Lügen, klauen, plagiieren: So ertricksen „Biz-Influencer“ Mega-Reichweiten auf Linkedin

OMR enthüllt die Methoden und zeigt Beispiele

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Neun Milliarden Abrufe sollen Posts auf Linkedin in Summe bereits im Jahr 2016 wöchentlich (!) generiert haben. Seitdem dürfte diese Zahl nochmals deutlich gestiegen sein. Kein Wunder also, dass viele versuchen, ein Stück von dieser enormen Aufmerksamkeit und Reichweite im LinkedIn Marketing für sich abzuzwacken. Manche Nutzer*innen setzen dabei jedoch offenbar wenig seriöse Methoden ein: Sie erfinden Geschichten oder kopieren komplette Posts anderer Nutzer und generieren damit teilweise selbst enorm hohe Abrufzahlen. OMR ist tief in den Sumpf zweifelhafter „Linkedinfluencer“ eingestiegen.

400.000 Views und 2.000 neue Follower*innen in nur einer Woche – von diesem Erfolg berichtet ein indischer, selbst ernannter „Growth Hacker“ im Mai dieses Jahres in einer Facebook-Gruppe, in der sich mehr als 11.000 Mitglieder*innen darüber austauschen, wie man gezielt Reichweite auf Linkedin aufbauen kann. Zumindest den ersten Teil seiner Behauptung belegt das Gruppen-Mitglied mit sechs Screenshots, in denen zu sehen ist, wie viele Views die jeweiligen Posts generiert haben – also wie häufig sie anderen Linkedin-Nutzer in ihren Feeds ausgespielt worden sind.

Mehr als 200.000 Views mit nur einem Post: Mit einem Screenshot aus seinem Account belegt ein indischer „Growth Hacker“ den Erfolg seiner Strategie (Screenshot bearbeitet und anonymisiert von OMR)

„Linkedin ist fake“

Zwar könnten die Screenshots der Linkedin-Posts mit den enormen View-Zahlen retuschiert sein. Doch in einem ausführlichen „Case Study“-Dokument, das der „Growth Hacker“ an die Mitglieder der Facebook-Gruppe verteilt, verlinkt dieser sogar direkt die entsprechenden Post auf der Plattform. Sie weisen teilweise ein enormes Engagement auf, mit bis zu vierstelligen Reaktions- und dreistelligen Kommentar-Zahlen. Das macht seine Behauptungen durchaus glaubhaft.

Das Erfolgsrezept des „Growth Hackers“? „Du musst Dich vollkommen darauf einlassen, dass Linkedin fake ist.“ Die Menschen würden es auf Social-Media-Plattformen gar nicht unbedingt schätzen, wenn man ehrlich sei und sich verletzlich gebe, so der „Growth Hacker“ weiter. Stattdessen solle man sich „punktuell verletzlich“ geben: „Die Menschen wollen, dass Du Schmerz oder ein Erlebnis als Tor zu Hoffnung, Inspiration und Glaube nutzt.“ Wenn man also über einschneidende persönliche Erlebnisse poste, müsse die Geschichte mit einer Art Höhepunkt enden. „Ich nenne das ‚falsche Verletzlichkeit‘.“

„Du musst Dich vollkommen darauf einlassen, dass LinkedIn fake ist“ – ein Screenshot der „Case Study“, in der ein „Growth Hacker“ Tipps dazu gibt, wie man auf LinkedIn mit viralen Posts enorme Reichweiten generieren kann (Hervorhebung durch OMR)

(Ausgedachte?) „Emotions-Pornos“ sorgen für Reichweitenrekorde

Die Linkedin-Beiträge, die der „Growth Hacker“ als erfolgreiche Beispiele für die Umsetzung dieser Strategie anführt, sind dementsprechende „Schicksals-“ oder „Emotions-Pornos“: Mehrfach schreibt er von einem Selbstmordversuch vor einigen Jahren, von seinen Erfahrungen mit Depressionen, von finanziellen Problemen durch die Corona-Krise, von einem gescheiterten Studium. Stets sind die Posts „Mobile-optimiert“ in der „Eine Satz pro Absatz“-Form geschrieben, stets enden sie mit einer positiven Note auf Kalenderspruchniveau: „Verlier nicht die Hoffnung, eines Tages wird alles Sinn ergeben; wenn ich das durchstehen kann, schaffst Du das auch.“

Finanzielle Schwierigkeiten, Selbstzweifel, Depressionen – stets beginnen die Posts des „Linkedin Growth Hackers“ mit der Offenbarung persönlicher Probleme (Screenshot von OMR anonymisiert)

Ob die und in welchem Maße die Posts auf der tatsächlich stattgefundenen Ereignissen beruhen, ist von außen kaum zu erkennen. Andere Nutzer, die unter den Posts kommentieren, scheinen den Geschichten Glauben zu schenken. „Inspirierend!“, schreibt ein Linkedin-Nutzer, „Es ist wichtig, dass wir uns nicht selbst aufgeben“ ein anderer. Wie die Screenshots des „Growth Hackers“ zeigen, hat nur einer der Posts eine vierstellige Zahl an Views, die meisten deutlich fünfstellige Zahlen, einer sogar über 200.000 Views. Er habe dieses Engagement ohne die Zuhilfenahme von Pods generieren können (wir hatten bereits an dieser Stelle über die „Likest Du meinen Post, like ich Deinen“-Gruppen geschrieben).

„Cringe Content“ mit ausgedachten Kinderzitaten

Der US-Comedian John Hickey sammelt und postet mit dem ironisch betitelten Twitter-Account „Best of LinkedIn“ (anonymisierte) Screenshots von aus seiner Sicht besonders unangenehmen, peinlichen Posts und macht sich damit über die Kultur der Plattform lustig. „Das sind isolierte Gruppen von Menschen, die sich gegenseitig auf die Schulter klopfen, und das immer wieder im Kreis“, so Hickey im August 2019 gegenüber der New York Times.

Hickey scheint davon auszugehen, dass viele der von ihm veröffentlichten Posts ganz einfach ausgedacht sind. Ein besonderes Faible hat er für Posts entwickelt, in denen die jeweiligen Autor*innen von „inspirierenden“ oder „emotionalen“ Erfahrungen berichten, die sie angeblich mit ihrem Kind erlebt haben. Etwa jener, in dem ein Linkedin-Nutzer berichtet, dass der eigene Sohn in einem Schulaufsatz geschildert habe, dass der Vater einem Obdachlosen 50 US-Dollar geschenkt habe. Comedian Hickey hat für „Cringe Content“ wie diesen eigens den Hashtag #MadeUpKidMonday etabliert, der bereits von anderen Twitter-Usern aufgegriffen wurde.

Views im Millionen-Bereich – mit nur einem Post

Eine weitere Masche, mit der „aufstrebende LinkedIn-Influencer“ aktuell teilweise durchaus beachtliche Reichweiten generieren, ist das Klauen und Kopieren kompletter viraler Posts anderer Nutzer. Nachdem in der Vergangenheit dubiose „Business Influencer“ auf Linkedin bereits mit geklauten Viralvideos auf der Plattform enorme Reichweiten erzielt haben („Linkedin dreht die Video-Reichweite auf und seltsame ‚Business Influencer‘ nutzen das aus“) , sind es nun vor allem Textposts, die geklaut werden.

„Wir haben gerade einen Gen-Z-Bewerber mit null Erfahrung eingestellt. Und zwar deshalb…“, berichtet die Gründerin einer „Growth Academy“ vor rund neun Monaten in einem Post auf Linkedin. Der/die Bewerber*in (das Geschlecht wird aus dem Post nicht ersichtlich) sei pünktlich, gut angezogen und vorbereitet, interessiert und aufmerksam gewesen. „Seid ein Mensch, der anderen die Chance gibt, auf die sie gewartet haben!“, endet der Beitrag. Der Anekdoten-Post generierte massives Engagement: mehr als 235.000 Reaktionen und 5.400 Kommentare schlagen bislang zu Buche. Bedenkt man, dass Linkedin-Posts mit einer fünfstelligen Zahl an Reaktionen und einer dreistelligen Zahl an Kommentaren bereits siebenstellige Views verzeichnen können, könnte die Gen-Z-Bewerberanekdote sogar achtstellige Abrufzahlen generiert haben.

Fünfstellige Reaktionen mit geklauten Posts

Andere Nutzer waren von dieser Viralität offensichtlich so „beeindruckt“, dass sie den Beitragtext kopierten und nochmals selbst posteten – wohl in der Hoffnung, einen ähnlichen viralen Erfolg zu landen. Wer den ersten Satz des Posts in die Linkedin-Suche eingibt, stößt auf 60 Posts; viele von ihnen mit dem identischen Text. Manche der Plagiatoren kennzeichnen den Beitrag am Fußende mit dem Hashtag #copied oder dem Vermerk „Repost“ als Kopie. Für das Reposten von Beiträgen ist eigentlich die „Teilen“-Funktion auf Linkedin vorgesehen. Doch geteilte Beiträge haben ein geringeres Reichweitenpotenzial als originäre.

Ein Blick in die Ergebnisse bei einer LinkedIn-Suche nach dem Satz „we just hired a gen-z candidate with zero experience“

Für den Gründer eines US-Unternehmens, das Fitness-Flüssignahrung verkauft, und der den Post als „Repost“ gekennzeichnet hat, hat sich das Vorgehen gelohnt: mehr als 8.300 Reaktionen und fast 500 Kommentare hat seine Kopie eingesammelt. Erstaunlicherweise hat die ursprüngliche Autorin ihren Beitrag selbst erneut noch fünf Mal jeweils als neuen Beitrag abgesetzt. Auch hier mit Erfolg: vier- bis fünfstellige Reaktionszahlen und drei- bis niedrig vierstellige Kommentarzahlen konnten die „Selbstplagiate“ jeweils einsammeln.

770.000 Reaktionen mit menschelnder Anekdote

Es ist offenbar bei Weitem nicht das einzige Beispiel für geklaute Viral-Posts auf Linkedin. Meist drehen sich die Beiträge um die Arbeitswelt und speziell um Bewerbungen, Bewerbungsgespräch und Neueinstellungen. Erst vor wenigen Wochen postete der „Best of LinkedIn“-Twitter-Account Screenshots von Linkedin-Posts vier unterschiedlicher Nutzer mit genau demselben Beitragstext. Im Mittelpunkt erneut eine Anekdote über einen angeblichen Bewerber, der sich bei einem Interview per Skype unprofessionell präsentiert habe und vor Dankbarkeit in Tränen ausbrach, nachdem er die Stelle trotzdem bekommen habe. „Ich habe gelernt, über niemanden vorschnell zu urteilen“, so die „Moral der Geschichte“.

Ursprünglich hatte die Anekdote ein App- und Web-Entwickler aus Toronto gepostet und damit fast 770.000 Reaktionen und mehr als 33.000 Kommentare eingesammelt. Wer den ersten Satz des Beitrags („I interviewed a candidate through Skype last week“) in die Linkedin-Suche eingibt, stößt auch in diesem Fall auf diverse Kopien des Posts. Einige der Beiträge sind mittlerweile gelöscht, hatten davor aber fünfstellige Reaktions- und vierstellige Kommentarzahlen einheimsen können. Aktuell weist die Linkedin-Suche immer noch mehr als 200 Beiträge aus, die denselben oder einen ähnlichen Satz beinhalten. Manche davon verzeichnen vierstellige Reaktions- und dreistellige Kommentarzahlen.

Ferrari statt Tesla – und schon ist es keine Kopie mehr!

Vor wenigen Wochen äußerte Liz Willets auf Linkedin („The #1 marketer to follow on LinkedIn“) Unmut darüber, dass Ihr viraler Post von mehreren Nutzern einfach kopiert worden und Plagiarismus auf Linkedin an der Tagesordnung sei. Willets hatte den Grundton vieler viraler Linkedin-Posts parodiert: „Ich bin entlassen worden. Es war das beste, was mir je passiert ist. Jetzt bin ich ein 29-jähriger Millionär mit vier Teslas und drei Häusern. Klingt zu gut um wahr zu sein? Ist es. Hab ich mir alles ausgedacht.  Beneidet nicht Menschen auf Social Media. Sie neigen dazu, ihre Erfolge zu übertreiben“, so der Text.

Mit fast 85.000 Reaktionen und 2.300 Kommentaren wurde der Post ebenfalls zum kleinen Viral-Hit. Die meisten der Plagiate scheinen mittlerweile gelöscht zu sein. Willets gibt an, einige der Plagiatoren angeschrieben zu haben. Eine Kopie lässt sich immerhin noch über die Linkedin-Suche finden, die immerhin 400 Reaktionen und 50 Kommentare eingesammelt hat. Der Poster hat sich trickreich vor einem möglichen Plagiatsvorwurf geschützt: er hat die Altersangabe und die Marke des genannten Autos abgeändert.

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Roland Eisenbrand
Autor*In
Roland Eisenbrand

Roland ist seit mehr als zehn Jahren als Journalist in der Digitalbranche aktiv. Seit 2014 verantwortet er als Head of Content (und zweiter Mitarbeiter) alle inhaltlichen Komponenten von OMR, darunter vor allem den OMR Blog und redaktionelle Arbeit rund um das OMR Festival.

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