Tiktok-User sammeln mit Fake-Ukraine-Livestreams Geld ein – und Tiktok verdient daran mit

Die gefälschten Live-Übertragungen verzeichnen Millionen von Zuschauer:innen

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Ein offensichtlich falsche Tatsachen vorspiegelnder Livestream auf Tiktok: "Live Bilder" auf Tiktok – die sich aber nach rund 50 Sekunden wiederholen

Livestreams aus der Ukraine dominieren aktuell den Feed auf Tiktok. Doch nicht wenige der Streams sind offenbar gefälscht, oder legen es zumindest darauf an, einen falschen Eindruck zu erwecken. Das Ziel: von den mitfühlenden Zuschauer:innen „virtuelle Geschenke“ einzusammeln, die dann in Geld eingetauscht werden können. Das ist besonders pikant, weil Tiktok an diesem Vorgang mitverdient.

Ein Blick auf eine Hochhaussiedlung im Winter, offenbar aus einem der Gebäude heraus aufgenommen, im Hintergrund sind Sirenengeheul und eine weinende (offenbar weibliche) Person zu hören – es ist ein beklemmender Livestream, der Tiktok-Nutzer:innen am Morgen des heutigen Freitags in der App ausgespielt wird. Vor dem Hintergrund des gestern begonnen Angriffs Russlands auf die Ukraine muss jede:r Zuschauende darauf schließen: Ich sehe Live-Bilder aus der Ukraine. Und in der Tat ruft der Account mit dem Namen „xnxaddicted“ auf seinem Profil dazu auf: „Donate me to escape from Ukraine“ – Spendet, um mir zu helfen aus der Ukraine zu fliehen, ergänzt um einen Link zu der Website Donationalerts.com.

Nach 50 Sekunden wiederholt sich alles

Doch einiges an dem Stream wirkt merkwürdig: Nach etwa 50 Sekunden springt das Bild und das zuvor Gezeigte wiederholt sich. Ein Vogelschwarm fliegt wie zuvor erneut im Bild vorbei. Der Ton bricht an einer anderen Stelle für eine Millisekunde ab und wiederholt sich ebenfalls. Offenkundig ist der vermeintliche Livestream eine kurze, in Schleife abgespielte Aufzeichnung. Mehr als 50.000 Menschen gleichzeitig schauen sich die gefakte Live-Übertragung auf Tiktok an. Als der Stream endet, weist das soziale Netzwerk für diesen eine Gesamtzahl von 2,9 Millionen Zuschauenden aus.

In der "Account Bio" ruft der Kanal mit dem Fake-Stream zum spenden auf, am Ende der gefälschten Übertragung weist Tiktok eine Gesamtzuschauendenzahl von 2,9 Millionen aus

In der „Account Bio“ ruft der Kanal mit dem Fake-Stream zum spenden auf, am Ende der gefälschten Übertragung weist Tiktok eine Gesamtzuschauendenzahl von 2,9 Millionen aus (rechter Screenshot zur Hervorhebung bearbeitet)

Es ist sind nicht die einzigen (vermeintlichen) Live-Bilder aus der Ukraine, die sich Nutzer:innen aktuell auf Tiktok anschauen können. Wischt man aktuell durch die Livestream-Sektion der App, gelangt man von einem Sirenengeheul zum nächsten. Geschätzte 20 bis 30 Prozent der Streams erwecken den Eindruck, ebenfalls aus der Ukraine zu übertragen – häufig durch Sirenentöne oder Sprache im Hintergrund, die für westeuropäische Ohren Ukrainisch oder Russisch klingt. Teilweise führt Tiktok die Nutzenden auch aus der Für-Dich-Seite (der Feed, der sich direkt beim Starten der App öffnet) in die Ukraine-Livestreams.

Schuss-Geräusche – und britische Autokennzeichen

Einige der Streams wirken authentisch, etwa jener von einer jungen Frau, die augenscheinlich aus einer unterirdischen U-Bahn-Station (in die offenbar viele Ukrainer geflüchtet sind) direkt in die Kamera spricht. Andere sind deutlich als Fake erkennbar. Ein Stream zeigt beispielsweise ebenfalls wartende Menschen in einer U-Bahn-Station – doch an den Push-Nachrichten, die ins Bild rutschen, wird deutlich, dass dies ein abgefilmter Stream ist.

Manche der Streams machen aus den aktuellen Ereignissen ein groteskes Spiel und rufen die Zuschauenden dazu auf, je nachdem, auf wessen Seite sie stehen, unterschiedliche Geschenke zu machen. Einige zählen das Ergebnis im Bild, um die Zuschauer:innen dazu zu bringen, noch mehr zu spenden.

Social Media pervertiert: Einige Tiktok-Account-Betreiber:innen versuchen durch groteske Spiele den Zuschauenden noch mehr "virtuelle Geschenke" zu entlocken – und damit noch mehr Geld zu verdienen

Social Media pervertiert: Einige Tiktok-Account-Betreiber:innen versuchen durch groteske Spiele den Zuschauenden noch mehr „virtuelle Geschenke“ zu entlocken – und damit noch mehr Geld zu verdienen

Echtes Geld für virtuelle Münzen & Geschenke

Darauf, dass Livestreams und Fake-Streams aus der Ukraine auf Tiktok ein großes Phänomen sind, lassen diverse Indizien schließen. Auf Twitter lassen sich mit einer Suche diverse Beispiele von Usern finden, die von ähnlichen Streams berichten; in einigen Fällen zweifeln manche von ihnen ebenfalls an der Echtheit der Übertragungen. Der US-Sender NBC berichtet ebenfalls über Fake-Streams. Einer davon habe Spenden eingefordert, während im Stream Wohnhäuser zu sehen und Schüsse zu hören gewesen seien. Doch in einem von dem Account zuvor veröffentlichten Video sei dieselbe Straße zu sehen gewesen – inklusive britischer Nummernschilder an den Autos.

Ziel der meisten Fake-Streamer dürfte es sein, von den Zuschauenden virtuelle Geschenke einzusammeln. Denn für diese können sie sich dann später von Tiktok Geld auszahlen lassen. Das System dahinter ist wenig transparent: Die Nutzer:innen müssen zuerst virtuelle Münzen auf Tiktok erwerben. Deren Preis ist abhängig von der gekauften Menge und davon, ob man in der App kauft oder auf dem Desktop. Tippt man aktuell in der iOS-App das Geschenke-Symbol an, bietet Tiktok 65 Münzen für 99 Euro-Cent an.

„Der Wert der Geschenke kann sich jederzeit ändern“

In diesem Menü können die Tiktok-Nutzer:innen auswählen, welches virtuelle Geschenk sie dem Veranstalter des Livestreams zukommen lassen wollen

Ein Blick auf die virtuellen Geschenke, die auf Tiktok zur Auswahl stehen

Mit diesen Münzen können die Nutzer:innen dann u.a. in den Livestreams unterschiedliche Geschenke für den/die Streamer:in kaufen: eine virtuelle Rose kostet eine virtuelle Münze, ein Geburtstagskuchen 300 Münzen. Die teuersten und aufwändigsten Geschenke kosten eine niedrige fünfstellige Summe an Münzen (und damit umgerechnet einen niedrig-dreistelligen Euro-Betrag). Sie lösen beim Schenken besondere visuelle Effekte aus – und erregen damit natürlich auch besondere Aufmerksamkeit.

Intransparent wird das Schenk-System auf Tiktok dann auf der Seite der Empfänger: Die Beschenkten erhalten durch die Geschenke virtuelle Diamanten. Diese können sie wiederum später gegen Geld eintauschen. In Tiktoks Nutzungsbedingungen heißt es: „200 Diamanten entsprechen einem 1 US Dollar.“ Aber auch: „Wie viele Diamanten ein Nutzer für Geschenke erhält wird von uns festgelegt und kann sich jederzeit ändern, ohne dass wir Sie hierüber gesondert informieren.“

Mehrere 100 Euro Einnahmen in der Stunde?

„Live-Spenden bringen je nach Größe und Viralität zehn bis 100 Euro pro Stunde – im DACH-Raum. In den USA dürften die Summen nochmals um den Faktor zwei bis drei höher sein. Angesichts der Emotionalität und Besonderheit der Situation gehe ich bei den Livestreams aus der Ukraine stark davon aus, dass die Spendenbereitschaft hier nochmal höher ist als im Alltag“, so Tiktok-Experte Adil Sbai gegenüber OMR, dessen Agentur We Create u.a. diverse Tiktok Creator wie „Herr Anwalt“ und Karim Jamal managt.

An den Summen, die mit virtuellen Geschenken in Livestreams erwirtschaftet werden, verdient Tiktok mit. In welchem Maße dies geschieht, ist unklar – auch wegen des intransparenten Systems. Nach Schätzungen des App-Statistik-Dienstes Sensor Tower sollen Tiktok-Nutzer:innen im vergangenen Jahr 2,3 Milliarden US-Dollar innerhalb der App ausgegeben haben. Wie viel Tiktok davon einbehalten hat und wie viel an Account-Betreiber:innen weitergereicht wurde, ist ebenfalls unbekannt.

Tiktok „beobachtet die Entwicklung genau“

In diesem Tiktok-Livestream hat die "Top Zuschauerin" mehr als 20.000 virtuelle Münzen für Geschenke ausgegeben

In diesem Tiktok-Livestream hat die „Top Zuschauerin“ mehr als 20.000 virtuelle Münzen für Geschenke ausgegeben

Eine von OMR auf die dubiosen Ukraine-Livestreams angesprochene Tiktok-Sprecherin übermittelte folgendes Statement: „Wir ergreifen Maßnahmen gegen Inhalte oder Verhaltensweisen, die die Sicherheit unserer Community gefährden, einschließlich der Entfernung von Inhalten, die Gewalt fördern oder schädliche Fehlinformationen enthalten. Wir beobachten die Entwicklung der Situation weiterhin genau und setzen Ressourcen dafür ein, dass Tiktok ein sicherer Ort bleibt.“

Es ist nicht das erste Mal, dass Livestreams auf Tiktok wegen dubioser Praktiken in den Medien sind. Bereits im Jahr 2019 berichtete die BBC von „Tiktok Creatorn“, die ihre jungen Fans zu „Spenden“ verleiten wollten, indem sie ihnen ihre persönliche Telefonnummer in Aussicht stellten. Tiktok passte daraufhin seine Nutzungsbedingungen an; seitdem müssen Account-Betreiber:innen mindestens 18 Jahre alt sein, um Geschenke in Empfang nehmen zu können. Um Geschenke vergeben zu können, müssen Nutzer:innen nun mindestens 16 Jahre alt sein.

Doch weiterhin wurde und wird mit Tiktok Livestreams Missbrauch betrieben: Im vergangenen Jahr berichtete Business Insider von einem Livestream, in dem ein alter Auftritt der Sängerin Billie Eilish als „live“ gestreamt wurde und über den ebenfalls Geschenke eingesammelt wurden.

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Roland Eisenbrand
Autor*In
Roland Eisenbrand

Roland ist seit mehr als zehn Jahren als Journalist in der Digitalbranche aktiv. Seit 2014 verantwortet er als Head of Content (und zweiter Mitarbeiter) alle inhaltlichen Komponenten von OMR, darunter vor allem den OMR Blog und redaktionelle Arbeit rund um das OMR Festival.

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