-Jährigen haben Impressions im sieben- und hoch sechsstelligen Bereich angesammelt.
Ein Einblick in die Metriken der Videos von Emma-Isadora Hagen (Screenshots)
Der Erfolg von Hagens Videos ist kein Einzelfall; Bewegtbild auf Linkedin boomt. "Video ist das schnellstwachsende Format auf Linkedin", vermeldete die Plattform bereits im Juli; der Upload von Videos soll im Vergleich zum Vorjahr um 34 Prozent zugenommen haben. Wie eine Unternehmenssprecherin gegenüber OMR erklärt, generierten Videoinhalte auf der Plattform durchschnittlich bis zu 40 Prozent mehr Engagement als textbasierte Posts.
Wo Linkedin überall Videos ausspielt
Bleibt die Henne-Ei-Frage: Steigen die Uploads und das Engagement, weil Linkedin-Nutzer*innen Videos so toll finden – oder ist die Ursache dafür vielmehr, dass Linkedin das Thema pusht und Videos in den zurückliegenden Monaten viel mehr Sichtbarkeit gegeben hat? Klar ist: Seit einigen Monaten rollt die Plattform einen dezidierten Video-Feed aus; im regulären Feed wird – wohl um die Nutzer*innen noch häufiger zum Abruf von Videos zu animieren – ein "Video-Karussell" ausgespielt, wie es schon von anderen Plattformen bekannt ist. Sowohl Feed als auch Karussell werden bislang nur in der Mobile-App von Linkedin ausgespielt.
Die drei Orte, an denen Linkedin in der App aktuell Videos ausspielt: Im Video-Feed (links), im regulären Feed als einzelnes Video (Mitte) sowie als Karussell (rechts)
Wischt man sich auf Linkedin durch die neu entsprungene Flut an bewegten Bildern, fallen einige Dinge auf: Ausgespielt werden nahezu ausschließlich Videos von Personen-Accounts; von Unternehmen hochgeladene Clips hingegen sind fast nie zu sehen. Die meisten der Clips zeigen "talking heads", also die jeweilige Person, mit von vorne gefilmten Gesicht. Natürlich weisen bei Weitem nicht alle Videos Zahlen wie jene von Emma-Isadora Hagen auf; die durchschnittliche Zahl der Reaktionen dürfte im zwei-, die der Kommentare im einstelligen Bereich liegen. Und doch gibt es einige "Linkedin Creator", die mit ihren Videos regelmäßig überdurchschnittliches Engagement generieren – und im Zuge dessen auch beachtliche Reichweiten.
Millionenreichweiten sind kein Einzelfall
Nicht nur Hagen ist dafür ein Beispiel. Florian Hübner, der die Agentur Startup Creator führt und sich auf Linkedin auch "Mr. Tech" nennt, veröffentlicht nahezu täglich Videos zu Themen rund um Künstliche Intelligenz. "Die Videos haben bei meinen Impressionen einen unfassbar großen Sprung gemacht und gehen seitdem in die Millionen", so Hübner gegenüber OMR. Ein Screenshot der Zahlen seines nach eigenen Angaben reichweitenstärksten Videos zeigt über 900.000 Impressionen an. Auch Caroline von Kretschmann, Geschäftsführende Gesellschafterin des Heidelberger Fünf-Sterne-Hotels Europäischer Hof, verzeichnet mit ihren Videos enormes Engagement; eines ihrer jüngsten Videos hat laut einem an OMR übermittelten Screenshot mehr als 137.000 Impressions eingesammelt.
Die Beispiele sowie die jüngsten Äußerungen von Linkeden legen die Vermutung nahe, dass die Chance auf Linkedin "viral zu gehen", mit Videos derzeit vergleichsweise höher ist als mit anderen Beiträgen. Was also sollten all jene beachten, die auf der Linkedin-Video-Welle mitreiten wollen?
Was gut funktioniert und was nicht
Die Antworten der von OMR befragten Creator auf diese Frage klingen teilweise recht ähnliche wie jene Empfehlungen, die zu Tiktok und Instagram Reels zu lesen sind – etwa, dass die ersten Sekunden des Videos sehr wichtig sind. "Die Videos müssen persönlich sein und eine ganz starke Hook, also einen guten ersten Satz haben", sagt beispielsweise Florian Hübner. "Am Anfang muss man ein großes Versprechen abgeben und dann nach hinten raus aber auch crazy abliefern!"
Das sind die Empfehlungen der Linkedin-Redaktion für die Produktion von Videos (Quelle)
"Was man nicht machen sollte, ist platte Werbung", empfiehlt Caroline von Kretschmann. "Aber Humor kommt immer gut." Was bei ihr auch gut funktioniere, seien Serien, so die Hotel-Geschäftsführerin, die mit ihren Social-Media-Aktivitäten nur in zweiter Linie Gäste gewinnen und in erster Linie ihr Hotel als attraktiven Arbeitgeber positionieren will. In ihrem "Hotel Wiki"-Videos, erklärt sie die Grundzüge und Besonderheiten des Hotelwesens und gibt Tipps für Reisende.
tl;dv: 20 Millionen Impressions mit Linkedin-Videos
Eines der offenbar wenigen Unternehmen, denen es schon gelingt, mit Videos auf Linkedin relevante Reichweite zu generieren, ist das Aachener Startup tl;dv (steht für "too long, didn't view"), dass einen KI-gestützte Meeting-Assistenz-Software anbietet. "Wir kriegen durch den Video-Boom auf Linkedin gerade 20 Millionen Impressions im Monat auf der Plattform", so Mitgründer Raphael Allstadt gegenüber OMR.
Die Impressions von tl;dv sind auf Linkedin zuletzt stark gewachsen – vor allem dank Videos
Das Unternehmen habe bereits 2021 zwei Content Creator angestellt, die Videos produzieren, die bei Tiktok und Instagram teilweise ein- bis zweistellige Millionenabrufe verzeichnen. Einen Weg, den der Startup-Gründer empfiehlt: "Ich glaube, man sollte keinen Steuerberater Content für eine Steuerberatungsfirma produzieren lassen, sondern immer Content-Profis hinzuziehen."
Inhaltlich funktionieren viele der tl;dv-Videos über Humor: Sie greifen augenzwinkernd Klischees auf (wie typische Floskeln von CEOs in Linkedin Posts) oder spielen verschiedene Abteilungen von Unternehmen gegeneinander aus. Das mit knapp 730.000 Views am häufigsten abgerufene Video dreht sich beispielsweise darum, wie Programmierer, Produktentwickler und CEO oftmals nicht an einem gemeinsamen Strang ziehen.
Der vielleicht größte Vorteil von Linkedin Videos
Die Engagement Rate von Videos auf Linkedin sei im Vergleich zu anderen Beitragsarten auf Linkedin zwar niedriger, so der übereinstimmende Tenor der von OMR befragten Creator. Aber: "Du wirst durch den Video Content für mehr Personen sichtbar, vor allem für Personen, die dich noch nicht kennen", sagt Emma-Isadora Hagen. "Diese Sichtbarkeit führt beispielsweise auch zu mehr Profilbesucher*innen." Florian Hübner berichtet, dass sich, nachdem er die Frequenz seiner Videos erhöht habe, auch sein Follower-Wachstum beschleunigt habe – "allerdings nicht im Verhältnis stehend zu den Impressionen".
Aktuell können Einzelpersonen und Unternehmen also, wenn sie es geschickt anstellen, auf jeden Fall in Form von mehr Reichweite von Linkedins Video-Offensive profitieren. Langfristig muss das nicht so bleiben. Es wäre nicht das erste Mal, dass Linkedin ein gerade angesagtes Feature testet und es dann wieder herabstuft. Im Jahr 2020 hat die Plattform beispielsweise das durch Snapchat und Instagram bekannt gewordene Story-Format eingeführt. Nicht einmal anderthalb Jahre später wurde es wieder eingestellt. Und Anfang 2022 hat Linkedin unter dem Namen "Audio Events" ein an Clubhouse erinnerndes Format eingeführt. Das gibt es immer noch auf der Plattform, wird aber von keinem Linkedin Guru mehr als expliziter Wachstumshebel aufgeführt.
Linkedins eigentliches Ziel: höhere Werbeumsätze?
Warum nun pusht Linkedin aktuell nun das Thema Kurz-Video? Sicherlich hängt der Schritt auch mit dem großen Erfolg von Tiktok und Instagram Reels zusammen. Gleichzeitig drängt sich die Vermutung, dass Linkedin hofft, mit der Video-Offensive die eigenen Werbeeinnahmen steigern zu können.
Wie viel lukrativer Videowerbung für Linkedin sein kann, zeigt der Heimatmarkt USA. Dort ist die Plattform im Rahmen des Programms "The Wire" eine Partnerschaft mit mehreren namhaften Wirtschaftsmedien wie Bloomberg, dem Wall Street Journal und Reuters eingegangen. Der Deal: Die Medien produzieren Videos für Linkedin und laden sie auf der Plattform hoch; Linkedin vermarktet diese mittels Pre-Roll-Ads.
Laut Digiday soll der Tausender-Kontakt-Preis (TKP) der Video-Werbung im Alphatest fix bei 50 US-Dollar gelegen haben. Das wäre deutlich mehr als die 20 bis 30 US-Dollar TKP, die für andere Werbeformen auf Linkedin im Durchschnitt anfallen. Zwar gibt Linkedin laut Digiday die Hälfte der mit "The Wire" generierten Werbeeinnahmen an die Partnermedien ab. Sollte es Linkedin aber gelingen, eine breite Masse an Business Creatorn hervorzubringen, die ihren Content auf der Plattform ohne Beteiligung an den Werbeeinnahmen hochladen, oder sich mit einem "Creator Fund" zufrieden geben, wie es ihn bei Tiktok und Youtube gibt, könnte sich die Video-Offensive zum wirkungsvollen Umsatztreiber entwickeln.
Wiederholt sich der "Pivot to video" aus 2015?
Wer die US-Tech- und -Medienwelt schon länger beobachtet, fühlt sich bei der aktuellen Entwicklung von Linkedin vielleicht an die berühmt-berüchtigte "Pivot to video"-Phase ("Umorientierung hin zu Video") ab dem Jahr 2015 erinnert (die sogar über einen eigenen Wikipedia-Eintrag verfügt). Damals hatte Facebook öffentlich einen "Shift to video" verkündet und diesen mit verändertem Nutzungsverhalten begründet: auf Facebook würden immer mehr Videos hochgeladen und konsumiert werden. Viele Publisher reagierten darauf mit dem Ausbau ihrer Video-Produktion.
Branchenbeobachter kommentierten schon damals, dass Facebooks verstärkter Fokus auf Video jedoch weniger von veränderten User-Verhalten, sondern mehr vom Wunsch nach höheren Werbeeinnahmen motiviert gewesen sein dürfte. Das Problem: Bei den Nutzer*innen war die Video-Werbung auf Facebook offenbar nicht so beliebt wie erhofft. Schon im September 2016 musste Facebook einräumen, gegenüber Werbetreibenden die Abrufdauer ihrer Video-Werbespots um ein Vielfaches höher ausgewiesen zu haben als sie eigentlich war.
Zu den Folgen gehörte nicht nur eine millionenschwere Sammelklage von Werbekunden. Weil Publisher dem Ruf Facebooks folgend verstärkt Ressourcen in Video investiert hatten, die sich dann als nicht gerechtfertigt erwiesen, folgten auch bei einigen von ihnen schmerzhafte personelle Einschnitte.
Wollen die Linkedin-Nutzer*innen wirklich mehr Videos?
Darüber, ob die Geschichte im Fall von Linkedin anders verlaufen wird, werden nicht zuletzt die Linkedin-User und ihr Verhalten auf der Plattform entscheiden: Schauen sie wirklich vermehrt Videos und werden sie in diesem Umfeld Werbespots in relevanter Länger akzeptieren? Eine nicht repräsentative Umfrage von OMR auf der Plattform selbst zeigt jedenfalls, dass das Interesse am Video-Feed bislang auf Nutzer*innen-Seite noch nicht allzu groß ist. Nur 15 Prozent der 944 Umfrageteilnehmer*innen sind an dem Feed interessiert. Bei 58 Prozent der Teilnehmenden ist der neue Video-Feed schon ausgerollt, aber nur 7 Prozent davon nutzen diesen auch wirklich.