Abzocke im Livestream? So bringen Tiktoker Fans um ihr Geld

Florian Heide18.3.2022

Viele Creator:innen lassen sich in Livestreams mit Geld beschenken. Im Gegenzug dafür bieten sie oft: Nichts. Weshalb geht Tiktok nicht dagegen vor?

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Seit der Einführung von Geldgeschenken auf Tiktok finden Creator:innen ständig neue Methoden, ihrer Community auf dubiose Art und Weise Geld zu entlocken. Wir erklären die zweifelhaften Tricks, was Tiktok dagegen unternimmt und wie viel Creator:innen damit verdienen.

Auf der linken Bildschirmseite zu sehen: “bumii_live“, ein Tiktoker mit rund 200.000 Followern. Auf der rechten Seite: “Eyfreundin”, ein Influencer-Paar namens Lara und Stephan mit rund 2,7 Millionen Followern. Die beiden Teams befinden sich in einem Tiktok-Battle. Das Ziel: Mehr Geld einnehmen als das andere Team. Dafür feuern sie ihre Community an. Diese wiederum sendet unzählige virtuelle Rosen, Raketen und Schatzkisten. Je mehr dieser Geschenke eintreffen, desto mehr schwellen die roten und blauen Balken über den Köpfen der Tiktoker an. Und desto mehr Geld verdienen die Creator:innen damit.

„Gift-Baiting“ nennt sich dieses Phänomen, das auf Tiktok seit Jahren ein Problem darstellt. Angelehnt an das Wort „Click-Baiting“ bedeutet es so viel wie „Nach Geschenken zu ködern“. Die Methoden haben sich im Laufe der Zeit verändert, im Grunde funktioniert Gift-Baiting aber bis heute gleich: Creator:innen, die gewisse Anforderungen erfüllen (zum Beispiel mehr als 1.000 Follower), können einen Livestream beginnen und dort versuchen, so viele Gifts wie möglich zu ergattern. Gifts, das sind Geschenke, die sie von Zuschauenden erhalten und die sie später in echtes Geld eintauschen können. Im Gegenzug für die Geschenke bieten die Creator:innen meist aber nur geringe Gegenleistungen an, wie etwa einen Kommentar auf dem Profil der Spender:innen zu hinterlassen oder dem Account des Spendenden zu folgen. Manchmal bieten sie sogar nur, wie das Beispiel von Eyfreundin zeigt, ein wenig seichte Unterhaltung.

Das teuerste Geschenk kostet über 500 Euro

Mit der Gift-Funktion ist es Creator:innen heute auch ohne Brand-Kooperationen möglich, ihre Reichweite bei Tiktok zu monetarisieren. Mittlerweile hat sich um die Geldgeschenke-Funktion ein komplettes Ökosystem entwickelt: Tausende Creator:innen, von kleinen Accounts bis zu solchen mit Millionen Followern, buhlen auf unterschiedlichste Weise um Geschenke wie Rosen, Schwäne, Zauberhüte und Kutschen ihrer Community.

Und die gibt viel Geld dafür aus. Denn für den Kauf solcher Geschenke braucht man virtuelle Münzen. 35 dieser Münzen kosten aktuell 0,49 Cent, die maximale Kaufmenge sind Münzen im Wert von 249,99 Euro. Eine Rose etwa kostet genau eine Münze, ein Schwan rund 700 Münzen. Das wertvollste Geschenk ist aktuell ein blaues Tiktok-Logo, das „Tiktok Universe“ für 34.999 Münzen oder umgerechnet rund 500 Euro.

Die Summe der erhaltenen Geschenke teilen sich die Plattform und die Creator:innen. Wie genau die Verteilung ist, ist nicht bekannt. Medien berichten aber, dass Tiktok 50 Prozent der Einnahmen durch Geldgeschenke behalte. Der Rest wird den Creator:innen in Form von „Diamanten“ in ihrem Konto gutgeschrieben. Diese Diamanten können sie wiederum ab einer Summe von 50 Euro in echtes Geld umwandeln und sich auf ein Paypal-Konto auszahlen lassen. Und das kann sich lohnen: „Ich schätze, in guten Monaten verdienen Eyfreundin 20.000 bis 30.000 Euro mit Livestreams“, sagt Sven Oechler, Gründer der Tiktok Content Agentur Pro & Me.

Nicht illegal, aber zweifelhaft

Oechler sagt aber auch: „An sich ist nichts gegen Geldgeschenke einzuwenden. Viele Streamingplattformen haben diese Funktion.“ Allerdings sei es bei Tiktok problematisch, dass die Zielgruppe der Plattform außergewöhnlich jung sei. Rund ein Viertel aller User ist zwischen 10 und 19 Jahren alt. Gifts zu kaufen ist laut Tiktok-Richtlinien hierzulande zwar erst ab 18 Jahren möglich, doch das Alter, das die User bei der Registrierung angeben, wird wie bei anderen Plattformen nicht weiter überprüft.

Der europäische Verbraucherverband BEUC hat vor rund einem Jahr unter anderem wegen mangelnder Schutzmaßnahmen für Kinder eine Beschwerde über die Plattform bei der Europäischen Kommission eingereicht. Die „Virtuelle Gegenstände Policy“, die Richtlinie hinter den Geldgeschenken, sei in mehrerer Hinsicht irreführend, so die BEUC. Denn Tiktok behalte sich sogar das Recht vor, den Wechselkurs zwischen Euro und Münzen jederzeit zu ändern.

Dabei ist der BEUC nicht die einzige Institution, die die Gift-Funktion kritisiert. In jüngster Zeit steht Tiktok etwa auch in der Kritik, weil Creator:innen mit gefälschten Livestreams aus dem Ukraine-Krieg berichten (wir berichteten darüber). Die stundenlangen Streams, die oft in Wirklichkeit nur eine Dauerschleife eines kurzen Videos zeigen, verzeichnen Millionen Aufrufe, die Creator:innen erhalten von gutgläubigen Spender:innen dennoch tausende von Geldgeschenken.

Youtuber verhelfen Gift-Baitern zu Fame

Problematisch ist daran auch, dass ausgerechnet Gift-Baiting-Videos auf der Plattform beliebt sind. So wie auch die von Max Emre. Er dürfte aktuell der am hitzigsten Diskutierte unter den „Gift-Baitern“ sein. Vor rund vier Monaten landet der mittlerweile gebannte Twitchstreamer mit einem Video einen Tiktok-Hit, in dem er sich einen goldenen Rasierer vor laufender Kamera an die Stirn hält und ankündigt, sich eine Glatze zu schneiden, sobald der Stream über 100 Follower verzeichne. Doch auch als ihm bereits 9.000 Menschen zuschauen, behält er sein Haar. Die Geldgeschenke prasseln dennoch nur so auf ihn ein.

Der Tiktok-Algorithmus, sagt Agentur-Gründer Sven Oechler, belohne eine hohe Watchtime mit mehr Zuschauern. Das kommt Emre und anderen Gift-Baitern zu Gute: „Jeder will wissen, was als nächstes passiert, und bleibt deshalb im Stream“, sagt er. Mittlerweile sind die offiziellen Accounts von Emre zwar auf Tiktok blockiert. Dennoch, seine Bekanntheit dürfte durch die dreisten Auftritte als Gift-Baiter sogar noch gestiegen sein – auch, weil sich mittlerweile Youtuber mit Millionenreichweite wie Montana Black, Simon Unge oder Rezo in sogenannten“Reaction-Videos“ über ihn und seine „neue Masche, um auf Tiktok Kindern Geld abzuziehen“ empört haben.

Neue Features für längere Watchtime

Obwohl sich Tiktok gerne als Wohlfühl-Plattform zeigt und betont, ein sicherer Ort für die eigene Community sein zu wollen, scheint es das Problem mit den dubiosen Livestream-Geschäften bisher nicht ernsthaft angegangen zu sein. Dass Tiktok dem Problem nicht Herr werden will, weil es finanziell von Gift-Bait-Videos profitiert, scheint Sven Oechler dennoch zu abwegig. „Ich glaube nicht, dass sie auf das dadurch generierte Einkommen angewiesen sind“, sagt er. Der Konzern hat im vergangenen Jahr einen Gesamtumsatz von rund 58 Milliarden US-Dollar gemacht. Welcher Teil davon auf Gifts zurückgeht, will Tiktok nicht verraten, es dürfte aber in der Tat nur einen Bruchteil dessen sein.

Auch eine Tiktok-Sprecherin betont auf Anfrage, man sei bestrebt, ein positives Umfeld für die Community zu schaffen. „Wir tolerieren kein betrügerisches Verhalten und ermutigen unsere Community, jedes potenziell unangemessene Verhalten über unsere In-App-Meldefunktion zu melden“, sagt die Sprecherin. Doch gleichzeitig hat das Unternehmen die Geschenke-Funktion zuletzt sogar noch ausgeweitet. Mitte Februar führte die Plattform sogenannte Schatztruhen als neues Gift-Feature ein. Schickt ein User dieses Geschenk in einen Livestream, werden Münzen nach Ablauf eines Countdowns nicht mehr an den Creator, sondern an andere Zuschauende ausgeschüttet. Anders gesagt: Durch die neue Tiktok-Funktion können Zuschauende nun selbst in Form von Münzen vom Zusehen profitieren. Und sind so wohl noch mehr dazu angehalten, lange in Streams zu verweilen.

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Florian Heide
Autor*In
Florian Heide

Florian arbeitet seit fast zehn Jahren als Print-Journalist. Angefangen beim Lokalblatt, später als Praktikant und Freelancer für DIE ZEIT und GEO. Seit 2020 ist er Redakteur bei OMR, wo er über Startups, Viraltrends, den Wandel von Social Media Plattformen und neue Technologien berichtet. Er hat nie Bargeld dabei und verbringt die Wochenenden am liebsten weit weg von Technologie in der Natur.

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