Tom Hillenbrand: "Das ist 'Mad Max' mit UPS-Fahrern"

Science-Fiction-Autor Tom Hillenbrand über seinen neuen Roman "Lieferdienst", "militärisches Marketing" und die Zukunft des Amazon-Kapitalimus

Inhalt
  1. "Ich habe mir gedacht: Was wäre denn, wenn Lieferdienste sich tatsächlich gegenseitig bekriegen würden?"
  2. "Letztlich interessiert mich nicht die Technologie, sondern was diese Technologie mit den Leuten macht"
  3. "Mein ganzes Klo steht voll mit Kisten, die alle wieder zurückgehen. Das ist ja eigentlich krank"
  4. "Für Leute, die Probleme mit Impulskäufen haben, wird es echt schwierig"

Der Deutsche Autor Tom Hillenbrand hat ein Faible, aktuelle Themen zu irren Science-Fiction-Plots weiterzuspinnen. Er hat Bestseller zu Themen wie Drohnen und Überwachungstechnologie ("Drohnenland") oder Klimawandel und Selfie-Kultur ("Hologrammatica") verfasst. In seinem neuen Roman "Lieferdienst" knöpft er sich den Delivery-Kapitalismus der Gegenwart vor und entwickelt daraus eine dystopische Konsumwelt der Zukunft. 

In "Lieferdienst" konkurriert eine Handvoll global aktiver Lieferdienste darum, Bestellungen von Kund*innen möglichst schnell in 3D-Druckern zu erzeugen und zuzustellen. Wobei nicht immer ganz fair gespielt wird. Der Held des Romans heiß Arkadi, ein junger Lieferbote, der auf seinem Hoverboard durch eine neu aufgebaute Plattenbau-Version von Berlin rast und einer neuartigen Technologie auf die Spur kommt, wodurch er selbst zum Ziel im potenziell tödlichen Wettkampf der Lieferdienste wird.

OMR hat mit dem Autor Tom Hillenbrand darüber gesprochen, was ihn daran gereizt hat, das an sich eher spröde Thema Logistik ins Zentrum eines Science-Fiction-Romans zu stellen, was es mit "militärischem Marketing" auf sich hat und wie er auf die Zukunft des Lieferkapitalismus der wirklichen Welt blickt.

"Ich habe mir gedacht: Was wäre denn, wenn Lieferdienste sich tatsächlich gegenseitig bekriegen würden?"

OMR: Tom, wie bist du auf das Thema Lieferdienste gekommen?

Tom Hillenbrand: Während der Pandemie hat man das erste Mal erlebt, was für ein gigantisches Netzwerk von Leuten es gibt, die uns unseren Stuff bringen, die wir aber gar nicht wahrnehmen. Das fand ich wahnsinnig interessant. Wir leben jetzt – auch wenn keine Pandemie ist – in einer Ökonomie, wo man für keinen Einkauf mehr irgendwo hingehen muss. Alles fließt in mein Wohnzimmer, wenn ich das möchte. Das einzige, was noch fehlt, ist, dass jemand reinkommt und mir meine Bestellung in die Hand drückt, damit ich nicht mal mehr aus meinem Sessel aufstehen muss. 

Und wie wurde daraus ein Plot für einen Science-Fiction-Roman?

Ich habe eine Geschichte aus China gesehen. Da gibt es im wesentlichen nur noch zwei große Food-Lieferdienste und die battlen sich. Sie haben Hunderttausende Fahrer, die alle gleiche Uniformen tragen und die gleichen E-Bikes fahren. Es gibt Fotos, wo alle in Reih und Glied stehen. Das sieht aus wie eine Armee-Parade. Und da hab ich mir gedacht: Was wäre denn, wenn diese Lieferdienste sich tatsächlich gegenseitig bekriegen würden. Diese Idee hat mich sehr fasziniert. 

Aber macht es Sinn, dass Kurierfahrer in tödliche Konkurrenz treten?

Gegenfrage: Macht es bei "Mad Max" Sinn, dass die Leute sich gegenseitig erschießen für einen Kanister Benzin, um in ihren Autos rumzufahren? Das ist ja das tolle an Science Fiction: Es ist immer ein bisschen metaphorisch. Im Prinzip ist mein Roman "Mad Max" mit UPS-Fahrern geworden.

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Tom Hillenbrands neuer Roman "Lieferdienst" ist erscheinen bei Kiepenheuer & Witsch, 192 Seiten, 20 Euro 

Warum findet dieser Fight in einer dystopischen Großstadt namens Neu-Berlin statt? 

On-Demand-Lieferdienste sind nur in urbanen Räumen möglich. Darum habe ich die Großstadt gewählt, in diesem Fall einen Neubau von Berlin, der noch beschissener funktioniert als das jetzige Berlin. Die Stadt besteht nur aus riesigen Hochhausklötzen. Die haben alle Liefersilos, wo man das Paket oben einschmeißt und es dann direkt zum Kunden kommt.

Im Buch liefern sich die einzelnen Anbieter regelrechte Wettrennen bei der Zustellung eines Produkts. Woher kam diese Idee? 

Für meinen Roman habe ich mich gefragt: Warum sollten Lieferdienste im Wettbewerb miteinander stehen? Beim Thema Delivery geht es zwar immer um Beschleunigung, die Lieferung soll immer früher ankommen. Aber ich bestelle entweder bei Amazon oder woanders, und dann bekommt ein Zusteller den Auftrag. In "Lieferdienst" gibt es darum sehr ausgefeilte 3D-Drucker. Jeder Kauf dort ist kein Kauf eines Produkts, sondern ein Tender. Und dann sagen alle Lieferdienste: Geil, eine Zahnbürste nach Treptow, machen wir. Und dann drucken acht Firmen die Zahnbürste aus und racen da hin. 

Für mich klang die Idee mit den 3D-Druckern auch danach, als hättest du den Gedanken gehabt: Wer kann eigentlich Amazon disrupten?

Nein, nicht direkt. Aber es stimmt: In meinem Buch ist Nike noch weiter von der Fertigung entfernt, als heute schon. Und es müssen ja gar nicht 3D-Drucker sein. Ich glaube, dass Fertigung und Automatisierung durch Robotik mittelfristig dahin führen kann, dass man einen Whitelabel-Anbieter findet, der sagt: Im Großraum Berlin, ich mache dir jeden Schuh in 20 Minuten, egal von welcher Marke. Das heißt eben auch, ich kann dem Kunden den Schuh binnen einer Stunde zustellen. Das ist eigentlich Wahnsinn und völlig bizarr. 

"Letztlich interessiert mich nicht die Technologie, sondern was diese Technologie mit den Leuten macht"

Wie tief steigst du bei Recherche in die Technologien ein?

Ich lese viel drüber und gucke Dokumentationen an. Aber letztlich interessiert mich nicht die Technologie, sondern was diese Technologie mit den Leuten und der Gesellschaft macht. Wie genau die Technik des Hoverboards funktioniert oder ob der 3D-Drucker wirklich alle Produkte von der Socke bis zur Playstation machen kann, ist mir egal.

Darauf, dass "Lieferdienst" ein Thema für OMR sein könnte, bin ich über einen Linkedin-Post von dir gekommen. Darin schreibst du von "militärischem Marketing". Was steckt dahinter?

Um Marketing im eigentlichen Sinne geht es im Roman nicht, aber im konkreten Szenario wird es immer ein bisschen anskizziert. Es geht um den gnadenlosen Wettbewerb, darum, dass alle ihre Truppen ins Feld werfen und Produkte im wortwörtlichen Sinne über den Kunden abwerfen.

Du meinst die Szene, in der riesige, "Dropships" genannte Luftschiffe mit 3D-Druckern an Bord über der Stadt schweben, um eine neue Spielkonsole möglichst schnell großflächig ausliefern zu können.

Genau. Ich denke, die Logistik ist dann gar nicht mehr so unterschiedlich von der im Krieg. Und das wollte ein bisschen überspitzen. Das würde heute keiner mehr so offen sagen, aber es ist ja tatsächlich so, dass es unter Managern eine ganz lange Tradition gibt, Sunzi und Clausewitz zu lesen.

… berühmte Vordenker militärischer Strategien …  

Deren Stratagema, wie man jemanden anders im Krieg ausmanövriert, finden auch in der Wirtschaft Verwendung. Oder auch das, was Firmen hinsichtlich der Mitarbeitermotivation unternehmen, dass Jobs gamifiziert werden. Arkadi kämpft im Roman um Titel, will ins nächste Level aufsteigen und Badges erhalten. Das tun Unternehmen ja, um nicht so großartige Jobs irgendwie aufzuwerten. Dass man das Gefühl hat, man kommt weiter, man wird besser. Das ist ja eine ganz alte Militärstrategie: Du wirst sterben, aber du hast immerhin jetzt diese schöne Plakette bekommen. 

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Autor Tom Hillenbrand. Foto: Bogenberger Autorenfotos

In der Welt von "Lieferdienst" gibt es auch Drohnen, die ausliefern. Warum spielen überhaupt Menschen noch einen Rolle? 

Wir kriegen es ja bisher noch nicht einmal hin, dass ein Auto auf einer gekennzeichneten Straßen von A nach B fährt. Da einer Drohne zu sagen, du musst in den Hinterhof und dann eine halbe Treppe hoch, das ist nochmal eine zusätzliche Komplexität. Ich glaube, das werden eine lange Zeit noch nur Menschen leisten können. Das war meine eine Überlegung. Die andere war: Die Zahnbürste wird man vermutlich durch die Drone liefern lassen, aber wenn du ein teures Produkt hast oder eines, wo der Kunde einen Prioritätsaufschlag bezahlt hat und man weiß, dass die anderen Lieferdienste einen ausstechen wollen, dann ist menschliche Intelligenz notwendig, um alle Tricks der Konkurrenz zu durchschauen.

Dabei experimentieren ja Firmen von Amazon bis DHL mit Drohnen.  

Ja. Und das Symbolbild ist immer eine Drohne, unter der ein Paket hängt. Das halte ich mittelfristig für sehr unrealistisch. Mir erscheint es viel wahrscheinlicher, dass der DHL-Truck die Drohne ist. Dass der selbst fährt und vielleicht einen Greifarm hat und Sachen einfach am Bordstein raussetzt, nachdem per Gesichtserkennung gecheckt wurde, ob derjenige, der es haben will auch rausgekommen ist und da steht. Dann hat man auch schon den Menschen rausgenommen. Aber jedes einzelne Paket mit einer Helikopterdrohne rumzufliegen, ist glaube ich Quatsch. 

Oder es gibt diese Abwurfschächte auf dem Dach wie in in Neu-Berlin.

Ja, aber dafür müssten die Häuser alle gleich aussehen. Wo das tatsächlich funktionieren kann, ist Südkorea. Auf dem Weg vom Flughafen in die Innenstadt von Seoul fährt man über Kilometer an komplett gleichen Klötzen vorbei. Je größer die Einheiten sind, desto größer ist die Kostenersparnis. Bei deutschen Reihenhäusern nimmt man lieber einen sehr schlecht bezahlten Kurier.  

"Mein ganzes Klo steht voll mit Kisten, die alle wieder zurückgehen. Das ist ja eigentlich krank"

Bestellst du selbst oft Sachen online? 

Ich habe natürlich im Rahmen dieser Recherche mein eigenes Bestellverhalten genauer beobachtet. Ich hoffe, ich habe es ein bisschen geändert – aber ich glaube nicht. Was mir aber auch aufgefallen ist: Ich brauche ja nichts. Wir alle brauchen nichts, wenn wir ehrlich sind. Etwas online kaufen hat nicht mal mehr den Stellenwert des "ich setze mich jetzt mal abends gemütlich eine Stunde aufs Sofa und gucke mir an, was es so gibt". Sondern teilweise kauft man an der Bushaltestelle noch schnell ein T-Shirt bevor der Bus kommt. Das passiert alles so instant. Es geht gar nicht um die Ware, sondern es ist wie duschen, man fühlt sich danach ein bisschen frisch, hat ein ganz kurzes Gratifikationserlebnis und mehr ist es nicht. Außerdem bemerke ich bei mir, dass es so einfach ist zu bestellen, aber gar nicht so einfach, es zurückzugeben. Ich habe dann immer so Backlogs. Mein ganzes Klo steht voll mit Kisten, die alle wieder zurückgehen. Das ist ja eigentlich krank. 

So ein exzessiver Online-Shopper bist du?  

Ja, manchmal. Aber es geht ja immer schlimmer. "Lieferdienst" ist ja auch ein Kommentar zu dieser seltsamen Entwicklung. Am Anfang gab es Einzelbestellungen. Dann kamen so Sachen wie Hello Fresh für Menschen, die zu dumm zum Kochen sind. Und inzwischen gibt es so etwas wie die Nerd-Box, wo Leute, die sich für Plastiksuperhelden und Trading Cards interessierten, einmal im Monat eine Kiste geschickt bekommen. Es geht gar nicht mehr darum, ob man etwas braucht. Es geht nur noch darum, dass ein ewiger Strom von Stuff zu einem kommt. Das hat so ein Schlaraffenland-Feeling, nur dass dir nicht die gebratene Taube in den Mund fliegt, sondern die 18 Zoll hohe Wolverine-Figur. In meinem Buch habe ich diesen Hyperkapitalismus versucht, literarisch zu steigern. Aber ich frage mich auch, was in der realen Welt die nächste Steigerungsform ist.    

Im Roman lässt sich Lieferbote Arkadi sein Mittagessen zu festen Uhrzeiten an seinen aktuellen Standort liefern. Das klingt für mich nach einem Businessmodell! 

Vielleicht hätte ich diese Idee verkaufen sollen. Aber das soll ruhig mal jemand machen. Es ist wie der Pizza-Lieferdienst, der die Pizza im Auto backt. Das hat Neal Stephenson vor 20 Jahren mal in einem Roman geschrieben. Jemand hat das dann nachgebaut – und ist damit pleite gegangen. Also vielleicht sollte man es doch nicht machen.

"Für Leute, die Probleme mit Impulskäufen haben, wird es echt schwierig"

Welche E-Commerce-Modelle erwartest du in der Zukunft?

Ich finde diese Brillen von Meta spannend. Die haben eine Kamera und es ist ja bereits heute möglich, aus Fotos die Marke und Modell von zum Beispiel Schuhen zu extrahieren. Solche einfachen Brillen könnten zu einem Tool werden, um alles, was sich sehe, egal wo, kaufbar zu machen. Ich zeige nur mit dem Finger und sage, davon will ich eins. Das wäre ein völlig neues Game. Gute Marketing-Leute könnten dann darüber nachdenken, wie sie Produkte im öffentlichen Raum showcasen – kann ihnen ja niemand verbieten, in geilen Schuhen rumzulaufen. Das wäre eine völlig neue Art und Weise, sich an Kunden ranzurobben. Wenn man diese Meta-Brille, das Microsoft Recall Feature, Bilderkennung und ChatGPT zusammenfügt. Dann kann ich sagen: Der Typ gestern mit der geilen Lederjacke. Ich glaub, ich brauch die. Bestell mal. Und wenn ich zuhause ankomme, ist die Jacke schon da. Irrsinn. In dieser Welt wird es für Leute, die Probleme mit Impulskäufen haben, echt schwierig.

Klingt gar nicht so weit weg.

So weit weg ist das nicht, zumindest keine 50 Jahre mehr weit weg. Aber man muss vorsichtig sein. Prognosen von Science-Fiction-Autoren gefährden die Gesundheit. Und vielleicht nervt es auch alle.

Berätst du eigentlich Unternehmen?

Ich spreche mit vielen Leuten aus Unternehmen, aber nicht in dem Sinne, dass ich meine – in Anführungsstrichen – Expertise verkaufe. Das ist auch ein Missverständnis vieler Leute. Science-Fiction ist nicht der Versuch, einer Szenario-Analyse oder Futurologie, sondern immer eher ein Kommentar zur Gegenwart. Es ist erstens ein schlechtes Prognose-Instrument, das meiste haut nicht hin, und zweitens auch gar nicht der Versuch einer Prognose, sondern: Wir bauen mal ein Szenario, das sehr unwahrscheinlich ist, dafür aber unterhaltsam. 

DeliveryE-CommerceEntertainment
Christian Cohrs
Autor*In
Christian Cohrs

Editor & Content Strategist bei OMR und Host des FUTURE MOVES-Podcasts. Zuvor war er Redaktionsleiter des Wirtschaftsmagazins Business Punk in Berlin, Co-Autor des Sachbuchs "Generation Selfie".

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