Milliarden-Views mit Mini-Serien: Der neue Hype auf Tiktok, Instagram & Co.
Wie Justus Reid, Sydney Robinson und Bilt mit Serien im Clip-Format eine Community aufbauen
- Aus den USA zum Star-Influencer auf dem Balkan
- Fast 1,5 Milliarden Views in Summe für "My 5.000 Euro House"
- 300 Millionen Views mit einem verfilmten Gruppen-Chat
- 35 Stunden Tiktok im Monat
- Von der Party zum Speeddating
- Verschnipselte Hollywood-Streifen als Inspiration?
- Vertical Dramas – Der Milliarden-Markt hinter dem Serien-Hype
- Der "geheime Milliardär" als Hook
- Wie Marken den Serien-Hype für sich nutzen
- Die eigene Marke als Teil der Story
- Eine WG-Sitcom als trojanisches Pferd im Feed
Ein Hauskauf für 5.000 Euro, ein eskalierender Gruppen-Chat und eine virale Coffee-Shop-Romanze – auf Tiktok, Instagram und Youtube explodiert gerade ein neues Format: episodische Kurzvideo-Serien. Deren Creator*innen binden ein riesiges Publikum an sich und erreichen zum Teil Views im Milliardenbereich. Wir zeigen, wie das Phänomen funktioniert, woher es kommt und wie Marken wie Hilton, Domino's und Bilt den Trend bereits für sich nutzen.
"Ich habe ein Haus für 5.000 Euro gekauft!" Als Justus Reid diesen Satz im Juni dieses Jahres in seine Handykamera spricht, ist ihm vermutlich noch nicht klar, dass er damit den Grundstein für eine der erfolgreichsten Kurzvideo-Serien der Welt legt. Das Konzept: Reid kauft einem Freund zum Spottpreis den Rohbau eines Ferienhauses irgendwo im kroatischen Nirgendwo ab (angeblich ohne genau zu wissen, wie tief im Wald dieses liegt) und dokumentiert von da an jeden Schritt der Renovierung.
Aus den USA zum Star-Influencer auf dem Balkan
Eigentlich habe er Entschleunigung gesucht, so Reid in einem Interview mit dem Spiegel. Doch seine ersten Clips, mit denen er den Hauskauf dokumentiert, gehen schnell viral. Und so veröffentlicht der 25-Jährige seitdem fast jeden Tag ein neues Kurzvideo, in der Regel zwischen zwei und drei Minuten lang. Darin dokumentiert er jeweils eine kleine Etappe der Renovierung: Zuerst müssen unzählige Pflanzen und Bäume entfernt werden, dann deckt er das unfertige Dach ab, um das Dachgeschoß aufstocken und neu zu decken. Ein neuer Anbau für ein Badezimmer, eine große überdachte Holzterrasse sowie der fehlende Anschluss ans Strom- und Wassernetz sorgen für immer neue Herausforderungen.
Reid ist vor etwa zwei Jahren aus den USA auf den Balkan gezogen, nachdem er dort zuvor mit mehreren Videos über den Yugo, einen Kleinstwagen eines einstmals jugoslawischen Herstellers, viral gegangen war. Das hat ihm in der Region zu solch einer Prominenz verholfen, dass er für sein aktuelles Projekt leicht Helfer*innen gewinnt: Immer wieder stoßen neue Nachbar*innen hinzu und helfen angeblich komplett unentgeltlich bei der Renovierung – wohlgemerkt eines Hauses mit einer Grundfläche von 14 Quadratmetern.
Fast 1,5 Milliarden Views in Summe für "My 5.000 Euro House"
Die Absurdität seines Unterfangens ist vielleicht mit ein Grund dafür, dass sich rund um Reid mittlerweile eine enorm große Community angesammelt hat, die den Amerikaner in den Kommentaren unter seinen Videos anfeuert. "Ich schaue seit dem Anfang zu!", lautet sinngemäß einer der häufigsten Kommentare unter seinen Videos. Reid beendet jeden Clip gleich: "Follow this page to see what happens next!" Der simple Call to Action funktioniert offenbar: Seit dem Start der Serie hat er die Zahl seiner Instagram-Abonnent*innen auf mittlerweile 6,8 Millionen verdreifacht. Und die Abrufzahlen sind durch die Decke geschossen. Alleine auf Instagram haben seine Clips mittlerweile über eine Milliarde (!) Views erzielt; hinzu kommen noch rund 250 Millionen Abrufe auf Tiktok und an die 70 Millionen auf Youtube.
Bis vor einem Jahr hat Reid noch lange Videos auf Youtube hochgeladen. Doch mittlerweile hat er ganz bewusst eine strategische Entscheidung für Kurz-Videos getroffen. "Die Zuschauer*innen behaupten zwar, sie wollen längere Videos, aber in Wahrheit wollen sie das nicht wirklich", so Reid gegenüber OMR. Seine Philosophie: Statt eines langen, potenziell langatmigen Videos, das eine ganze Woche Arbeit zusammenfasst, liefert er lieber sieben kurze, pointierte Clips. "Ich bin ein Sklave der Qualität meiner Videos", sagt er. "Ich will keine 20 Minuten von nur einer langweiligen Sache posten." Kurz-Clips sind für ihn zudem aus Effizienzgründen die perfekte Lösung: Er kann alles selbst produzieren und ist gleichzeitig auf allen relevanten Plattformen – Instagram, Tiktok, Youtube und Facebook – präsent, anstatt sich nur auf Youtube zu beschränken.
300 Millionen Views mit einem verfilmten Gruppen-Chat
Mit der Strategie, Plattform-übergreifend auf serielle Kurz-Video-Inhalte zu setzen, ist Reid bei Weitem nicht allein. Während der Balkan-Influencer auf ein dokumentarisches Format setzt, beweist Sydney Robinson, dass das Prinzip auch mit fiktionalen Inhalten funktioniert. Ihre Tiktok-Serie "Group Chat" ist ein Kammerspiel, das sich um den Austausch einer größeren Gruppe von Freundinnen in einem, na klar, "Group Chat" auf Whatsapp oder iMessage dreht. Das Besondere: Robinson spielt alle Charaktere der Freundinnengruppe selbst.
In der ersten Folge eskaliert eine scheinbar harmlose Situation: Ein Mitglied der Gruppe möchte ihren neuen Freund zum Mädels-Abend mitbringen, was bei den anderen auf freundliche, aber deutliche Ablehnung stößt und Ereignisse in Gang setzt, die zum Start nicht unbedingt absehbar sind. Das "relatable" Drama traf einen Nerv – und zwar mit solcher Wucht, dass Prominente wie Hailey Bieber unter den Videos kommentierten, Musikproduzent und Social-Media-Star Charlie Puth sogar eine Sprachrolle übernahm und die Serie viral ging. Das Ergebnis: über 300 Millionen Views auf Tiktok und Instagram mit bislang drei “Staffeln”.
35 Stunden Tiktok im Monat
Ein weiteres Beispiel ist "Nate & Lyle" von Alejandro Zwartendijk: eine virale Coffee-Shop-Romanze, bei der sich die beiden (die wie bei "Group Chat" vom selben Creator gespielten) Protagonisten von anfänglicher Abneigung zu spielerischem Flirten entwickeln und damit regelmäßig Millionen Zuschauer begeistern. Es gibt Dutzende weitere Beispiele, die zeigen: Episodischer Content im 9:16-Format ist kein Nischenphänomen mehr, sondern ein relevanter Trend in der Creator Economy.
Was sind die Gründe für diese Entwicklung? Zunächst einmal natürlich das explosionsartige Wachstum von vertikalen Video-Feeds an sich, angeführt vom Pionier Tiktok. Die App verzeichnet zwar bislang "nur" die Hälfte der Nutzerschaft Instagrams (1,5 Milliarden gegenüber 3 Milliarden), dafür aber eine enorme Nutzungsintensität. Während die User auf Instagram laut We Are Social und Data.ai weltweit durchschnittlich rund 16 Stunden pro Monat auf Instagram verbringen, sind es auf Tiktok fast 35 Stunden.
Von der Party zum Speeddating
Wenig erstaunlich also, dass Instagram mit Reels den chinesischen Mitbewerber kopiert hat. Instagram-Chef Adam Mosseri betont immer wieder, dass das Wachstum seiner Plattform fast ausschließlich aus drei Bereichen kommt: Direktnachrichten, Empfehlungen und Reels. Entsprechend will er Instagram umbauen. In Indien testet Meta aktuell eine Version, die sich direkt im Reels-Feed öffnet – bei der neuen iPad-App ist das schon Standard. Und Youtube hat mit Shorts ja ebenfalls ein Kurz-Video-Format eingeführt, dass laut CEO Neal Mohan mittlerweile 200 Milliarden Views pro Tag (!) verzeichnet.
Dieser Siegeszug der Kurzvideos hat aber auch die grundlegende Funktionsweise der Plattformen verändert – weg vom "Social Graph", hin zum "Content Graph". Vereinfacht gesagt: Früher war der Feed eine Party mit Freunden und Bekannten, auf der man vor allem Inhalte von Accounts gesehen hat, denen man folgt (Social Graph). Heute ist der Feed eine Art vorselektiertes Speeddating, bei der jedes Wischen ein neues Video zu Tage bringt, das den Interessen und Vorlieben des jeweiligen Users entspricht – egal, ob man den Account dahinter schon kennt oder nicht (Content Graph). Für Creator*innen ist das Segen und Fluch zugleich: Einerseits können auch Videos von kleinen Accounts über Nacht Millionen von Views erzielen. Andererseits ist es extrem schwierig geworden, eine verlässliche und planbare Reichweite aufzubauen.
Verschnipselte Hollywood-Streifen als Inspiration?
Die Kurz-Serien sind eine direkte und clevere Antwort auf dieses Problem. Sie nutzen die Viralität des Content Graph, um mit einer Episode ein riesiges neues Publikum zu erreichen, und binden diese neuen Zuschauer*innen dann über das serielle Format an den eigenen Account. Der "Follow me to see what happens next"-Ansatz verwandelt im Bestfall zufällige "Drive-by Zuschauer*innen" in loyale Follower*innen.
Mit inspiriert worden sein dürfte der Trend von einem Phänomen, das vor etwa zwei Jahren seinen Höhepunkt erreichte: die massenhafte "Verschnipselung" von kompletten Spielfilmen und Serien, die – in der Regel illegal – in unzähligen Teilen auf Tiktok hochgeladen wurden. Das Wall Street Journal berichtete damals ausführlich über den Trend. Kurioserweise nutzte ein Studio den Trend sogar in eigener Sache: Paramount stellte im Oktober 2023 die 2004er Kult-Teenie-Komödie "Mean Girls" (deutscher Titel: "Girls Club – Vorsicht bissig!") einen Tag lang in 23 Teilen kostenlos auf Tiktok zur Verfügung – als Marketing-Aktion für die eigene Streaming-Plattform Paramount Plus.
Mittlerweile spielt Tiktok zumindest auf der Suche nach dem Begriff "full movie" einen Hinweis aus, dass die Suche nach urheberrechtlich geschütztem Material einen Verstoß gegen die Community-Richtlinien darstellt – und zeigt keine weiteren Ergebnisse an. Der Trend hat trotzdem bewiesen: Die Algorithmen der Kurz-Video-Plattformen honorieren serielle Inhalte, weil sie die Nutzer*innen lange in der App halten. Instagram hat nun vor wenigen Wochen sogar die Funktion gelauncht, in einem Reel ein weiteres Reel zu verlinken – um so Zuschauende beispielsweise direkt in die nächste Episode der Serie weiterzuleiten.
Vertical Dramas – Der Milliarden-Markt hinter dem Serien-Hype
Aber nicht nur Instagram, Tiktok und Co. und die dort vertretenen springen auf den Trend auf. Rund um den Serien-Hype sind neue, sogenannte "Vertical Drama"-Apps entstanden. Plattformen wie Reelshort, Dramabox oder Goodshort haben das serielle Erzählen im 9:16-Format zu einem globalen Milliardenmarkt gemacht. Laut der US-Beratungsfirma Owl & Co. werden diese Apps 2025 außerhalb Chinas rund drei Milliarden US-Dollar Umsatz einspielen.
Das Geschäftsmodell ist dabei ebenso simpel wie aggressiv. Die Serien werden extrem günstig produziert – eine ganze Staffel kostet oft nur zwischen 150.000 und 300.000 US-Dollar. Jen Cooper, Vertical-Drama-Expertin und Betreiberin der Info- und Kritik-Seite Vertical Drama Love, beschreibt die Mechanik so: “Die Discovery ist schonungslos auf Social Media getrimmt. Apps werfen viele Clips auf Tiktok und Facebook, schauen, was gut ankommt, und legen dann nach." Das Marketing-Playbook: Nutzer*innen über emotionale Cliffhanger und Rage-Bait anfixen, bis sie so tief in der Story stecken, dass der Wechsel in die eigentliche App nur noch ein kleiner Schritt ist. Dort stoßen sie dann schnell auf eine Paywall. Das Modell geht auf: Reelshort kommt allein in Deutschland auf geschätzte 20 Millionen US-Dollar Umsatz.
Der "geheime Milliardär" als Hook
Meriem Rebai, Gründerin von Reelistiq
"Vertical Dramas sind radikal auf das aktuelle Konsumverhalten zugeschnitten: 9:16-only, Episoden von 45 bis 180 Sekunden und Cliffhanger etwa alle 30 Sekunden", erklärt Meriem Rebai, Gründerin der auf Vertical Dramas spezialisierten Agentur Reelistiq, gegenüber OMR. "Die emotionale Zuspitzung ist der Motor. In der westlichen Welt ziehen Vampire und Werwölfe, in China funktionieren Tropes wie 'Secret Billionaire' oder 'Enemies to Lovers'. Es ist Guilty Pleasure im besten Sinne: sehr klar, sehr schnell, sehr nah am Gefühl.“
Der Trend hat seinen Ursprung in China, wo der Markt auf rund sieben Milliarden Dollar taxiert wird und Player wie Reelshort (gehört zur Pekinger Crazy Maple Studio) den Markt dominieren. Dort sind auch schon erste große Marken auf den Zug aufgesprungen. So hat KFC eine eigene Micro-Drama-Serie produziert, in der eine Kaiserin aus dem alten China in der heutigen Zeit landet und KFC als ihr Lieblingsessen entdeckt – eine unterhaltsame Art, die Wochenend-Angebote zu bewerben.
Wie Marken den Serien-Hype für sich nutzen
In der westlichen Welt werben bislang noch keine Marken auf Plattformen wie Reelshort – aber dafür setzen sie auf den Serientrend auf den großen Plattformen Tiktok und Instagram auf. Dabei gibt es vor allem zwei Wege: die Kooperation mit etablierten Serien-Creator*innen oder der Königsweg, die Produktion einer eigenen Serie.
Für Marken ist die Zusammenarbeit mit den Stars der Szene die niedrigste Einstiegshürde. Der Vorteil: Die Produkte können extrem nativ in die bestehenden Handlungen integriert werden, und die Community honoriert es, wenn Marken den Content, den sie lieben, überhaupt erst ermöglichen. Justus Reid beispielsweise bindet ganz selbstverständlich lokale Baumärkte und Dämmstoff-Hersteller Rockwool in seine Renovierungs-Story ein.
Die eigene Marke als Teil der Story
Noch einen Schritt weiter geht Sydney Robinson mit ihrer fiktionalen Serie "Group Chat". Sie hat für die zweite Staffel gleich ein ganzes Bündel an Sponsoren an Bord geholt, darunter Hilton, Domino's, Tripadvisor und Pantene. Die Integrationen sind dabei direkt in die Handlung der Chat-Protokolle eingewoben: Die Freundinnengruppe plant in einer Episode einen von Tripadvisor gesponserten Urlaub, diskutiert über eine Hotelbuchung bei Hilton oder bestellt sich während eines dramatischen Moments eine Pizza von Domino's.
Noch einen Schritt weiter gehen mutige Marken, die ihre eigenen Serien produzieren. Einer der Pioniere in diesem Bereich kommt aus Deutschland: die Rucksackmarke Aevor. Auf deren Tiktok-Account hat sich 2024 im Serienformat Gen-Z-Repräsentantin und Social-Media-Verantwortliche Belinda Zühlke spielerisch mit ihrem Millennial-Chef Felix Adams über die Tiktok-Strategie gekabbelt. Der Lohn: 40 Millionen Views und eine begeisterte Community. Ein Großteil der Handlung war geskriptet, wie Zühlke 2024 bei einem Vortrag auf dem OMR Festival erklärte.
Eine WG-Sitcom als trojanisches Pferd im Feed
Eines der meist beachteten Beispiele ist "Roomies" von Bilt, einem US-Fintech, das eine Kreditkarte zum Sammeln von Bonuspunkten beim Bezahlen der Miete anbietet. Die Serie ist ein klassisches "Fish out of water"-Format: ein Landei sucht eine Wohnung und einen Job in New York und wird Mitglied in einer hippen Dreier-WG. Die Marke Bilt wird dabei nur subtil erwähnt; die Videos werden jeweils auf einem extra für die Serie eingerichteten Account veröffentlicht. Der Erfolg ist durchaus beachtenswert: Die Serie hat bislang Views im zweistelligen Millionenbereich und mehr als 200.000 Follower auf Instagram und Tiktok angesammelt.
Einen anderen Weg schlägt der Bettwaren- und Loungewear-Shop Cozy Earth mit seiner "Bed Rot Challenge" ein. Statt auf Fiktion setzt die Brand auf ein Reality-TV-Format, bei dem mehrere Creator*innen gegeneinander antreten, wer am längsten im Bett bleiben kann. Die Marke ist hier natürlich omnipräsent, aber auf eine unterhaltsame Art. Auch hier sind die Zahlen beeindruckend: Die erste Staffel erzielte über 45 Millionen Views und sammelte 20.000 E-Mail-Adressen von Nutzer*innen ein, die für ihre Favorit*innen abstimmen wollten. Staffel 2 kam sogar auf über 84 Millionen Views.
Justus Reid ist unterdessen mit seiner "My 5.000 Euro House"-Serie gerade bei Folge 60 angelangt und ist bei Weitem noch nicht fertig mit der Renovierung. Aber auch danach will er dem Format treu bleiben: "Ich glaube nicht, dass das mein letztes Projekt dieser Art war", so der Creator gegenüber OMR.