Von wegen Facebook Live: Fake-Streams aus dem Weltall liefern Millionen-Reichweiten

Martin Gardt28.10.2016

Sind getürkte Livestreams die neuen Essensvideos?

Viral USA
Viral USA

Derzeit tauchen sie immer häufiger auch in unseren Newsfeeds auf: vermeintliche Live-Videos direkt von der internationalen Raumstation ISS – mit teilweise fast 30 Millionen Views. Was sich aufregend anhört und Millionen Facebook-Nutzer in seinen Bann zieht, ist aber offenbar nur ein Hebel für Viral-Seiten, um die eigene Facebook-Reichweite zu steigern. Wir haben uns angeschaut, was dahinter steckt.

Es sind beeindruckende Bilder: Astronauten machen einen Weltraumspaziergang, die Kamera zeigt im Hintergrund die Erde – blau leuchtend vor dem Schwarz des Weltalls. Insgesamt vier Stunden dauern die Videos, die Viral USA, Unilad und Interestinate (mittlerweile gelöscht) auf Facebook zeigen. In den Posts steht zwar nicht explizit, dass sie Live-Bilder zeigen, da Facebook aber darüber „Unilad ist live“ einblendet, gehen die meisten User davon aus, dass die Videos auch live sind. Dabei sieht es ganz danach aus, als wäre das Material zwischen einem und drei Jahren alt. Entgegen bisheriger Annahmen ist dazu keine spezielle Software nötig. Jeder kann vorher aufgenommenes Material per live streamen und verstößt damit auch nicht gegen Facebooks Richtlinien.

Millionen-Reichweite dank „Live-Fake“

Bei Viral USA kommt das Video aus dem All auf bisher 28 Millionen Views und 2,6 Millionen Likes – es wurde über 530.000 Mal geteilt. Ähnlich sind die Zahlen bei Unilad: 19 Millionen Views, fast eine Million Likes, über 450.000 Kommentare. Die Reichweite kommt sicherlich auf der einen Seite von der Faszination die Erde von oben zu sehen, auf der anderen Seite aber von der Bevorteilung von Live-Videos durch Facebook selbst. Der Algorithmus pusht die Videos in die Newsfeeds der Nutzer und Fans der Seiten bekommen eine Benachrichtigung, wenn ein Live-Video startet. Das sind bei Unilad über 20 Millionen Fans, die benachrichtigt werden, bei Viral USA knapp über 500.000.

Es ist sicherlich nachvollziehbar, dass Seiten wie Unilad mit der schon großen Reichweite viele Views generieren, die Erfolge der Videos sind trotzdem extrem. Zwischenzeitlich schauten bei Viral USA über 400.000 Nutzer gleichzeitig beim Weltraumspaziergang zu, bei Unilad waren es über 100.000. Typische Videos bei Unilad kommen insgesamt auf knapp eine Million Views, wenige auf etwa fünf Millionen. Das vermeintliche Live-Video ist also einer der größten Reichweitenerfolge der Seite. Gegenüber der BBC sagte Unilad, man habe testen wollen, was das Live-Video-Format bringen könne.

Die Fake-Live-Taktik hilft also offenbar die organische Reichweite des Contents zu steigern, gleichzeitig entstehen Abstrahleffekte auf andere Inhalte des Facebook-Publishers und am Ende eine Steigerung der Fanzahlen. Möglicherweise steigern solche Reichweitenerfolge auch die Chance für den Publisher, mit weiteren Inhalten häufiger in den Newsfeeds der Fans zu landen. Viral USA hat laut Facebooks Seitenanalyse ein Like-Wachstum von 29.651 Prozent innerhalb der letzten sieben Tage hingelegt. Unilad konnte immerhin 2,1 Prozent zulegen, was bei über 20 Millionen Likes ebenfalls ein stattlicher Wert ist. Solange Fake-Live-Videos solche Zahlen für die Publisher zur Folge haben, dürften die Experimente munter weiter gehen.

Wo kommt das Video-Material her?

Die drei Viral-Schleudern haben sich offenbar an altem Youtube-Material der Nasa bedient. Das Unilad Material dürfte von einem Weltraumspaziergang russischer Kosmonauten vor drei Jahren stammen, das Video auf Viral USA von einem Ausflug der US-Astronauten Terry Virts und Barry Wilmore. Das Original auf der Youtube-Seite des Johnson Space Center der Nasa ist nur zehn Minuten lang. Viral USA wiederholte es in seinem „Live“-Video einfach 24 Mal.

Auch auf Youtube versuchen Kanalbetreiber Views mit dem Material abzugreifen. Auf dem Kanal „Space & Universe“ läuft durchgängig ein „Livestream“, der schon am 30. September 2016 gestartet wurde. Das Video sieht stark nach dem Material von Virts und Wilmore bei ihrem Weltraumspaziergang aus. Bei Stichproben von uns, schauten regelmäßig an die tausend Nutzer gleichzeitig zu, bisher kommt das Video auf über 385.000 Likes und über 12.000 Dislikes.

Auf eine Anfrage von Online Marketing Rockstars an die Nasa, wurde bisher nicht geantwortet. Sie bestätigte gegenüber der BBC aber, dass es sich nicht um Live-Material handeln könne, weil keine Weltraumspaziergänge auf dem Plan stünden. Die US-Behörde sei aber immer begeistert, wenn sich viele Leute für den Weltraum interessieren. Jeder, der wirklich live im All dabei sein wolle, könne auf den offiziellen Kanälen vorbei schauen. Zum Beispiel auf der Facebook-Seite der ISS (immerhin über drei Millionen Fans). Und ein wenig Hoffnung gibt es doch: Die Facebook-Seite „I fucking love science“ zeigte einen echten – wenn auch langweiligeren – Livestream von der ISS. Der kam auf immerhin 2,6 Millionen Views.

Experimente mit Live-Videos bei Facebook

Die Erfolge der gefälschten Live-Schalten dürften die Publisher eher ermutigen weiter mit dem Format zu experimentieren. Viral USA hat vor Kurzem Taucher „live“ auf ihrem Tauchgang begleitet (fast 600.000 Views), die Statistik zur Bevölkerungsentwicklung der Welt gestreamt (eine Million Aufrufe) und direkt nochmal das Weltraum-Video veröffentlicht (nochmal 4,3 Millionen Views). Die Viral-Seite Interestinate hatte nach dem Weltraum-Erfolg mehrere Tom und Jerry-Folgen „Live“ gezeigt. Mittlerweile sind beide Videos gelöscht.

Viral-Publisher spekulieren derzeit offenbar darauf, dass Livestreams das Format sind, das Facebook derzeit am stärksten pusht. Auf der Plattform gibt es ja immer wieder Inhalte, die besonders gut funktionieren und auf die Publisher dann sofort aufspringen. Vor einiger Zeit waren das Clickbait-Artikel, zuletzt im Zuge der Video-Strategie Essensvideos von Buzzfeed, Tastemade oder Bild. Das Paste Magazine zeigt seinen 180.000 Fans regelmäßig alte Konzertaufnahmen von Liveshows bekannter Bands über die Live-Funktion bei Facebook. Der Social-Publisher NowThis zeigt Zusammenschnitte der beliebtesten Viral-Videos seiner Facebook-Seite über die Live-Funktion.

Facebook LiveVideoViral
MG
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Martin Gardt

Martin kümmert sich vor allem um neue Artikel für OMR.com und den Social-Media-Auftritt. Nach dem Studium der Kommunikations- und Medienwissenschaft ging er zur Axel Springer Akademie, der Journalistenschule des Axel Springer Verlags. Danach arbeitete er bei der COMPUTER BILD mit Fokus auf News aus der digitalen Welt und Start-ups. Am Wochenende findet Ihr ihn auf der Gegengerade im Millerntor.

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