Fake Virals, bezahlte Placements & gestresste Stars: Tiktok dominiert das Musikmarketing

Tiktok ist neben Spotify zum wichtigsten "Discovery Hub" für neue Musik geworden

Sängerin Halsey (links) erklärte, Ihr Label weigere sich einen Song herauszubringen, wenn es ihr nicht gelänge, für diesen einen "Fake Viral Moment" auf Tiktok zu kreieren. Popsängerin Gayle (Mitte) war das zuvor gelungen. Und Superstar Ed Sheeran ist wirkt ebenfalls von den Promo-Zwängen seines Labels genervt.
Sängerin Halsey (links) erklärte, Ihr Label weigere sich einen Song herauszubringen, wenn es ihr nicht gelänge, für diesen einen "Fake Viral Moment" auf Tiktok zu kreieren. Popsängerin Gayle (Mitte) war das zuvor gelungen. Und Superstar Ed Sheeran ist wirkt ebenfalls von den Promo-Zwängen seines Labels genervt.
Inhalt
  1. Mehr als eine halbe Milliarde Spotify-Streams
  2. Eine Geschichte, zu schön um wahr zu sein?
  3. Ein Viertel der neuen Musikstars kommt von Tiktok
  4. Major Labels kämpfen um ihre Daseinsberechtigung
  5. „Wir beobachten Tiktok auf täglicher Basis“
  6. Tiktok startet eigenen Musikmarketing-Service
  7. Bis zu fünfstellige Summen für Song-Placements?
  8. Release-Blockade wegen fehlender „Fake Virals“

Wie macht man aus einem Song einen Hit? Früher brauchte es dazu das Radio, im Digitalzeitalter sind es vor allem Playlist-Platzierungen auf Spotify. Doch mittlerweile gibt es eine neue Plattform, die Songs zu einem weltweiten Phänomen machen kann: Tiktok. OMR zeigt, wie hoch bereits der Prozentsatz an Hits ist, die ihren Erfolg Tiktok zu verdanken haben, wie viel Geld reichweitenstarke Creator für die Bewerbung von Songs bekommen, sowie das Beispiel einer Newcomerin, die mit einer vorgespielten Story über Tiktok einen Chart-Hit generierte.

„Ich heiße Gayle, ich bin 17 Jahre alt, lebe in Nashville und ich mache Popmusik. Und ich brauche Eure Hilfe, weil ich keine Song-Ideen habe. Schreibt mir was in die Kommentare, buchstäblich irgendetwas, und ich versuche, daraus einen Song zu machen!“, wendet sich eine junge Frau Ende Juli 2021 in einem Video auf Tiktok an die Zuschauenden. Knapp 19.000 Follower hat Taylor Gayle Rutherford (ihr Künstlerinnenname lautet einfach Gayle) zum damaligen Zeitpunkt auf der Plattform. In den Kommentaren fordert sie eine andere Nutzerin anscheinend spaßhaft dazu auf, einen Trennungssong zu komponieren – unter Verwendung des Alphabets. Zwei Tage später gibt Rutherford in einem offensichtlich in ihrem Bad aufgenommenen Clip den Refrain ihres neuesten, überaus eingängigen Songs zum Besten: „ABCDE FU and your mom and your sister and your job“, rechnet das lyrische Ich darin mit seinem oder seiner potenziellen Expartner:in ab.

Mehr als eine halbe Milliarde Spotify-Streams

Bis zu diesem Zeitpunkt haben Rutherfords Kurz-Clips auf Tiktok maximal fünfstellige Abrufzahlen generiert. Ihre Akustik-Performance des neuen Songs kommt (wie nicht nur die Kommentarspalte zeigt) bei den Tiktok-Nutzer:innen überaus gut an und ist weitaus erfolgreicher: 5,4 Millionen Views hat das Video bis heute angesammelt. In den Wochen darauf hält Rutherford ihre langsam größer werdende Community mit immer wieder mit neuen Inhalten zu ABCDEFU bei Laune: Sie verkündet, dass der Song bei Spotify abrufbar ist, reagiert auf Kommentare, in denen ihre Follower von ihren Herzschmerzerfahrungen berichten und auf Videos, in denen andere ihren Song als Sound nutzen. Im Oktober gewinnt sie den „viralen Jackpot“: ein Video, in dem sie mit ihrem Freund Spencer Jackson im Auto zum Song mitsingt, geht bei Tiktok viral. Bis heute verzeichnet es fast 75 Millionen Views.

Die Folge: ABCDEFU wird endgültig zum viralen Phänomen. Auf Tiktok finden sich heute 2,4 Millionen Videos, die ABCDEFU als Sound nutzen, u.a. von den Digitalstars MrBeast und Dixie D’Amelio. Die Zahl von Gayles Tiktok Followern steigt innerhalb von drei Monaten auf eine knappe Million. Im Zuge dessen avanciert ABCDEFU auch außerhalb von Tiktok zum weltweiten Pophit. In 15 Ländern (u.a. Deutschland und Großbritannien) erreicht der Song Platz eins der Charts. Auf Spotify hat das Stück mittlerweile 690 Millionen Streams angesammelt, das Video auf Youtube verzeichnet fast 150 Millionen Views.

Eine Geschichte, zu schön um wahr zu sein?

Vielleicht haben Rutherford und ihr Label einen Erfolg diesen Ausmaßes selbst nicht erwartet. Denn sonst hätten sie sich möglicherweise mehr Mühe gegeben, zu verschleiern, dass die schöne Geschichte „Sängerin macht Songidee aus ihrer Community zu einem Hit“ sich nicht so abgespielt hat, wie es auf Anhieb scheint. Das enthüllt Tiktoker Creator Daniel Wall zu Anfang des Jahres in einem Video. Wall hatte einfach den Namen der Tiktok-Nutzerin gegooglet, auf deren Idee und Kommentar Gayles Song angeblich fußt. Das Ergebnis: Nancy Berman arbeitet als Digital-Marketing-Managerin bei Atlantic – Gayles Label. Gegenüber Newsweek dementierte Atlantic Records, dass der Kommentar von Berman eine gezielte Marketingmaßnahme gewesen sei. Viele Fans, die enttäuscht unter Gayles Tiktok-Videos kommentieren, können das nicht glauben.

So oder so: ABCDEFU ist nur eines von vielen Beispielen dafür, wie sehr Tiktok zu einer Hitmaschine und einem Karrieresprungbrett für zuvor unbekannte Künstler:innen geworden ist. Schon als im Jahr 2019 „Old Town Road“ von Lil Nas X zum weltweiten Hit avanciert, war Tiktok maßgeblich daran beteiligt. Und auch die Musikkarriere von Olivia Rodrigo, damals „lediglich“ Schauspielerin in einer Teenie-Serie auf Disney+, ist dadurch von null auf 100 gestartet, dass auf Tiktok Tausende von Nutzer:innen darüber spekuliert haben, über wen Rodrigo in ihrem Song „driver’s licence“ wohl singen mag. Das Ergebnis: Mit 1,1 Milliarden (!) Abrufen war „driver’s licence“ im Jahr 2021 der weltweit meist gestreamte Song auf Spotify.

Ein Viertel der neuen Musikstars kommt von Tiktok

Eine Auswertung der US-Medien Vox und The Pudding zeigt nun auch in Zahlen, welche relevante Rolle Tiktok dabei einnimmt, wenn es darum geht, neuen Künstler:innen zum weltweiten Durchbruch zu verhelfen. Die US-Journalisten trackten die täglich aktualisierte „Top 200“-Playlist von Spotify, die die 200 meist gestreamten Songs auf der Plattform umfasst. Das Ergebnis: Ein Viertel der  Künstler:innen, die im Zeitraum von 2020 bis 2021 auf der „Top 200“-Playlist vertreten und davor unbekannt gewesen waren, sind durch Tiktok berühmt geworden.

Blickt man auf die Zahl derjenigen Künstler:innen, die im gleichen Zeitraum einen Plattenvertrag unterschrieben haben, ist der Prozentsatz von „Tiktok-Stars“ laut Vox und The Pudding sogar noch größer. Von rund 367 Künstler:innen sollen rund ein Drittel unter Vertrag genommen worden sein, weil ihr Song auf der Kurzvideo-Plattform zuvor viral gegangen ist.

Major Labels kämpfen um ihre Daseinsberechtigung

Für die Plattenfirmen ist Tiktok Fluch und Segen gleichzeitig: einerseits eine attraktive Marketingplattform mit enorm hoher Nutzungsintensität und Aufmerksamkeit. Andererseits ist es heute durch Tiktok für Künstler:innen heute deutlich leichter als früher, auch ohne Label quasi über Nacht weltberühmt werden können. Das könnte mit ein Grund dafür sein, dass der Anteil von Streams, die auf das Konto von Künstler:innen geht, die bei Major Labels unter Vertrag stehen, in den vergangenen Jahren immer weiter zurückgegangen ist.

Der Marktanteil der Major Label an den Streams auf Spotify ist in den vergangenen Jahren immer weiter gesunken

Der Marktanteil der Major Label an den Streams auf Spotify ist in den vergangenen Jahren immer weiter gesunken (Visualisierung: Vox/The Pudding)

Nicht nur, um gegen diese Entwicklung anzukämpfen, ist es für die großen Labels wichtig, die viralen Newcomer-Stars unter Vertrag nehmen zu können. Denn für die Plattenfirmen geht es nicht nur darum, viele Streaming-Abrufe generieren zu können – die Geschwindigkeit, mit der das geschieht, ist ebenfalls wichtig. „Spotify bezahlt die Labels nach Anzahl der Streams in einem vorgegebenen Zeitraum. Wenn man in dieser Zeit einen viralen Hit mit einigen Milliarden Streams im Portfolio hat, kann das den prozentualen Marktanteil und die Summe, die ausgezahlt wird, erhöhen“, so Musikjournalist Elias Leight gegenüber Vox.

„Wir beobachten Tiktok auf täglicher Basis“

Wenig erstaunlich also, dass die Labels unabhängigen Künstler:innen mittlerweile nicht mehr nur bessere Konditionen als zuvor bieten. Sondern sie überwachen mittlerweile mit Software auch genau, was auf Tiktok passiert. Einerseits, um neue Künstler:innen zu finden, andererseits aber auch, um frühzeitig zu erkennen, wenn ein alter Song überraschend viral geht. Denn auch das geschieht auf Tiktok immer wieder. Wenn sie plötzlich zum „Audio Meme“ werden und Hunderttausende Nutzer:innen sie als „Soundtrack“ für ihre Tiktok-Clips nutzen, können auf der Plattform plötzlich auch Jahre bis Jahrzehnte alte Songs durch die Decke schießen. „Unser gesamter Musikkatalog wird auf täglicher Basis von uns getrackt“, so ein Vertreter von Legacy Recordings (dem Back-Katalog-Bereich von Sony) gegenüber Business Insider (€). „Wir überwachen konstant das Geschehen, die Reaktionen und Trends, die auf Tiktok stattfinden.“

Dieses Monitoring ist offensichtlich nicht die einzige Maßnahme, mit der die Labels versuchen, ihre Gatekeeper-Position sowohl gegenüber den digitalen Plattformen als auch den Künstler:innen wieder zu festigen. Wie Business Insider berichtet, versuchen die Labels ebenfalls, renommierte Tiktok-Creator:innen davon zu überzeugen, neue Songs ihrer Bestandskünstler:innen in ihren Videos zu verwenden. Teilweise geschieht das sogar mit Unterstützung von Tiktok. So soll das Unternehmen im Sommer 2020 große Creator:innen zu einem Zoom-Call eingeladen haben, um ihnen die neueste, damals noch gar nicht veröffentlichte Single von Miley Cyrus vorzustellen.

Tiktok startet eigenen Musikmarketing-Service

Wegen der hohen Relevanz von Musik für die eigene Plattform hat Tiktok intern schon vor Jahren ein eigenes Musik-Team aufgebaut. Im Jahr 2019 wechselte der renommierte deutsche Musikmanager Ole Obermann (davor u.a. für Warner und Sony Music tätig) an die Spitze dieser Einheit. Tiktok verfügt selbst über einige Hebel, mit denen es Künstler:innen mehr Sichtbarkeit verleihen kann – etwa durch die Platzierung von Songs in den „Playlisten“ in der Sounds-Bibliothek, die aufploppt, wenn jemand ein neues Video erstellt und dafür einen Sound auswählt.

Für die Labels wird Tiktok nicht nur damit immer mehr zum „Frenemy“, halb Freund, halb Feind. So betreibt die Tiktok-Mutter Bytedance unter dem Namen Resso in Brasilien, Indien und Indonesien bereits eine eigene Spotify-artige Streaming-Plattform. Im März dieses Jahres hat Tiktok außerdem die Gründung einer eigene Musikmarketing- und Distributions-Plattform namens Soundon verkündet, mit dem Musiker:innen ihre Songs selbst Tikok hochladen und (ebenfalls auf anderen Plattformen) vertreiben können. Außerdem erhalten sie Zugang zu einer Reihe von Promotion-Tools und zu Künstler:innen-Support.

Bis zu fünfstellige Summen für Song-Placements?

Viele Major Labels scheinen – wohl auch, um nicht gänzlich von der Unterstützung Tiktoks abhängig zu sein – reichweitenstarke Tiktok Creator:innen selbst dafür zu bezahlen, dass sie Songs ihrer Künstler:innen in ihren Videos verwenden. So erhalte Tiktok-Top-Creatorin Charli D’Amelio zwischen 25.000 und 40.000 US-Dollar für ein solches Promo-Video, berichtet der Rolling Stone im Jahr 2020. Damals verzeichnet der junge Digitalstar noch 62 Millionen Follower, heute sind es 141,5 Millionen. Es ist wahrscheinlich, dass die jüngere der beiden D’Amelio-Schwestern mittlerweile sechsstellige Summen verlangen kann. Aber auch „kleinere“ Tiktok Creator erhalten laut einem Bericht von Business Insider (€) in manchen Fällen Tausende US-Dollar, um Songs zu promoten.

Daneben nehmen die Label ihre Künstler:innen selbst aber auch immer stärker in die Pflicht, damit diese selbst regelmäßig Content auf Tiktok posten – idealerweise mehrmals am Tag. Dass der Druck auf Musiker:innen, „virale Momente“ auf Tiktok zu kreieren oder faken mittlerweile extrem hoch sein muss, wurde gerade Ende Mai deutlich, als mehrere sehr etablierte Künstler:innen sich öffentlich über ihre Labels beschwerten. Halsey, FKA Twigs, Charli XCX und Florence (von Florence & the Machine) zeigten sich in Videos auf Tiktok (einige davon mittlerweile offenbar gelöscht) mehr als frustriert mit ihrer Situation. Selbst Ed Sheeran, vielleicht einer der Top 3 Musikstars weltweit zurzeit, veröffentlichte wenig später ein offenbar sarkastisches Video, in dem er Chips isst, um „seinen Song zu promoten“.

Release-Blockade wegen fehlender „Fake Virals“

Manche Labels weigern sich sogar, die Musik ihrer Künstler:innen zu veröffentlichen, wenn diese nicht ihren Erwartungen in Sachen Tiktok-Reichweite entsprechen. „Emo Rapper“ Trevor Daniel ist 2020 über Tiktok der Durchbruch gelungen; auf sein Konto gehen mehr als eine Milliarde Spotify-Streams. Doch wie Daniel gerade gegenüber dem Rolling Stone erklärte, wolle sein Label aktuell keine neuen Stücke offiziell veröffentlichen, bevor nicht ein Snippet davon auf Tiktok viral gegangen ist.

Sie habe einen Song, den sie liebe, den ihr Label sie aber nicht veröffentlichen lasse, berichtete auch gerade US-Sängerin Halsey in einem Video auf Tiktok: „Ich bin seit acht Jahren in dieser Branche und ich habe mehr als 165 Millionen Platten verkauft. Aber meine Plattenfirma sagt, ich kann ihn nicht herausbringen, wenn sie keinen viralen Moment auf Tiktok faken können.“ Den Musikfans ist mittlerweile zunehmend bewusst, in welchem Maß auf Tiktok Geschichten erfunden werden, um Aufmerksamkeit zu generieren. Einige von ihnen hat das so sehr mißtrauisch werden lassen, dass sie in Kommentaren auf Social Media auch hinter Halseys Öffentlichkeitsoffensive eine Marketingaktion vermuteten. „Ich bin als Künstlerin viel zu etabliert, um eine Sache so aufbauschen zu müssen“, so Halsey daraufhin auf Twitter.

TikTok
Roland Eisenbrand
Autor*In
Roland Eisenbrand

Roland ist seit mehr als zehn Jahren als Journalist in der Digitalbranche aktiv. Seit 2014 verantwortet er als Head of Content (und zweiter Mitarbeiter) alle inhaltlichen Komponenten von OMR, darunter vor allem den OMR Blog und redaktionelle Arbeit rund um das OMR Festival.

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