Die Tricks des Andrew Tate: Mit Provo-Content & einer Affiliate-Armee zum König der Feeds
Der "Get rich quick"-Guru ist derzeit allgegenwärtig – hat aber auch diverse dunkle Seiten
- 5.400 Prozent mehr Suchanfragen bei Google
- Misogynie als fragwürdiger Reichweitenhebel
- Webcam-Abzocke als Geschäftsmodell
- Razzia wegen Menschenhandel-Anschuldigungen
- Reichweitenstarke Provo-Podcasts als Bühne
- „Ich habe nie für Werbung bezahlt“
- Das Vollprogramm für angehende „Alphamänner“
- 3,2 Millionen US-Dollar Monatsumsatz?
- Frauenrechtsorganisationen erhöhen den Druck
Egal ob Tiktok, Youtube oder Instagram: Auf den meisten digitalen Plattformen gibt es aktuell kaum ein Vorbeikommen an Andrew Tate. Der britisch-amerikanische Ex-Kickboxer hat innerhalb der vergangenen sechs Monate durch Kurz-Videos, in denen er zum Teil provokante „Lebensweisheiten“, darunter einige äußerst frauenverachtende Aussagen, von sich gibt, eine enorme Sichtbarkeit und Bekanntheit aufgebaut. Dabei betreibt der 35-Jährige einen Großteil der Accounts, die diese Inhalte verbreiten, offenbar nicht einmal selbst. OMR zeigt sowohl, wie groß das Phänomen ist, als auch dessen dunkle Seite und enthüllt gleichzeitig das „System Tate“.
11,9 Milliarden Views weist Tiktok aktuell für alle Videos aus, die mit dem Hashtag #andrewtate versehen sind – dabei betreibt Tate selbst (zumindest dem Augenschein nach) gar keinen eigenen Account auf der Plattform. Mehrere von Dritten hochgeladene Kurz-Clips mit Ausschnitten aus Interviews mit Tate verzeichnen auf Tiktok Abrufzahlen im zweistelligen Millionenbereich. Youtube weist zum Hashtag #andrewtate aktuell knapp 95.000 Videos von mehr als 12.000 Kanälen aus. Die am häufigsten abgerufenen darunter verzeichnen hohe siebenstellige View-Zahlen. Und auch auf Instagram lassen sich Reels mit Statements von Tate finden, die Abrufe im Millionenbereich angesammelt haben – von ihm selbst, aber auch von anderen Accounts hochgeladen. Ein Großteil dieser Reichweite dürfte innerhalb der vergangenen sieben bis acht Monate entstanden sein.
Wer einen Herzinfarkt bekommt, ist ein Weichei und kann deswegen nicht mit Andrew Tate befreundet sein: Dieser Kurz-Clip hat auf Tiktok bislang 16 Millionen Views angesammelt
5.400 Prozent mehr Suchanfragen bei Google
Er werde mittlerweile häufiger gegooglet als Donald Trump, behauptete Tate vor Kurzem in einem Podcast – offenbar auf Basis von Daten von Google Trends. Ruft man die Suchvolumina über Googles Keyword Planer ab, ergibt sich jedoch ein anderes Bild: An die Zahl der Suchanfragen von Trump oder anderen Promis wie Elon Musk und Kim Kardashian kommt Tate zwar noch nicht heran. Im Vorjahresvergleich ist das Suchvolumen zu seinem Namen jedoch um mehr als 5.000 Prozent gestiegen – auf nun fast eine halbe Million Suchabfragen im Monat.
Tate ist ein ehemaliger Profi-Kickboxer, der sich mittlerweile als halbseidener, aber erfolgreicher Geschäftemacher (oder wie er es nennt: „Top G“) und Erfolgs-Guru inszeniert – inklusive der typischen Statussymbole wie Edelkarossen, Zigarren und dicken Uhren. Davon gibt es viele. Wie und mit welchen Inhalten ist es nun gerade Tate gelungen, eine solche Aufmerksamkeit zu generieren?
Misogynie als fragwürdiger Reichweitenhebel
Es sind vor allen Dingen kurze Schnipsel aus Interviews, mit denen der 35-Jährige immer wieder in den Feeds der Social-Plattformen auftaucht. In einigen gibt er wenig streitbare Lebensweisheiten und Ratschläge zum besten – etwa darüber, wie Sprache Bewusstsein formt („Sagt nicht: ‚Ich muss zur Arbeit‘, sondern ‚Ich darf zur Arbeit‘!“, 10,5 Millionen Views auf Tiktok), und über Karma („Ich glaube daran, Positivität zu verbreiten“, 12,5 Millionen Views auf Tiktok). Einige seiner Aussagen sind so skurril, dass sie wie „Meme Baiting“ wirken – also darauf angelegt, virale Wellen zu schlagen und von anderen humoristisch verwurstet zu werden – wie seine Behauptung, dass reiche und erfolgreiche Männer nur Wasser mit Kohlensäure trinken sollten (sechs Millionen Views auf Youtube).
Das Thema, zu dem sich Tate am meisten äußert, sind jedoch Geschlechterrollen. Über die Jahre hinweg hat der selbst ernannte „King of Toxic Masculinity“ in diesem Zusammenhang immer wieder mit frauenverachtenden Aussagen vermutlich ganz bewusst provoziert. „Wenn man sich selbst in die Lage bringt, vergewaltigt zu werden, muss man dafür auch einen Teil der Verantwortung übernehmen“, tweetet er beispielsweise 2017 von einem mittlerweile gesperrten Twitter-Account (Beleg). „[Wenn meine Freundin einen Onlyfans-Account hätte], dann würde ich alles Geld, dass sie verdient, einbehalten. Sie ist mein Besitz, sie gehört mir“, sagt er 2022 in einem Livestream auf Twitch. – „Der Grund, aus dem 19-Jährige attraktiver sind als 26-Jährige, ist, dass sie weniger Schw*nze hatten.“ (2022, Beleg).
Webcam-Abzocke als Geschäftsmodell
Es sind aber nicht nur Worte, die Tate immer wieder in einem äußerst dubiosen Licht erscheinen lassen. Im Jahr 2016 nimmt der damals noch kaum bekannte Ex-Profikickboxer an der britischen Variante der TV-Show Big Brother teil, wird aber aus der Sendung geworfen, nachdem kurz hintereinander zwei Videos auftauchen, in denen Tate Gewalt gegenüber Frauen ausübt – nach der Veröffentlichung des ersten spricht Tate gegenüber der „Sun“ von einem sexuellen Rollenspiel. Die im Video zu sehende Frau bestätigt diese Darstellung später in einem von Tate auf Facebook veröffentlichten Video. Im zweiten Video weist er eine weitere weibliche Person an, ihre blauen Flecken zu zählen und holt dann einen Gürtel, woraufhin die Frau ins nächste Zimmer flüchtet und dort die Tür zuschließt.
Offenbar zieht Tate nach diesen Ereignissen nach Rumänien um – und baut dort ein Unternehmen rund um eine Webcam-Seite auf. „Das ist alles ein Riesenbeschiss“, wie sein Geschäftspartner und Bruder Tristan im Jahr 2022 freimütig gegenüber dem „Daily Mirror“ erklärt. 75 in Unterwäsche gekleidete Frauen würden einsamen Männern mit mitleidserregenden Geschichten das Geld aus der Tasche ziehen – wegen zwei Zeilen in den AGB könnten die Tate-Brüder nach eigener Darstellung aber für diese Geschäftspraxis nicht rechtlich belangt werden. Sie hätten mit dem Webcam-Geschäft Millionen eingenommen, so die Tates – und lassen sich mit Sportwagen und Waffen für die Geschichte ablichten.
Razzia wegen Menschenhandel-Anschuldigungen
Im April dieses Jahres berichtet das US-Medium „The Daily Beast“ (€) dann von einer Polizei-Razzia im rumänischen Haus der Tate-Brüder. Zuvor sollen gegen sie Vorwürfe erhoben worden sein, laut denen in ihrem Haus mehrere junge Frauen gegen ihren Willen festgehalten wurden. Eines der Verfahren soll laut einer rumänischen Zeitung bereits am nächsten Tag wieder eingestellt worden sein; zu einer Gefängnisstrafe oder auch nur einem Gerichtsverfahren lassen sich bislang keine Berichte finden.
Wie ist es einem solch zweifelhaften Typen gelungen, die aktuell vielleicht „viralste Person“ im Internet zu werden? „Ich habe einen Plan erstellt, der sehr gut ausgeführt wurde. Das war kein Zufall“, so Tate vor Kurzem in einer Folge des Podcasts „Full Send“, die bislang alleine auf Youtube 7,3 Millionen Views angesammelt hat (Gastgeber sind die „Nelk Boys“, über die wir auch schon einmal geschrieben hatten).
Reichweitenstarke Provo-Podcasts als Bühne
Sein „Full Send“-Auftritt ist offenbar ein Teil dieser Strategie. Denn der ist nicht der einzige Auftritt Tates in aufmerksamkeitsstarken Podcasts und Livestreams in den vergangenen Monaten. Nach einer Episode des Comedy-Podcasts „Your Mom’s House“ (bislang 2,9 Millionen Views auf Youtube) rund um den Jahreswechsel war Tate zuletzt auch bei „Stand Out TV“ (9,3 Millionen Youtube-Abrufe), beim Twitch-Streamer Adin Live (3,3 Millionen Youtube-Views) und im BFF-Podcast zu Gast (1,7 Millionen Youtube-Abrufe) – letzteres eine Produktion von Barstool Sports (hier im OMR Porträt).
All diese Formate sind dafür bekannt, sich immer mal wieder an der Grenze der „Political Correctness“ zu bewegen und diese auch bewusst zu überschreiten. Das bietet Tate die ideale Bühne, um quasi en passant jene Statement-Schnipsel zu produzieren, die das Netz von ihm hunderttausendfach wiederkäut. „Ich kann mich hinsetzen, Scheiße erzählen und dabei extrem polarisieren. Damit habe ich unbegrenzt kostenlosen Content“, so der 35-Jährige im „Full Send“-Podcast.
„Ich habe nie für Werbung bezahlt“
Die daraus entstehenden „Highlight“-Clips muss Tate weder selbst produzieren, noch streuen – sondern das übernimmt eine Armee von Accounts, die (zumindest dem Augenschein und seinen Aussagen nach) nicht von ihm selbst betrieben werden. „Die fragen mich nicht mal, die klauen das einfach. Mir ist das scheißegal“, so Tate. Er habe nie für Werbung bezahlt, nie für einen „Shoutout“ (hier die Erklärung des Begriffs) oder dafür, dass eine große Instagram-Seite seine Inhalte geteilt habe.
Wer den Namen „Andrew Tate“ bei Tiktok eingibt, kann sich infolgedessen durch eine endlos wirkende Liste an Accounts scrollen, die Videos von ihm posten und häufig fünf- oder gar sechsstellige Follower-Zahlen verzeichnen. Das ist für Tate in vielerlei Hinsicht günstig: Nicht nur, dass er für seine Sichtbarkeit nicht zahlen muss – er reduziert durch diese Entwicklung auch das Risiko, seine Reichweite zu verlieren. Auf Twitter sind übereinstimmenden Berichten zufolge in der Vergangenheit bereits drei Accounts von ihm gesperrt worden – mutmaßlich wegen Hatespeech. Wenn nun auf Tiktok oder Instagram einer der vielen Dritt-Accounts gelöscht werden sollte, ploppt vermutlich direkt der nächste auf.
Das Vollprogramm für angehende „Alphamänner“
Stecken hinter den Dritt-Accounts einfach Fans, die Tate bekannter machen wollen, oder Menschen, die diese Reichweite gezielt aufbauen, um damit Geld zu verdienen? Die zweite Variante ist deutlich wahrscheinlicher – auch weil Tate dabei selbst unterstützt. Denn Tate monetarisiert seine Sichtbarkeit vor allem über seine Website CobraTate.com. Dort bietet er neben dem Zugang zu einem „exklusiven Elite-Netzwerk“ für knapp 5.000 US-Dollar auch diverse Seminare und Coachings an.
Das vermutlich erfolgreichste und umsatzstärkste Produkt ist die 2019 eröffnete „Hustler’s University“, eine Sammlung mehrerer „Get rich quick“-Kurse mit angeschlossener Community. Die bewirbt er mittels Affiliate Marketing, also einem Partnerprogramm, in dessen Rahmen jeder, der neue „Students“ gewinnt, eine Provision kassieren kann. Die Mitgliedschaft schlägt mit knapp 50 US-Dollar monatlich zu Buche; Affiliates erhalten 48 Prozent von der ersten Monatsgebühr.
3,2 Millionen US-Dollar Monatsumsatz?
Ich habe mich zu Recherchezwecken sowohl in der „Hustler’s University“ als auch bei deren Affiliate-Programm angemeldet. Das Produkt besteht im Kern aus mehreren, miteinander verknüpften und nur auf Einladung zugänglichen Discord-Servern (hier unser Porträt der Plattform). Die jeweiligen Unter-Server drehen sich um Themen wie Copywriting, Verkaufen auf Amazon, Crypto, Freelancing, Aktienhandel und E-Commerce. Andrew Tate tritt hier selbst gar nicht mehr in Erscheinung, sondern stattdessen verschiedene „Professoren“, die dann auf externen Plattformen wie Vimeo gehostete Videokurse verweisen, die teilweise sehr günstig und schnell erstellt wirken.
Für den Haupt-Server weist Discord beim Beitritt mehr als 200.000 Mitglieder aus; stets sichtbare öffentliche „Server Stats“ beziffern die Zahl der „Students“ aktuell mit knapp 129.000. Ob diese alle wirklich für die Mitgliedschaft zahlen, ist nicht bekannt. Sollte nur die Hälfte dieser Mitglieder ein kostenpflichtiges Abo abgeschlossen haben, entspräche dies einem Monatsumsatz von rund 3,2 Millionen US-Dollar.
Frauenrechtsorganisationen erhöhen den Druck
Aktuell bewirbt die „Hustler’s University“ ihr Affiliate-Programm zwar öffentlich nicht mehr. Affiliate zu werden ist aber immer noch sehr einfach (und die Frage danach gehört zu den meist gestellten auf dem Haupt-Server): Wer einen Moderations-Bot anschreibt, erhält direkt zwei Affiliate-Links: zu einer Landingpage sowie zum direkten Abonnement-Abschluss über den Zahldienst Stripe. Im Discord-Server zum Affiliate-Programm werden die Teilnehmenden explizit dazu aufgerufen, Social-Media-Accounts einzurichten und dort Videos von Tate einzustellen. Viele „Students“ dürften darin die einfachste und bewährte Methode sein, ihre „Studiengebühren“ zu refinanzieren.
Die so generierte Sichtbarkeit hilft Tate auch dabei, das Publikum seiner eigenen Accounts und Kanäle zu vergrößern. Sein Youtube-Kanal ist seit Anfang des Jahres von 86.000 auf 716.000 Abonnenten und von 10 Millionen auf 65 Millionen Views angewachsen; die Zahl seiner Instagram-Follower hat sich von 440.000 auf 4,4 Millionen verzehnfacht. Im „Full Send“-Podcast kündigt Tate an, dass Phase zwei und drei seines „Masterplans“ noch bevorstünden. Gleichzeitig wächst der öffentliche Druck auf die Betreiber von Tiktok & Co: In Großbritannien und Australien haben bereits Vertreter:innen politischer Parteien und von Frauenrechtsorganisationen öffentlich gefordert, Videos von Andrew Tate von den Plattformen zu entfernen.