KPIs statt Fomo: Beginnt gerade das Metaverse-Comeback?

Christian Cohrs20.10.2023

Warum das New Yorker Kaufhaus Macy’s und Lifestyle-Brands wieder in virtuelle Erlebniswelten investieren

Shoppen in einer Metaverse-Version von New York: Die Welt, die Journee für die US-Kaufhauskette Macy's entwickelt hat

Das Metaverse – was für ein Hype war um dieses funkelnde Digitalversprechen während der Corona-Pandemie entflammt! Doch dann wurde es ziemlich schnell ziemlich still. War’s das schon mit der Idee von virtuellen Welten als Shoppingmeilen der Zukunft? OMR hat nachgeschaut – und viel Aufbruchsstimmung entdeckt. Warum Modemarken und ein New Yorker Kaufhaus wieder viel Geld in den Bau eigener Metaversen stecken.

Tja, nichts klingt älter als das Buzzword von gestern. Und im Herbst 2023 einen Text über das Metaverse zu beginnen, fühlt sich ungefähr so an, als würde man die Zukunftstechnologie Verbrennungsmotor oder die Vorzüge von Gemüseersatz auf Fleischbasis erörtern. 

Das uneingelöste Versprechen

Klar, da war 2020/21 diese wahnsinnige Euphorie: Virtuelle Gigs von Musiker*innen wie Travis Scott, Ariana Grande und Lil Nas X im Spiel Fortnite und auf der Gaming-Plattform Roblox zogen ein Publikum im zweistelligen Millionenbereich an. Fashion Brands von Gucci über Balenciaga bis Ralph Lauren eröffneten in den diversen Metaversen und offenen Spielwelten Stores, wo sie virtuelle Kleidung verkauften.

Viele, den Autor dieses Artikels eingeschlossen, witterten in den digitalen Klamotten für den eigenen Avatar bereits einen neuen Massen- und Multimilliardenmarkt – Stichwort NFTs. Doch sobald die Leute wieder auf reale Konzerte gehen und ihre echten Sneakers im Club ausführen konnten, war die Party dann auch schon wieder vorbei. Zumindest auf B2C-Seite. Denn im Hintergrund wird die Technologie unverdrossen weiterentwickelt.  

Ungebremste Arbeit am Metaverse

Da ist Mark Zuckerberg, der seine Wette auf das Metaverse nicht nur durch die Umbenennung seines Konzerns im Jahr 2021 deutlich machte. Sondern der auch jährlich mehrere Milliarden Dollar in das Thema pumpt. Die neueste Generation des konzerneigenen Metaverse-Device ist gerade auf den Markt gekommen. Oder Microsoft, dessen CEO Satya Nadella die kürzlich abgeschlossene Übernahme des Spieleentwicklers Activision Blizzard bei der Ankündigung Anfang 2022 nicht zuletzt damit begründete, diese Übernahme werde "Bausteine für das Metaverse liefern".

Aber wie sieht dieses Metaverse aktuell aus? Und vor allem: Wie wird dort das Geld wieder reingeholt, das der Bau dieser technologisch aufwendigen virtuellen Welten verschlingt? Beim Berliner Startup Journee, das sich als "weltweit führenden Anbieter von Metaverse-Technologien und immersiven End-to-End-Web-Lösungen für Unternehmen und die Kreativbranche" bezeichnet, koste ein Projekt mindestens eine sechsstellige Summe, so Journee-Mitgründer und Co-CEO Thomas Johann Lorenz gegenüber OMR.

ROI-Denken statt blinde Euphorie

Allerdings, darauf legt Lorenz Wert, orientiere man sich immer am Return on Investment. "Wir bieten nur Anwendungsfälle an, von denen wir glauben, dass sie einen echten geschäftlichen Nutzen bieten können", so der Journee-CEO. Es gehe dabei um gesteigerte Konversionen, höhere Engagement-Metriken oder niedrigere Kosten im Vergleich zu anderen Kampagnen.

Journee Clinique.jpg

Dass das keine reine Pitch-Prosa ist, belegt ein aktueller Case von Journee für die Kosmetik-Marke Clinique. Für die hatten die Berliner eine Art phantastischen Flagship-Store erschaffen. Besucher*innen konnten ihn von der Clinique-Website aus über den Browser betreten und sich darin weitgehend frei bewegen. Es gab Spiele, individuelle Produktberatung durch virtuelle Assistentinnen sowie die Möglichkeit, Artikel direkt zu kaufen.  

Ein Fact-Sheet, das OMR vorliegt, zeigt, dass dieser Ansatz offenbar funktioniert. Im Vergleich zum Webshop der Marke erhöhte sich die Sitzungsdauer um 270 Prozent, die Konversionsrate stieg um 54 Prozent, der durchschnittliche Warenkorb wuchs um 10 Prozent. Ob die virtuelle Welt, an der zweieinhalb Jahre gearbeitet worden war, die Kosten wieder eingespielt hat, wird in dem PDF nicht gesagt. Jedoch ist laut Journey-Website geplant, die aktuell offline gestellte Experience zu bestimmten Anlässen zu reaktivieren und auszubauen.

Doch bald schon ein Milliardenmarkt?

Der Clinique-Case zeigt: Nachdem es anfangs wirkte, als würde es einigen CMOs um die eigene Eitelkeit gehen, während andere vielleicht die Angst trieb, einen Trend zu verpassen, existiert inzwischen – trotz all der Flops und enttäuschten Versprechen – ein valider Grund in Metaverse-Projekte zu investieren: Umsatz.

Die Erwartungen sind immens. Eine von Meta initiierte Studie kommt zum Schluss, das Metaverse werde im Jahr 2035 zwischen 420 und 760 Milliarden Dollar zum BIP der USA beitragen. Noch optimistischer war das Beratungsunternehmen McKinsey in einer Mitte 2022 veröffentlichten Analyse. Demzufolge könnte das Metaverse schon im Jahr 2030 global rund 5 Billionen Dollar zusätzliche Wertschöpfung generieren – das wären rund fünf Prozent der Gesamtleistung.

Das Metaverse wird Normalität

Selbst wenn man den Bias rausrechnet, mit dem ein selbsternannter Metaverse-Konzern und ein Beratungsunternehmen auf den Zukunftsmarkt blicken, bleibt eine Reihe von Argumenten, die dafür sprechen, dass das Metaverse tatsächlich eine kommerzielle Zukunft hat. Angefangen bei den künftigen Konsument*innen. Die verbringen bereits heute jeden Tag viele Stunden in digitalen Umgebungen, sei es im unendlichen Tiktok-Stream oder immersiven Gaming-Welten. 

Dann steigt die Adaption Metaverse-artiger Erlebnisse. Das Marktforschungsunternehmen Gartner prognostizierte Anfang 2022, also vor dem Hintergrund der Rückkehr zu post-pandemischen Zuständen, dass bereits im Jahr 2026 ein Viertel aller Menschen eine Stunde pro Tag oder länger im Metaverse unterwegs sein werde. Die Hauptbeschäftigungen dort: die Erledigung alltäglicher Dinge wie Arbeit, Socializen – oder Einkaufen. Nimmt man den letzten Punkt heraus, steckt hier das vielleicht stärkte Argument für das Metaverse.

Shoppen wie in den 90ern

Welches das ist? Die Antwort gibt es bei Amazon. "Unser Online-Einkaufserlebnis stagniert dort, wo es Mitte der 1990er Jahre begann", so brachte es neulich der Strategie-Experte Stéphane JG Girod in einem Artikel für das US-Wirtschaftsmagazin Forbes auf den Punkt. Anders gesagt: Bei Einkaufen im Web trifft eine überwältigende Auswahl auf eine seit Jahren kaum veränderte und insgesamt eher öde Experience.

Wie man sich bei Journee den Gegenentwurf vorstellt, das lässt sich im ganz aktuellen Projekt Mstylelab betrachten, das am 18. Oktober 2023 live gegangen ist. Die US-Kaufhauskette Macy's schickt ihre Kund*innen in eine virtuelle New Yorker Straßenschlucht. Über den Straßen schweben riesige Versionen von Kleidungsstücken aus der aktuellen Kollektion von Macy's neuer Eigenmarke On 34th – eine Referenz an die Adresse des Stammhauses. 

Journee Mstylelab Shopping Experience.jpg

Wie schon beim Metaverse, das Journee für Clinique gebaut hat, sind die Einbindung in die existierende E-Commerce-Plattform von Macy's sowie die Möglichkeit zentral, die realen Versionen der virtuell gezeigten Kleidungsstücke direkt shoppen zu können. Aber eben nicht als Eins-zu-eins-Nachbau des echten Kaufhauses, sondern als eine Plattform, die Bekanntes aus der realen Welt visuell spektakulär überformt und mit interaktiven Elementen anreichert. "Die Grenzen zwischen Stil, Entdeckung, Mode und Technologie zu verwischen" – darum gehe es beim Projekt für Macy's, so Journee-Mitgründer Lorenz.

Gibt es die perfekte Metaverse-Formel?

Nimmt man die Szenerie, die die Berliner da für Macy's kreiert haben, ergänzt diese um KI-basierte Produktberatung wie im Clinique-Case und erweitert das etwa durch die Möglichkeiten, den Content auf die Interessen – etwa die Kaufhistorie – der User zuzuschneiden – technisch gesehen kein großer Schritt –, kommt man ziemlich nah an die Vision, die E-Commerce-Vordenker Girod in seinem Forbes-Artikel als Zielstellung für das shoppable Metaverse ausgerufen hat: "Stellen Sie sich ein virtuelles Geschäft vor, in dem Sie sich wie in einem physischen Laden fühlen, aber unter Einbeziehung von Daten, Erkenntnissen (über die Kund*innen) und Storytelling auf Steroiden."

Dass McKinsey in virtuellen Welten einen immensen Umsatz wittert, wurde bereits erwähnt. Mit den im Juni 2023 veröffentlichten Ergebnissen einer Befragung konkretisiert die Unternehmensberatung das Thema auf die entscheidende Frage: Wie lässt sich das kommerzielle Potenzial des Metaverse erschließen?

Kund*innen wollen Bezug zur Wirklichkeit

Darin finden sich einige Erklärungen, warum die während der Pandemie getypten Visionen von virtuellen Welten, in denen Menschen ihre virtuellen Stellvertreter mit virtueller Kleidung versorgen, für die sie viel reales Geld ausgeben, weitgehend gefloppt sind. 

So seien die Befragten deutlich zahlungsbereiter, wenn die dort angebotenen Produkte eine irgendwie geartete Rückbindung in die reale Welt hätten. Das muss nicht unbedingt heißen, dass nach dem Kauf eines virtuellen Sneakers am nächsten Tag der echte Schuh geliefert wird. Es geht um irgendeinen Mehrwert außerhalb des Metaverse, etwa Zugänge zu Events oder ähnliche IRL-Perks. Dasselbe gelte auch für Aktivitäten innerhalb der virtuellen Realität, heißt es in der Zusammenfassung der Ergebnisse.

Niemand will mehr virtuell Clubben

Interessant ist in diesem Zusammenhang, was die Befragten sich besonders wünschen – und worauf sie gerne verzichten: Im Bereich Fashion und Beauty ist etwa die digitale Anprobe in Geschäften extrem beliebt. Als uninteressant gelten dagegen ausgerechnet die Metaverse-Darlings der Branche: virtuelle Modeschauen und rein digitale Geschäfte. Wenn es um Experiences geht, dann liegen Reisen zu unbekannten Orten oder in andere Zeiten hoch im Kurs. Nicht aber virtuelles Clubbing – was einen der größten Fails der jüngeren Metaverse-Geschichte erklären dürfte. Und im "Home" genannten Sektor interessieren sich die Menschen für virtuelle Besichtigungen echter Häuser und Produktdemos. Aber nicht für die Spekulation mit virtuellen Grundstücken und Immobilien.

"Unsere allgemeine Erkenntnis ist, dass Verbraucher sich von Metaverse-Nutzungsfällen angezogen fühlen, die Spaß machen oder unterhaltsam sind – nur vielleicht nicht in der Art und Weise, wie Marken es vielleicht erwartet haben", heißt es in dem McKinsey-Report. Was lässt sich daraus für die Zukunft von E-Commerce im Metaverse schließen? 

Was wird aus dem Metaverse?

Erstens ein eher verhaltener Optimismus, was die virtuellen Pop-up-Läden und Flagship Stores von Journee angeht. Dass die den klassischen Webshop ablösen, scheint eher unwahrscheinlich. Dass die Berliner den richtigen Weg gehen, wenn sie eine möglichst enge Einbindung in das bestehende E-Commerce-Ökosystem ihrer Kunden propagieren, ergibt darum viel Sinn.

Am Ende sind virtuelle Welten dann eben doch eher der digitale Flagship-Store für Marken – mit dem entscheidenden Unterschied, dass man sie aus der schnöden 2D-Webshop-Filiale heraus mit nur einem Klick betreten kann. Und ganz am Ende ist halt nach wie vor komplett ungewiss, ob nicht doch bald das eine iPhone-hafte Killer-Device vom Himmel fällt, das einen wirklichen Metaverse-Boom auslöst.

Verbindung von analog und digital

Und zweitens, dass die Zukunft des Metaverse nicht allein in der virtuellen Welt steckt. Die vom Rest losgelöste, in sich abgeschlossene Blase verspricht weniger Erfolg als die kluge Verlängerung von analog zu digital sowie die gegenseitige Verknüpfung beider Sphären.

Wie das über Integration von shoppablebaren Produkten hinausgehend aussehen kann, das zeigt gerade die ebenfalls in Berlin ansässige Metaverse-Kreativagentur Artificial Rome. Die hat für eine neue Subbrand des italienischen Lifestyle-Labels Diesel eine ganze Kampagne rund um das Metaverse, Avatare und NFTs gestrickt. Letztere ermöglichen den Besitzer*innen Zugang zu einem besonderen Modell einer Uhr. Es gibt zudem die Metamorph genannte virtuelle Welt mit einem Adventure-Game sowie virtuellem Konzert. Also an sich alles keine neuen Dinge, aber konsequent verknüpft um eine Marke herum, die man als Metaverse-native umschreiben könnte. Wie gut das funktioniert, wird sich nach dem offiziellen Launch am 2. November zeigen.

Metaverse, VR, AR, whatever

Und drittens legt die McKinsey-Umfrage nahe, dass man das Metaverse gewissermaßen aus der Virtualität heraus holen muss. Es lässt sich darüber streiten, ob man virtuelle Anproben dann überhaupt noch als Metaverse verstehen sollte. Wichtiger als die Frage ob VR, AR oder whatever ist ganz offensichtlich, dass man den Kund*innen Nutzwert liefert. Den Erfolg dabei wie Journee an konkrete KPIs zu binden, scheint dabei auf jeden Fall hilfreich.

Dort ist man sich auf jeden Fall sicher: Das Metaverse wird im E-Commerce in Zukunft eine immer größere Rolle spielen. "Wir glauben, dass die Menschen dort einkaufen werden, wo es am angenehmsten, bequemsten und zugänglichsten ist", sagt Co-CEO Lorenz. Und genau das biete seine Plattform. 

Von Kunst zum Kommerz

Die entstand dabei gar nicht mit Kommerz im Sinn, sondern als Präsentationsraum für Kunst. Ursprünglich wurde sie nämlich entwickelt, weil die beiden Journee-Gründer während des Lockdowns 2020 einen Ort brauchten, um eine von einer KI gestaltete Marmorskulptur zumindest virtuell ausstellen zu können. So entstand der Kern der Technologie, bei der sonst im Gaming-Bereich eingesetzte Grafik-Engines genutzt werden, um in Echtzeit virtuelle Welten zu kreieren, die dann über den Browser auf die Endgeräte gestreamt werden. 

Doch schnell hätten sie das Potenzial für immersive Webanwendungen im Unternehmensbereich erkannt, so Lorenz, der Erfahrung im digitalen Handel hat. Also hätten sie nach Möglichkeiten gesucht, "als ernstzunehmender Anbieter von Unternehmenssoftware wahrgenommen" zu werden. Schaut man sich Journees Kundeliste an und den Umstand, dass das Startup in Jahr vier nach der Gründung bereits 100 Mitarbeitende hat und bislang ein mittlerer zweistelliger Millionenbetrag investiert wurde, scheint das ganz gut geklappt zu haben.

MetaverseVirtual RealityE-Commerce
Christian Cohrs
Autor*In
Christian Cohrs

Editor & Content Strategist bei OMR und Host des FUTURE MOVES-Podcasts. Zuvor war er Redaktionsleiter des Wirtschaftsmagazins Business Punk in Berlin, Co-Autor des Sachbuchs "Generation Selfie".

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