Kurioser Amazon-SEO-Case: Ein Bot erstellt Handyhüllen mit den merkwürdigsten Stockfotos
Ein extremes Beispiel für Amazons Relevanz als Plattform
- Die Spur führt nach Deutschland
- ToasterNet agiert als Vendor
- Der Strap-on auf der Handyhülle
- Amazons Reichweite lockt Glücksritter
- Arbitrage-Modelle florieren
- „Ritterschlag“ durch WPP
Handyhüllen, auf denen von Schuppenflechte betroffene Hände, ein alter Mann in Windeln, oder ein Buttplug zu sehen sind: Mehr als 30.000 solch kurioser Smartphone-Zubehörartikel vom Unternehmen „my-handy-design“ waren bis vor wenigen Tagen auf der US-Plattform von Amazon erwerbbar und haben zuletzt für viel Aufruhr in der internationalen Presse gesorgt. OMR hat herausgefunden, wer und was genau dahintersteckt – und erklärt, warum das Phänomen exemplarisch für die Entwicklung im Online Marketing ist. „Ein schrecklicher Amazon-Händler verkauft die Händy-Hüllen unserer Alpträume“, „Ein Bot auf Amazon stellt die besten, schlimmsten Smartphone-Hüllen her“ oder „AI-Software, die Handy-Hüllen auf Amazon herstellt, läuft auf die lustigste Art aus dem Ruder“ – so in etwa lauten die Überschriften zahlreicher Artikel, die in den vergangenen Tagen rund um die Welt über den Amazon-Account „my-handy-design“ erschienen. Nach einem Bericht des US-Blogs Gizmodo folgten weitere bei renommierten Medien wie der BBC, dem Guardian und The Verge.
Die Spur führt nach Deutschland
Wenig verwunderlich: „Toenail fungus cell phone cover“, „Three year old biracial disabled boy in medical stroller, happy“, „Heroin, Spoon and Syringe“, „sick old man suffering from diarrhea, indigestive problem“ oder „adult diaper worn by an old man with a crutch“ heißen einige der kuriosen Motive, mit denen das Unternehmen Handyhüllen bedruckt. Mehr als 30.000 dieser Artikel sollen bis vor wenigen Tagen auf Amazon zu kaufen gewesen sein – aktuell sind davon keine mehr als verfügbar gelistet. Sonderlich gut gelaufen ist das Geschäft aber augenscheinlich nicht: Das Account-Profil weist aktuell lediglich sieben Bewertungen auf.
Wie OMR recherchiert hat, steht hinter „my-handy-design“ das deutsche Unternehmen ToasterNet. Geschäftsführer Tobias Hartmann bestätigte eine entsprechende Anfrage telefonisch. Er habe vom Presserummel um das Projekt gar nichts mitbekommen, so Hartmann. Die Listings seien automatisiert erstellt worden. Über das Partnerprogramm des Stockfoto-Dienstes Fotolia habe ToasterNet Zugriff auf 40 Millionen Fotos – da seien Motive aller Art dabei. „Wenn ein Kunde bestellt, kaufen wir im Kundenauftrag das jeweilige Motiv ein und bedrucken dann die Hülle damit.“ Einige Zeit lang war das Unternehmen als Seller auch auf dem Marktplatz von Amazon Deutschland tätig, offenbar ebenfalls mit wenig Erfolg: 13 Bewertungen verzeichnet der dortige Account.
ToasterNet agiert als Vendor
„Wir sind da nicht mehr aktiv“, so Hartmann. Amazon habe Probleme mit der Produktvielfalt gehabt: „100 Handymodelle und 40 Millionen Motive, das lässt sich bei Amazon nicht schön abbilden.“ Amazon USA habe dann nach Hartmanns Darstellung Interesse daran gezeigt, die Handyhüllen des Unternehmens selbst zu verkaufen, und ein Sortiment von 30.000 Artikeln übernommen.
Seitdem ist ToasterNet unter dem Namen „my-handy-design“ im „Vendor-Programm“ von Amazon aktiv. Das Unternehmen agiert dabei mehr als Lieferant von Amazon, und nicht als Händler, der über Amazon an den Endkunden verkauft.
Der Strap-on auf der Handyhülle
Wie es zur der Auswahl der zuletzt verfügbaren Motive gekommen sei, könne er sich nicht erklären, so Hartmann. „Einige davon sind ja wirklich gekauft worden, das hat mich selbst erstaunt.“ Für sein Unternehmen sei das Ganze sowieso nur ein kleines Nebenprojekt: Eigentlich sei ToasterNet in der Software-Entwicklung für mittelständische Unternehmen tätig.
Nach wie vor arbeitet die Firma aus dem fränkischen Bubenreuth aber nach dem gleichen Prinzip auf der Seite Mein-Handy-Design.de. Dort finden sich ähnlich kuriose Handyhüllen: „Disabled Little Boy in Wheelchair talking with father in hospita“ (sic!), „Applying an emollient to dry flaky skin as in the treatment of psoriasis, eczema and other dry skin conditions“, „Young naked man watching pornography in his kitchen“ und „Purple strapon with thongs for role play games“. Über die entsprechenden Domains verkauft ToasterNet auch Baseball-Mützen, Mousepads, Puzzles und andere Artikel, die sich leicht über einen entsprechenden Druck individualisieren lassen.
Amazons Reichweite lockt Glücksritter
Die auf Amazon angebotenen kuriosen Handyhüllen sind nicht nur alleine ein Beispiel für einen fehlgeleiteten Bot. Sie zeigen auch exemplarisch die steigende Relevanz Amazons in der Online-Marketing-Branche. Viele Jahre lang verdienten Online-Marketing-Glücksritter gutes Geld mit Google, indem sie durch geschicktes Optimieren Nutzer auf ihre Seiten lockten, und diese gegen Provision an Shops weiterleiteten. Doch gerade in Fällen, in denen Nutzer sich über konkrete Produkte informieren oder diese sogar kaufen wollen, hat Amazon gegenüber Google enorm aufgeholt. In den USA starten 55 Prozent aller Produktrecherchen bereits auf Amazon.
Von der daraus resultierenden Reichweite und Aufmerksamkeit können auch Dritte profitieren, indem sie auf Amazons Marktplatz verkaufen. Wer, wie Tobias Hartmann und sein Unternehmen, Produkte erst auf Bestellung produzieren kann, hat auf Amazon wenig zu verlieren: Er kann eine gigantische Reichweite nutzen, ohne, dass er in Vorleistung gehen und Lagerhaltungskosten zahlen muss.
Arbitrage-Modelle florieren
Der Online-Marketer Neil Lassen beispielsweise soll mit auf Bestellung produzierten T-Shirts über Amazon 150.000 US-Dollar im Jahr verdient haben. Lassen lässt die Kleidungsstücke von Designern auf den Philippinen gestalten und bietet diese dann über das Programm Merch by Amazon auf der Plattform zum Kauf an. Amazon produziert die Shirts auf Klick und lieferte diese aus. Der „Inhaber“ des Designs bekommt am Verkauf einen Anteil. Er hat weder je etwas mit der Produktion, noch der Lagerung der Artikel zu tun gehabt.
Wie bei Google sind auch rund um Amazon Arbitrage-Modelle entstanden, etwa von bauernschlauen „Händlern“, die ein Produkt auf Ebay ein- und auf Amazon teurer verkaufen. Die meistverbreitete Praxis dürfte hingegen sein, Waren günstig in China zu sourcen (etwa über Marktplätze wie Ali Baba), möglicherweise noch ein eigenes Label draufzupappen und dann auch diese über Amazon teurer zu verkaufen. Zuletzt ist dieses Business jedoch schwieriger geworden, weil viele chinesische Hersteller mittlerweile selbst auf Amazon verkaufen. Vom Fidget-Spinner-Hype beispielsweise sollen zuletzt auf Amazon vor allem asiatische Händler profitiert haben.
„Ritterschlag“ durch WPP
Zuletzt hat Martin Sorrell, Chef von WPP, dem größten Agenturnetzwerk der Welt, Amazon öffentlich als eine Gefahr für Google bezeichnet. Wenig später übernahm sein Netzwerk eine Amazon-Agentur („WPP kauft eine Amazon-SEO-Agentur auf – Rollt jetzt die Welle so richtig los?“). Auch in diesem Punkt erinnert die Entwicklung Amazons jener rund um Google vor wenigen Jahren: Nachdem sich kleine, unabhängige Agenturen mit Dienstleistungen rund um Suchmaschinenoptimierung und -werbung erfolgreich am Markt etabliert hatten, mussten die großen Netzwerke ihre Kompetenzen in diesem Bereich durch teure Übernahmen stärken.