Reichweiten-Einbrüche bei Tiktok-Creator:innen – das steckt dahinter

Branchenkenner vermuten, dass Tiktok seinen Algorithmus geändert hat. Das hat Folgen.

Der Discounter Lidl lässt bei Tiktok verschiedene Creator:innen gemeinsam aus Lidl-Zutaten Getränke mixen. Foto: Screenshot
Der Discounter Lidl lässt bei Tiktok verschiedene Creator:innen gemeinsam aus Lidl-Zutaten Getränke mixen. Foto: Screenshot
Inhalt
  1. Die Reichweite hat sich nahezu halbiert
  2. Herr Anwalt verliert mehr als eine Million Views pro Post
  3. Lidl löst Konkurrent Aldi Nord ab
  4. „Ich habe mich gefragt, ob ich etwas falsch mache“

In den vergangenen Wochen haben viele Creator:innen ihrem Ärger über Tiktok Luft gemacht. Quasi über Nacht sind ihre Reichweiten stark eingebrochen. Viele vermuten, dass Tiktok seinen Algorithmus geändert hat. Die Folgen sieht man auch in unseren monatlichen Tiktok-Charts, die OMR gemeinsam mit Infludata veröffentlicht.

Am 1. April ging es los, so hat es Dominik Fisch wahrgenommen: „Vom einen auf den anderen Tag performten quasi alle Videos unterdurchschnittlich“, schreibt der Tiktok-Creator in einem Kommentar im Karrierenetzwerk Linkedin. Mehr als 900 Videos hat Dominik Fisch bei Tiktok bereits gepostet. Fast 600.000 Leute folgen ihm dort, um Videos wie „4 günstige Autos, die dich reich aussehen lassen“ nicht zu verpassen. Das Problem ist nur: Vielen Nutzer:innen werden diese Videos offenbar aktuell gar nicht mehr angezeigt.

Und Dominik Fisch ist kein Einzelfall. „Was ist mit dem Tiktok-Algorithmus los?“, fragt beispielsweise Tim Hendrik Walter Ende April in einem Post im Karrierenetzwerk Linkedin: „Die Views bei allen großen Creatorn sind über Nacht bei den allermeisten Videos auf ein Zentel dessen eingebrochen, was vorher da war.“ Tim Hendrik Walter betreibt als Herr Anwalt einen der größten deutschsprachigen Tiktok-Accounts. Und auch Jamal Fischer, dessen Account Dasistjay mehr als 800.000 Leute folgen, schreibt: „Videos etablierter #Creator werden gebremst. Und zwar durchgängig.“ Unabhängig von der Größe der Accounts sei für längere Zeit bei rund 80.000 Views Schluss mit der Ausspielung gewesen. Stattdessen, so hört man von Creator:innen, würden überproportional häufig US-Videos angezeigt sowie Videos von eher unbekannten Leuten.

Die Reichweite hat sich nahezu halbiert

Ende April hatte das soziale Netzwerk Tiktok rund 120 deutschsprachige Creator:innen nach Berlin zum For-You-Fest eingeladen. Laut Pressemitteilung konnten sie sich dort erstmals persönlich über Kreativität, Trends und Erfolgsgeschichten austauschen. Die Botschaft war klar: Wir sind gemeinsam erfolgreich. Dazu passte auch eine Meldung der vergangenen Tage. Da hatte Tiktok nämlich angekündigt, Creator:innen stärker an Werbeeinnahmen mitverdienen zu lassen. Creator:innen mit mehr als 100.000 Followern sollen künftig bis zu 50 Prozent der Werbeeinnahmen erhalten, so Sandy Hakwins, General Manager für Tiktok Nordamerika, gegenüber The Verge. Doch das allein würde nicht alle Probleme lösen. Denn die Reichweitenverluste sind vielerorts Thema. Urplötzlich, so hört man es immer wieder, seien die Reichweiten großer deutscher und internationaler Accounts eingebrochen.

Daten des Social-Analytics-Tool Infludata bestätigen die Wahrnehmung der Creator:innen: Sowohl bei nationalen als auch bei internationalen Creator:innen sind demnach die Views eingebrochen. Bei den größten Creator:innen mit internationalem Content hat sich die Reichweite demnach zuletzt nahezu halbiert. „Bei deutschsprachigen Creator:innen sind es ebenfalls 30 bis 50 Prozent weniger“, sagt Adil Sbai, Infludata-Mitgründer und Chef der Tiktok-Agentur Wecreate. Was das in der Praxis bedeutet, zeigt auch das Beispiel von Dominik Fisch. Als seine Reichweite einbrach, lief eine Kooperation mit einem Unternehmen. Etwas bange sei ihm da gewesen, sagt er im Gespräch mit OMR. Doch Glück im Unglück: Diese Beiträge liefen einigermaßen normal.

Herr Anwalt verliert mehr als eine Million Views pro Post

Über die Gründe für den Reichweiten-Crash kann Adil Sbai nur spekulieren. Aus seiner Sicht könnte es sich um eine Reaktion auf gefälschte oder falsch deklarierte Videos im Rahmen des Ukraine-Konflikts handeln. Wenn Beiträge nicht ganz so viral ausgespielt werden am ersten Tag, gäbe es für die Plattformbetreiber mehr Zeit, um Inhalte zu prüfen. Eine andere mögliche Erklärung: Tiktok will weniger von großen Creator:innen abhängig sein, um mehr Einfluss und Macht bei der Plattform selbst zu lassen. Kleinere Accounts würden mit mehr Reichweite belohnt und dadurch motiviert, mehr Inhalte zu produzieren. Auch technische Probleme schließt Adil Sbai nicht aus. „In jedem Fall ist es verwunderlich, dass Tiktok sich dazu gar nicht äußert“, sagt Adil Sbai: „Immer mehr Creator:innen hadern mit der Intransparenz.“

Auf Anfrage von OMR geht Tiktok nicht konkret auf die Vermutungen ein, bestätigt aber grundsätzlich, dass es aktuell ein Problem gibt. Eine Sprecherin sagt: „Wir sind uns eines Problems bewusst, das bei einigen Nutzer:innen zu einer Verzögerung bei der Veröffentlichung ihrer Videos führt, und arbeiten aktiv an einer Lösung.“ Details über die Hintergründe nannte sie nicht. Auf seinem Creator-Portal hat Tiktok verschiedene Erklär-Videos veröffentlicht, in denen erklärt wird, wie Content die Nutzer:innen erreicht. Einen Zusammenhang zwischen der Follower:innen-Zahl und der Reichweite der Videos einzelner Creator:innen hat demnach keinen Einfluss darauf, ob auch zukünftige Videos im Für-dich-Feed auftauchen. Letztlich zählt demnach die Qualität des Contents und das Engagement der Nutzer beim jeweiligen Video.

Lidl löst Konkurrent Aldi Nord ab

Für Tim Hendrik Walter alias Herr Anwalt blieb die vermeintliche Algorithmus-Bremse nicht ohne Folgen. Im Ranking der reichweitenstärksten Tiktok-Creator:innen rutschte er vom ersten auf den vierten Platz ab. Knapp 1,14 Millionen Mal wird jeder Post von ihm angeschaut. Zum Vergleich: Im März lag Herr Anwalt noch bei mehr als zwei Millionen Views pro Post. Die Daten stammen vom Social-Analytics-Tool Infludata, das monatlich  für OMR das Ranking der reichweitenstärksten Tiktok-Creator:innen und Marken erstellt. An der Spitze der Creator:innen mit deutschem Content steht im April @twenty4tim, dessen Beiträge knapp 2,45 Millionen Mal im Schnitt angesehen werden. Er konnte seine Reichweite damit im Vergleich zum März nahezu verdoppeln.

Bewegung gibt es im Reichweiten-Ranking auch bei den Marken. Für das Mode-Label Hugo Boss geht es gleich acht Positionen nach oben auf den ersten Platz. Auf Platz 2 hat es mit Lidl sogar ein Neuling geschafft. Der Discounter hatte Creator:innen Lidl-Lebensmittel in einen Mixer werfen und anschließend das Ergebnis probieren lassen. In einem anderen Video mussten Tiktok-Creator:innen Getränke blind verkosten – und probierten dabei unter anderem die Flüssigkeit aus einem Glas Gewürzgurken. Der Discounter löste mit dieser Kampagne ausgerechnet den Rivalen Aldi Nord auf dem zweiten Platz des Rankings ab. Für Aldi ging es acht Plätze nach unten, nachdem man im Vormonat ebenfalls durch eine Kampagne mit verschiedenen Tiktok-Creator:innen punkten konnte.

„Ich habe mich gefragt, ob ich etwas falsch mache“

Generell scheinen Lebensmittel als Thema gut bei Tiktok zu funktionieren. Die Supermarkt-Kette Rewe schafft es sogar, gleich zwei Accounts in den Top 10 zu platzieren. Mit Ahoi-Brause, Frittenwerk und Fishermans Friend tauchen aber auch andere Marken aus dem Lebensmittel-Bereich in den Charts auf. Bei der absoluten Follower-Zahl dominieren bei den Marken allerdings weiterhin die deutschen Premium-Autohersteller sowie der Brausehersteller Red Bull das Ranking. Von der Love-Brand ist Lidl in der eher jungen Zielgruppe offenbar noch ein Stück weit entfernt.

Viele Marken pushen ihre Reichweiten allerdings auch mit Anzeigen, um sich zusätzliche Aufmerksamkeit zu verschaffen. Der Großteil der Creator:innen hingegen versucht eher organisch die eigene Zielgruppe zu erreichen und auszubauen – wenn der Algorithmus sie lässt. Tiktok-Creator Dominik Fisch sagt, er sei zuerst panisch gewesen und habe sich gefragt, ob er irgendwas falsch mache. Er sagt, er habe sich gefragt, was er machen solle, wenn sich die Situation nicht wieder bessert. „Ich habe dann mit anderen Creator:innen gesprochen“, erzählt Fisch. Als er hörte, dass diese die gleichen Probleme haben, hätte ihn das beruhigt. „Ich habe einfach weitergemacht, weil ich ja wusste, dass es nicht an meinem Content liegen kann, wenn andere dieselben Probleme haben wie ich“, sagt Dominik Fisch. In den vergangenen Tagen hat er sich dennoch eine Auszeit von Social Media gegönnt, um den Kopf etwas freizubekommen. Ab nächste Woche will er weitermachen – nur mit welchen Reichweiten, das lässt sich für ihn schwerer einschätzen als je zuvor.

Das ganze Ranking für den April gibt es hier:

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Florian Rinke
Autor*In
Florian Rinke

Florian Rinke ist Host des Podcast "OMR Rabbit Hole" und verantwortet in der OMR-Redaktion den "OMR Podcast". Vor seinem Wechsel Anfang 2022 zu OMR berichtete er mehr als sieben Jahre lang für die Rheinische Post über Start-ups und Digitalpolitik und baute die Rubrik „RP-Gründerzeit“ auf. 2020 erschien sein Buch „Silicon Rheinland".

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