Eine „Multi-Milliarden-Chance“? – Tiktok will virale Songs an Unternehmen lizenzieren

Ex-Sony- und -Warner-Manager Ole Obermann will damit auch das Werbegeschäft pushen

Ole Obermann, Global Head of Music, Tiktok
Ole Obermann, Global Head of Music, Tiktok
Inhalt
  1. „Mit bekannten Sounds stoppt Ihr das Weiterscrollen“
  2. Unternehmen können keine Hits verwenden
  3. Sony verklagt Gymshark wegen Urheberrechten
  4. „Den Moment, wenn ein Song heißt ist, nicht verpassen“
  5. „Das könnte ein Multi-Milliarden-Biz werden“

11,64 Milliarden US-Dollar wird Tiktok in diesem Jahr mit Werbung einnehmen, prognostiziert das Marktforschungsunternehmen Emarketer – eine Verdreifachung im Vergleich zum Vorjahr. Nun bereitet das Unternehmen den nächsten Coup vor: Tiktok will sich noch stärker als zuvor als Mittler für Nutzungsrechte von Musikstücken etablieren, damit Unternehmen ihre Videos auf der Plattform schnell und unkompliziert mit genau jenen Songs unterlegen können, die gerade viral gehen. Damit könnte Tiktok nicht nur eine weitere Erlösquelle erschließen – sondern mehr Unternehmen auf die Plattform locken und damit das eigene Werbegeschäft pushen.

„License the trendy tracks for big moments, don’t you hold back“ (in etwa: „Lizensiert die angesagten Tracks, um große Momente zu schaffen, und haltet Euch nicht zurück“), rappt ein ungenannter Musiker in einem vor Kurzem von Tiktok veröffentlichten Kurzvideo. Der Clip (untertitelt mit: „Here’s how you choose and create music for Tiktok“) ist Teil einer Serie von 26 Kurzvideos, mit der Tiktok Marken und Unternehmen vermitteln will, wie sie auf der Plattform erfolgreich aktiv werden können. Zwei Mal ist in dem Video ein Sound zu hören, der an klingelnde Münzen erinnert. Offenkundig will Tiktok gegenüber Unternehmen die Botschaft vermitteln: Lizensiert gerade angesagte, emotionale Musikstücke für Eure Videos – und es wird bei Euch in der Kasse klingeln.

„Mit bekannten Sounds stoppt Ihr das Weiterscrollen“

Wohl auf kaum einer anderen digitalen Plattform (wenn man mal von den Musik-Streaming-Anbietern wie Spotify absieht) nimmt Musik so eine zentrale Rolle ein wie auf Tiktok. Dort können Songs und Sounds „viral gehen“; für Musiker:innen und die Musikwirtschaft ist Tiktok damit schon der vielleicht wichtigste „Discovery Hub“ geworden. Und wer in der App einmal ein Video mit einem Song oder Sound (das können auch Sprachschnipsel sein) geschaut hat, dem werden von Tiktok immer wieder weitere Videos vorgeschlagen, die mit diesem Sound unterlegt sind. Damit sind Sounds auf Tiktok zum einen ein wichtiger Reichweitenhebel.

Zum anderen sind bekannte Songs für Marken und Unternehmen ein Weg, Nutzer:innen dazu zu bringen, sich ein Werbevideo überhaupt erst anzuschauen. Denn Ton funktioniert sehr viel schneller und unmittelbarer als die visuelle Ebene. Wenn die Nutzer:innen zu Anfang eines Videos einen Song hören, den sie kennen, sind sie eher dazu geneigt, nicht gleich weiter zu wischen. „Sound is the anti-scroll on Tiktok“, schreibt auch Tiktok selbst im Juni 2021 und beruft sich dabei auf eine vom Unternehmen selbst in Auftrag gegebene Studie. In einer weiteren von Tiktok beauftragten Umfrage sollen knapp 70 Prozent der Teilnehmer:innen erklärt haben, dass sie sich an Marken besser erinnern können, die in ihren Videos Songs verwendet haben, die die Befragten bereits kannten.

Unternehmen können keine Hits verwenden

Doch genau das ist seit etwa zwei Jahren deutlich schwieriger. Denn etwa im Mai 2020 hat Tiktok damit begonnen, die Verwendung kommerzieller Musikstücke für so genannte „Business Accounts“ zu sperren. Davor hatten diverse Platten-Labels Tiktok mit Klagen gedroht. Seitdem können Unternehmensprofile auf Tiktok nur Songs und Sounds aus Tiktoks „Commercial Audio Library“ nutzen – „pre-cleared music for organic content and ad creation“. Aus rechtlicher Sicht und aus der Perspektive der Künstler:innen, denen eine faire Vergütung zusteht, sicherlich eine begrüßenswerte Entwicklung. Tiktok stellt diese jedoch vor Herausforderungen. Zum einen wird die Plattform möglicherweise für Marken und Unternehmen weniger attraktiv, weil sie das virale Potenzial von Tiktok nicht voll ausschöpfen können. Zum anderen versuchen sich offenbar viele „Business Account“-Betreiber mit Tricks durchzuschummeln.

Jason Wong, der mehrere Marken und Online-Shops aufgebaut hat (u.a. „Doe Lashes“), rät anderen Markeninhaber:innen in einem Tweet davon ab, sich auf Tiktok „verifizieren“ zu lassen, also das Profil auf einen Business Account umzustellen, weil sie dann nur die „Commercial Audio Library“ nutzen können. „Populäre Tiktok-Songs sind ein enormer Booster, den ihr ausnutzen solltet. Das mussten wir auf schmerzliche Art erfahren – und können jetzt nicht zurück.“ Viele andere Unternehmen stellen deswegen ihr Profil offenbar bewusst nicht auf einen „Business Account“ um. Von dieser Beobachtung berichtet auch ein deutscher Betreiber von mehreren Tiktok-Viral-Accounts gegenüber OMR, der namentlich nicht genannt werden möchte: „Viele Unternehmen nutzen einen Creator- oder privaten Account fürs Business, um jegliche Musik verwenden zu können.“

Sony verklagt Gymshark wegen Urheberrechten

Dass solche Tricksereien auch in die Hose gehen können, musste schon im Juni 2021 die Sportmodemarke Gymshark (hier Gründer Ben Francis im OMR Podcast) erfahren. Die hat auf ihren Social-Media-Accounts auf Plattformen wie Tiktok und Instagram kommerzielle Musik verwendet, ohne für die Rechte zu bezahlen – und ist von Sony Music verklagt worden. 297 Musikstücke (von A$AP Rocky bis Zara Larsson) habe Gymshark unrechtmäßig verwendet. Ein halbes Jahr später einigten sich beide Parteien außergerichtlich. Zu welchen Konditionen ist nicht bekannt, aber es wäre sehr erstaunlich, wenn Gymshark hier nicht eine schmerzhafte Summe hat zahlen müssen.

Tiktok versucht unterdessen die „Herausforderung Urheberrechte“ auf mehrere Arten und Weisen zu bewältigen. So baut die Plattform nicht nur die bereits erwähnte „Commercial Audio Library“ immer weiter aus, sondern vermittelt Unternehmen auch an eine Reihe von „Sound Partnern“ weiter, die Marken und Firmen eigene Songs auf den Laib schreiben sollen. Dass Marken auch mit solchen eigens für sie komponierten Songs auf Tiktok erfolgreich sein können, hat bereits im Jahr 2019 die Kosmetikmarke Elf gezeigt, deren Song „Eyes Lips Face“ auf Tiktok viral ging und mehr als eine Milliarde Views angesammelt haben soll.

„Den Moment, wenn ein Song heißt ist, nicht verpassen“

Doch diese beiden Maßnahmen reichen Tiktok nicht. Er wolle die Art und Weise revolutionieren, wie Songs für Werbung genutzt werden, beschreibt die französische Nachrichtenagentur AFP in einem Artikel aus dem Februar dieses Jahres die Mission von Ole Obermann, Global Head of Music bei Tiktok. Will heißen: Obermann will die Lizenzierung von Musikstücken für Unternehmen deutlich einfacher machen. Im Moment sei jede Lizenzierung eines Songs für Tiktok eine Einzelfallentscheidung, die noch dazu mehrere Monate benötige, weil häufig mehrere Urheberrechtsparteien beteiligt sind. „Oftmals verpasst man dann den Moment, in dem der Kunde einen besonderen Song verwenden möchte, weil er gerade heiß ist – einfach, weil man die Rechte nicht schnell genug bekommen kann“, so Obermann im November 2021 bei einem Bühneninterview auf der Musikbranchenmesse Midem.

Das will Obermann künftig verhindern: „Wir haben ein großes Team bei Tiktok, das versucht, Wege zu finden, wie wir mit den Rechteinhabern auf beiden Seiten, also dem Verlag und dem oder der Künstler:in, zusammenarbeiten können, um diese Freigaben schneller, einfacher und benutzerfreundlicher zu machen“, so Tiktoks Musikchef. Offenbar arbeitet dieses Team an mehreren Modellen: sowohl, dass Lizenzrechte vorab geklärt und die entsprechenden Stücke den Unternehmen dann mutmaßlich gegen Zahlung einer fixen Lizenzgebühr zur Verfügung gestellt werden, als auch, dass Lizenzrechte auf einer Art Auktionsmarktplatz vergeben werden.

„Das könnte ein Multi-Milliarden-Biz werden“

Dabei will Tiktok offenbar nicht nur den ganz großen Marken Zugang zu den großen Hits bieten – so wie es zuvor in der TV-Werbung die Regel war –, sondern schielt offenbar auf eine breite Basis von Werbekunden jeglicher Größe. „Wir haben eine Million KMU auf der Plattform, die Tiktok Ads mit Musik machen wollen“, so Obermann gegenüber AFP. Mit einem ähnlichen Fokus auf den „Longtail“ und zentralen Buchungsplattformen sind Google und Facebook bereits zu mächtigen Playern im Werbemarkt herangewachsen.

Tiktok wolle dazu beitragen, „in Zukunft eine Menge zusätzlicher Werte durch die kommerzielle Nutzung von Musik zu erschließen“, so Obermann. Wenn es Tiktok gelingen sollte, sich bei der Vermarktung von Lizenzrechten noch stärker als bisher als Mittler zu etablieren, dann könnte das Unternehmen auf diese Weise zum einen eine zusätzliche Erlösquelle erschließen. Obermann glaubt, dass Tiktok das weltweite Lizenzgeschäft von 500 Millionen US-Dollar auf mehrere Milliarden hieven könnte. Es ist schwer vorstellbar, dass sich die Plattform diesen Dienst nicht bezahlen lässt und einen Prozentsatz der vermittelten Umsätze einbehält. Zum anderen könnte ein solcher Erfolg die Plattform aber auch für Werbetreibende noch relevanter machen und damit die Vermarktungseinnahmen pushen. Mit geschätzten knapp zwölf Milliarden US-Dollar im Jahr 2021 betragen Tiktoks Werbeumsätze aktuell zwar noch etwa ein Zehntel von denen Metas – Tiktok ist aber schon größer als Twitter und Snap in Summe.

LizenzierungMusikOle ObermannTikTok
Roland Eisenbrand
Autor*In
Roland Eisenbrand

Roland ist seit mehr als zehn Jahren als Journalist in der Digitalbranche aktiv. Seit 2014 verantwortet er als Head of Content (und zweiter Mitarbeiter) alle inhaltlichen Komponenten von OMR, darunter vor allem den OMR Blog und redaktionelle Arbeit rund um das OMR Festival.

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