Youtube-Phänomen Firekitchen: Outdoor-Abenteuer am Reißbrett geplant

Mit dem Kanal "Firekitchen" wollte Fabian Bettinger beweisen, über einen datengetriebenen Ansatz enorme Reichweite erzielen zu können – und machte sich dafür auf in die Wildnis.

Inhalt
  1. Kunstfigur mit Cowboyhut
  2. Ein Korb von Gruner + Jahr
  3. Lachs ist ein Low-Performer
  4. Eigener Channel auf Roku

Die Macher der Firekitchen haben auf Basis von Datenanalysen zu Trends, Algorithmen und Metriken einen Kanal gebastelt, um im sozialen Universum maximale Viralität hervorzurufen. Das Ergebnis: ein archaischer Outdoor-Mann am Feuer, der in eine Fleischkeule beißt. Über 3,6 Millionen Follower*innen über alle Social-Media-Plattformen hinweg, hunderte Millionen Streams und zahlreiche Kooperationen geben ihren recht. Wie wird man dem Algorithmus zuliebe zum Outdoor-Romantiker?

Das Feuer ist heiß, der Rauch rauchig. Was nachher auf Social Media so aussehen wird wie der Traum jedes Outdoor-Fans – die unendliche Weite der norwegischen Fjorde, das türkise Wasser, das Knistern der Holzscheite in den Flammen, darauf ein riesiges Stück Fleisch – ist in Realität Knochenarbeit. Stundenlang sitzt Fabian Bettinger bei den Dreharbeiten so nah am Feuer, dass der Oberschenkel vor lauter Hitze brennt, seine Augen auch. Extrem anstrengend sei das, sagt er. Aber Feuer ist sein Markenzeichen, da hilft es nicht, auf Abstand zu gehen. "Es heißt nicht umsonst Firekitchen: Ich will immer Feuer im Bild haben." Als Gesicht des Outdoor-Cooking-Kanals bereitet er in vielen hunderten Videos auf Social Media Rehkeulen, Schweinebauch, Königskrabben, Kaninchen, Wildschwein oder Straußenspiegeleier in der Natur zu. Doch wer glaubt, dass Fabian Bettinger passionierter Pfadfinder sei, liegt falsch.

"Wir waren ursprünglich gar nicht die größten Outdoor-Enthusiasten", eröffnet sein Geschäftspartner Ali Jamshidi das Gespräch mit OMR. Stattdessen haben die beiden Hamburger versucht, das perfekte Rezept für Social Media zu kreieren, lange bevor sie jemals mit den Köpfen über einem gusseisernen Kochtopf hingen. Sie haben zusammen studiert, sich auf Regie und Kamera spezialisiert und dann überlegt, wie sie ihre Skills als Filmemacher und die Power der Datenanalyse vereinen können, um in den sozialen Medien durchzustarten. Sie haben Trends analysiert, Daten ausgewertet, versucht, Algorithmen und Metriken der Plattformen nachzuvollziehen. Und stellten durch ihre Analysen nach Trendthemen und -formaten fest: Wer ins Social Listening Center hinein horcht, kommt im Wald wieder heraus.

Inzwischen sind sie mit über 3,6 Millionen Follower*innen auf Youtube, Tiktok, Facebook, Instagram, Snapchat oder Twitch der größte Outdoor-Cooking-Kanal Deutschlands. Allein auf Youtube haben sie bis heute mehr als 900 verschiedene Videos hochgeladen, die über 220 Millionen mal aufgerufen wurden. Durch die große Reichweite lässt sich die Firekitchen über verschiedene Wege monetarisieren, durch Kooperationen mit Marken und Product Placements, durch die Zweit- und Drittverwertung ihrer Videos auf anderen Kanälen oder den Verkauf von Messern oder Gewürzmischungen im eigenen Online-Shop. Schon seit der ersten Staffel sei ihr Projekt profitabel, sagen die beiden Geschäftspartner, die auch die Hamburger Mediaagentur Fjul leiten. Und sie haben große Zukunftspläne für "ihr Baby". Am Anfang, im Jahr 2017, aber gab es nur Daten und den Ehrgeiz, etwas zu beweisen: Wie man durch einen datenbasierten Ansatz maximale Reichweite erschaffen kann.

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Follower*innen-Entwicklung von 2017 bis heute. Quelle: Fjul

Kunstfigur mit Cowboyhut

Aus den Analysen zu potenziellen Themen und Formaten versuchen die beiden, so viele Trends wie möglich miteinander zu verbinden, prognostiziert werden damals ASMR, Outdoor Cooking, Barbecue, Fire und Nature Living. "Diese Themenfelder haben wir zusammengegossen und daraus ist die Firekitchen entstanden", sagt Ali Jamshidi. Andere Trendthemen wollen nicht so recht in ihr Content-Menü passen, das möglichst vielen Menschen schmecken soll. User*innen im Internet wünschen sich laut Datengrundlage Comedy-Content, aber: "Entertainment und Comedy hat in Verbindung mit ASMR hat nicht funktioniert, weil das Sprache erforderte", erklärt Fabian Bettinger. Im ASMR-Content wiederum sehen sie den großen Vorteil, dass er international ausgespielt werden kann. Auch auf die Einbindung des Trendthemas "Pets" verzichten sie, um die Dreharbeiten zu vereinfachen – obwohl Ali einen Hund hat. "Wir hätten ihn da auch noch einbauen können, der hätte vielleicht mit am Feuer gelegen. Aber wer vom Film kommt, weiß: Nie mit Kindern und Tieren drehen."

So entsteht nicht nur die Marke Firekitchen, sondern auch Fabians Rolle, eine Art Kunstfigur. Vielleicht hätte er auch der Martin Rütter von Tiktok werden und mit Haustier-Comedy durchstarten können. Stattdessen aber wird er zum Mann, der über dem Feuer sein "Männerfrühstück" zubereitet, draußen in der menschenleeren Natur Skandinaviens, Cowboyhut inklusive. So ganz genau sagen, ob Strauß oder Ei zuerst da war, lässt sich dann aber doch nicht. Sein Vater war Jäger und Förster, er habe dadurch eine natürliche Affinität zur Natur gehabt, sagt er. Auch der Kulinarik sei er zugetan. Aber er ist niemand, der bei Wind und Wetter am liebsten unter einem Tarp-Zelt schläft und seine Nahrung als Jäger und Sammler im Wald zusammensucht – bis zu diesem Punkt.

Ein Korb von Gruner + Jahr

Mit dem Start der Firekitchen geht es für Fabian Bettinger, Ali Jamshidi und ihr Team raus in die Natur. Das Konzept, das sie am Reißbrett akribisch geplant haben, und was bei der Vorstellung bei Gruner + Jahr und dem Angebot einer Beteiligung nur auf ein müdes Lächeln stieß: "keine Erfolgschancen, zu nischig", setzen sie jetzt auf eigene Faust um: Fast eine Viertelmillion investieren sie in ihre erste Staffel, die sie in Norwegen aufwendig produzieren. Ab Mai 2017 beginnen sie, ihre ersten Videos hochzuladen "Die haben dann niemanden interessiert, wir hatten ein paar 100 Follower." Aber Fabian und Ali vertrauen auf ihre Daten, machen weiter und sind geduldig. "In der Reichweiten-Planung kann man relativ genau und zuverlässig vorhersagen, in welchem Umfeld in welcher Zeit man algorithmisch über welche Metriken welche Benchmarks lösen kann", sagt Ali, der Stratege.

Und tatsächlich sei ihr Prediction-Date zum Monat, an dem sie laut Glaskugel viral gehen sollten, fast ein Volltreffer gewesen: "Plötzlich hat ein sehr guter Freund angerufen, der einer unserer wenigen hundert Abonennten war, der meinte: Was passiert denn da gerade?", erinnert sich Ali Jamshidi. "Dann haben wir Youtube aufgemacht." Dort geht im Dezember 2018 eine Gans im Dutch Oven viral, ein Meilenstein für ihren Kanal. Innerhalb der nächsten sechs Monate werden aus 22.000 Follower*innen 100.000.

Heute folgen ihnen auf Youtube mehr als 791.000 Menschen, für sie produzieren die Firekitchen-Macher aus Leidenschaft. Aber auch der wirtschaftliche Erfolg ist von Beginn an im Fokus, mit ihrem Content wollen sie daher primär eine Zielgruppe mit mittlerem bis hohem Haushaltseinkommen ansprechen. Als wichtigste Märkte haben sie für sich neben dem DACH-Raum Indien und Amerika ausgemacht. Auf die Frage, wie viel Umsatz sie mit der Firekitchen bereits gemacht haben, wollen sie sich nicht äußern, geben aber einen kleinen Einblick: Ein viraler Beitrag mit einer Million Klicks könne in Ländern mit einem starken RPM schon mal in die Zehntausende Euro gehen, sagen sie. Dadurch sei ihnen anfangs der erste große Ausflug in die schwarzen Zahlen gelungen, sagt Ali Jamshidi. Darüber hinaus ist die Liste der Kooperationspartner lang, darunter Petromax, ein Shop für Outdoor-Zubehör, die Messer-Marke Schmiedeglut, der Online-Metzger Der Ludwig oder Montana Blacks Drinkmarke Gönrgy.

Lachs ist ein Low-Performer

Die Hamburger Feuerköche treffen mit ihrem Content einen Nerv, aber sie sind bei weitem nicht die einzigen, die auf den Trend Outdoor-Kochen gekommen sind. Auf den sozialen Plattformen gibt es zahlreiche Kanäle, die ähnlichen Content produzieren und beachtliche Follower*innen-Zahlen hervorbringen: So wie der britische Account MenWithThePot, der mit 1,57 Millionen auf Youtube fast doppelt so viele Follower*innen hat wie die Firekitchen (791 Tsd.). Auch hier wird ASMR mit Outdoor-Cooking verbunden. Almazan Kitchen (3,85 Millionen) liefert "the most epic foodporn" aus den serbischen Wäldern. Auf dem Kanal Wilderness Cooking (5,65 Millionen Follower*innen) werden gigantische Fleischbatzen zubereitet. Der Kanal Country Life Vlog zeigt das Leben und Kochen einer Familie auf einem Bauernhof in Aserbaidschan und begeistert 6,25 Millionen Menschen. Was begeistert so viele Menschen am Kochen in der freien Natur?

Fabian Bettinger und Ali Jamshidi haben auf diese Frage eine klare Antwort: Menschen würden sich nach Räumen der Entschleunigung und des Genusses von Dingen sehnen, die außergewöhnlich sind – "selbst wenn sie es selbst in ihrem Leben gar nicht umsetzen würden." Diesen Wunsch wollen sie mit ihren majestätischen Drohnenaufnahmen entlegener Fjorde, Nahaufnahmen in 8k, die das Gefühl vermitteln, die Flammen fast spüren, das Fleisch fast schmecken zu können, bedienen. Es braucht dafür keine Musik, nur die Geräusche der Natur, die eintauchen lassen, in die Welt, die ganz anders ist als die eigene. Welcher Content wo gut angekommt, ist je nach Kultur, aber auch nach Plattform ganz unterschiedlich: Snapchat liebt Seafood, haben die beiden mit der Zeit gelernt. Lachs sei ein Low-Performer, weil "Menschen Lachs nur sehen wollen, wenn er in einem hygienischen Umfeld zubereitet wird", in Indien sorgt Hähnchen-Content für Euphorie.

Dabei soll der Outdoor-Cooking-Content vielmehr Entschleunigung bieten als Kochinspiration: "Es würde ja niemand völlig irrsinnig ein 2000 Euro Stück Kobe einfach auf ein Feuer legen oder ein Spiegelei von einem Straußenei essen, was 25 normalen Eiern entspricht. Da würde wohl kein Kardiologe raten, dass du das regelmäßig konsumieren sollst", sagt Ali Jamshidi. Dass ihre Zutaten nicht alltagstauglich sind, störe aber nicht, im Gegenteil: "Mitnichten sind die Leute, die Firektichen konsumieren, diejenigen, die in den Wald gehen und da kochen, sondern eher der Mittelstand, der auf seiner Terrasse oder seinem Balkon den Weber-Grill anschmeißt", erklären die Geschäftspartner.

Eigener Channel auf Roku

Für die Zukunft haben die beiden große Pläne. Sie wollen doch mal ihre Fühler in Richtung Comedy ausstrecken, mit erfolgreichen Influencer*innen aus Deutschland zusammenarbeiten, neue Formate entwickeln und aus der Marke Firekitchen ein ganzes Ökosystem erschaffen. "Wir werden aktuell auch beim amerikanischen Streamingdienst Roku ongeboardet, da bekommen wir einen eigenen Channel", erzählt Fabian Bettinger. Die beiden sind längst nicht müde, wenn es um neue Ideen geht, wie sie ihren Erfolg ausweiten können. Und es sind nicht nur die eigenen Kanäle, durch die sich ihre Reichweite potenziert. Im asiatischen Raum sind dabei auch Reaction-Videos ein wirksamer Hebel und sorgen dafür, dass Menschen selbst auf der Straße in Südkorea mit ihm Fotos machen möchten. "Wenn ich meinen Anglerhut trage, werde ich häufig erkannt", sagt Bettinger.

Auf die Frage, wie authentisch er sich in der Abenteurer-Rolle fühle, erzählt Fabian Bettinger die Hintergrundgeschichte eines Drehs für ein aktuelles Video. Vorher habe er alles bis ins Detail geplant, sagt er: "Ich mach' ne Kingscrab in Kombination mit Gönrgy. Ich friere die vorher ein in einen Eisblock und dann schlag ich die wie ein Bildhauer aus diesem Block, weil ich einen Kooperationspartner habe, der Whisky macht. Also mach ich einen Whisky on the Rocks", sagt er. Er recherchiere vorab in den Trends: Gibt es sowas schon mal? Was kann er noch einbinden, um Reaktionen zu triggern oder dafür zu sorgen, dass der Inhalt vom Algorithmus als relevant eingestuft wird? "Aber dann kommt der Moment, an dem ich am Feuer sitze und alles andere vergesse. Dann ist man diesem strategischen Plan unfassbar fern."

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Tanja Karrasch
Autor*In
Tanja Karrasch

Tanja Karrasch ist Redakteurin bei OMR. Vor ihrem Wechsel arbeitete sie für die TV-Produktionsfirma Bavaria Entertainment und war als Redaktionsleiterin für zwei ZDF-Shows zuständig. Sie hat bei der Tageszeitung Rheinische Post volontiert und anschließend als Redakteurin gearbeitet.

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