Shopee, Meesho & Shein: Diese Shopping Apps haben Amazon überholt – dank Gamification?
Wir analysieren, was die drei weltweit am häufigsten heruntergeladenen Shopping Apps miteinander gemein haben
- Was ist der Grund für den Erfolg?
- Von der Candy-Crush- bis zur Flappy-Bird-Kopie
- Das Mobile Gaming auf den Kopf gestellt
- Gießt Du meine, gieß ich deine
- 4,5 Milliarden Mal an einem Tag zocken
- Ein Battle-Royale-Shooter als Geldbringer
- Ist Garena Free Fire der Wachstumshebel für Shopee?
- „Süchtig nach Punktesammeln auf Shein“
- Die Nutzungszeit von Shein hat sich verdreifacht
- Gamification als Ansporn für Reseller
- Passt „Einkaufen als Spiel“ in die Klimakrisen-Ära?
Kann ein globaler E-Commerce-Gigant, der 1,4 Billionen US-Dollar wert ist und über 90 Milliarden US-Dollar Cash verfügt, verwundbar sein? Kaum vorstellbar. Und doch hat vor Kurzem zumindest eine Meldung aufhorchen lassen: Amazon ist nur noch die vierthäufigste heruntergeladene Shopping App der Welt. Shopee, Meesho und Shein, drei asiatische Konkurrenten sind vorübergezogen. Alle drei eint, dass sie Shopping als Spiel (und teilweise Spektakel) inszenieren. Künftige Vorbilder für hiesige E-Commerce-Firmen? OMR analysiert ausführlich die Methoden der neuen Mobile-Commerce-Shooting-Stars.
Aus Asien heraus entsteht die nächste Generation der E-Commerce-Plattformen – diesen Eindruck kann erhalten, wer einen Blick auf das Ranking der Shopping Apps des Jahres 2021 wirft: Shopee (Singapur), Meesho (Indien) und Shein (China) führen die Liste nach Downloads an – Platzhirsch Amazon ist auf Rang vier abgerutscht. Das zumindest besagt die Hochrechnung des App-Analytics-Dienstes Apptopia.
Was ist der Grund für den Erfolg?
Sind die Daten verlässlich? Sensor Tower, ein weiterer App-Statistik-Dienst, weist in einer Auswertung zum Jahr 2021 zwar kein Ranking der Shopping Apps mit den meisten Downloads auf. Aber in den Top 20 der am häufigsten heruntergeladenen Non-Gaming-Apps sind nur zwei Shopping Apps: Shopee auf Platz 13 und Meesho auf Platz 20. Amazon ist nicht vertreten.
Worin liegt der Erfolg der drei asiatischen Einkauf-Apps begründet? Es scheint eine Reihe von Gründen zu geben: Hohe Marketingausgaben, vor allem im Influencer-Bereich (Shein), erfolgreiche internationale Expansion (Shopee) und virales Wachstum durch Weiterempfehlungen eines Heers aus Zwischenhändler:innen auf der Plattform (Meesho).
Von der Candy-Crush- bis zur Flappy-Bird-Kopie
Einen Aspekt jedoch haben alle drei Plattformen gemein: Gamification. In den Apps können die Nutzer:innen nicht nur einkaufen, sondern kleine Spiele spielen und (teilweise miteinander) Belohnungen sammeln. „Es ist nicht länger ausreichend, eine funktionierende App mit einem statischen Shopping-Erlebnis zu haben. Mobile Käufer:innen müssen zum Handeln gebracht und unterhalten werden. Wer wäre da eine bessere Inspiration als Social Media und Gaming Apps“, resümiert Tara Kirkpatrick von Apptopia.
Shopee scheint in diesem Prozess am weitesten vorne zu liegen. Die aus Singapur stammende Plattform ist ein Marktplatz, auf dem Händler:innen und Marken verkaufen können und dessen Sortiment mittlerweile ähnlich breit zu sein scheint wie das von Amazon. Die Nutzer:innen können bei Shopee jedoch nicht nur einkaufen, sondern auch diverse Spiele spielen. Für die Minispiele hat das Shopee-Team offenbar die Konzepte diverser erfolgreicher Mobile Casual Games kopiert: Candy Crush („Shopee Candy“), Bubble Shooter („Shopee Bubble“), Flappy Bird („Shopee Flappy“) und Subway Surfers („Shopee Run“) beispielsweise.
Das Mobile Gaming auf den Kopf gestellt
Es wirkt ein wenig, als habe Shopee das Prinzip des Mobile Gamings einfach umgedreht: Die Entwickler:innen der ursprünglichen Casual Games, die Shopee kopiert hat, monetarisieren diese über Werbung sowie den Verkauf virtueller Güter. Sie sind vor allem auf „Wale“ genannte Nutzer:innen angewiesen, die besonders viel Geld in der App ausgeben. Shopee hat demgegenüber enorm viele Nutzer:innen (343 Millionen Monthly Active User laut einem Bericht von KR Asia), die auf der eigenen Plattform Geld ausgeben. Zwar dürften die Warenkorbwerte niedrig sein, aber hier kommt es auf die Masse an.
Neben dem Spielspaß gibt es einen zusätzlichen, wohl noch wichtigeren Anreiz für die Shopee-Kund:innen zum Zocken: die Möglichkeit, beim Spielen Sachpreise sowie virtuelle Münzen oder Gutscheine gewinnen zu können. Letztere können sie dann beim Kauf einlösen. Offensichtlich will Shopee mit diesen Maßnahmen die Retention und Wiederkaufrate der spielenden Nutzer:innen erhöhen, aber auch dazu beitragen, andere Nutzer:innen immer wieder auf die Plattform zu ziehen (potenziell auch Neukund:innen).
Gießt Du meine, gieß ich deine
Wie das in der Praxis aussehen kann, zeigt das Beispiel „Shopee Farm“: Bei diesem Spiel pflanzen die Spieler:innen einen Baum und müssen diesen regelmäßig gießen, damit er wächst. Je häufiger, regelmäßiger und länger sie das tun, desto besser wächst die Pflanze und desto stärkere Vergünstigungen erhalten die Spieler:innen. Nach jedem Wässern werden die Spieler:innen darüber informiert, wie viele Punkte ihm oder ihr noch fehlen, um das nächste Level zu erreichen.
Nachdem die Spieler:innen gegossen haben, läuft ein Countdown ab, der ihnen anzeigt, wann sie das nächste Mal gießen können. Das können einige Minuten sein – Zeit, die die Nutzer:innen damit verbringen können, durch das Sortiment des Marktplatzes zu stöbern. Sie können sich aber auch gegenseitig beim Wässern ihrer Pflanzen unterstützen (und diese so schneller wachsen lassen). Das bringt weitere Nutzer:innen auf die Plattform oder reaktiviert möglicherweise Bestandskunden. Das Konzept scheint von der chinesischen App Pinduoduo kopiert, die ein Pionier darin war, Gaming-Konzepte für den E-Commerce zu adaptieren.
4,5 Milliarden Mal an einem Tag zocken
Shopee scheint das Gamification-Prinzip perfektioniert zu haben. Darauf deuten zumindest Nutzungszahlen zu den Spielen auf der Plattform an. Im Jahr 2019 sollen die Shopee Games nach Unternehmensangaben bereits eine Milliarde Mal gespielt worden sein. Im Jahr 2020 verzeichnete Shopee dann einem Medienbericht zufolge alleine an einem Tag, beim Shopping Event 12.12 (am 12. Dezember) 2,7 Milliarden Plays. Zudem soll im Jahr 2020 die Nutzungsdauer der App (wöchentlich betrachtet) um 40 Prozent zugenommen haben. Im zurückliegenden Jahr sollen die Spiele im Rahmen des Shopping-Events 9.9 (Ihr ahnt es: am 9. September), dann bereits 4,5 Milliarden Mal gespielt worden sein.
Natürlich stehen die Shopee Games auf der Plattform nicht für sich alleine, sondern sind eingebettet in eine Strategie, die das gesamte Playbook des asiatischen E-Commerce in sich vereint: Teure Werbekampagnen mit Superstars wie Cristiano Ronaldo, riesige Shopping-Events, die Shopping zum Entertainment erheben, inklusive Auftritten asiatischer Superstars wie der Girlgroup Black Pink (wir hatten bereits an dieser Stelle über das chinesische „Retailtainment“ geschrieben), Livestreams mit bekannten lokalen Influencern und Prominenten sowie Social Feeds in der App – ein modernes Flywheel.
Ein Battle-Royale-Shooter als Geldbringer
Hinter Shopee steht die Sea Group (der Name ist vermutlich eine Anspielung auf die Abkürzung von South East Asia, dem Heimatmarkt des Unternehmens). Die Wurzeln des Unternehmen liegen im Gaming: Es startet 2007 unter dem Namen Garena in Singapur, zunächst als reine Digitalvertriebsplattform für Spiele, die u.a. Hits des chinesischen Digitalkonzerns Tencent (wie etwa „League of Legends“) in Südostasien vertreibt. Tencent ist noch heute mit rund 19 Prozent an SEA beteiligt.
Später dann begann Garena auch eigene Spiele entwickeln zu lassen. Mit dem 2017 veröffentlichten Garena Free Fire gelang der Firma ein Welterfolg; im Jahr 2019 avancierte die Gaming-App zur weltweit am häufigsten heruntergeladenen. Die Spiele-Sparte ist somit für Sea die Cashcow, die das aktuell noch defizitäre E-Commerce-Geschäft refinanziert. Die dritte Geschäftssparte der Sea Group ist der Zahlungsdienstleister Sea Money, der unter anderem eigene, mit Paypal vergleichbare Zahlungsdienste betreibt.
Ist Garena Free Fire der Wachstumshebel für Shopee?
Shopee ist unterdes nicht nur in Südostasien, sondern auch in Südamerika (zumindest in Sachen Wachstum und Reichweitenaufbau) erfolgreich. Dort hat die asiatische Plattform den Marktführer Mercado Libre im vergangenen Jahr in Sachen Dowloads überholt. Der US-Blog „Rest of World“ glaubt, dass dies auch mit dem Erfolg von Garena Free Fire in Südamerika zu tun hat: „Free Fire ist in diesem Sinne einfach ein weiterer Marketingkanal.“ Shopee sponsore Free-Fire-Turniere, u.a. der brasilianischen Free-Fire-eSports-Liga und könne zwischen den beiden Plattformen Cross Promotions durchführen (hier ein Beispiel).
Zuletzt ist Shopee auch nach Europa expandiert, zunächst nach Polen, dann auch nach Frankreich und Spanien. Wie auch „Modern Retail“ schreibt, sei Shopee bisher vor allem in Ländern aktiv geworden, in denen es viele mobile Internetnutzer:innen sowie einen wachsenden Online-Shopping- und Gaming-Markt gebe und in denen Garena Free Fire bereits ein Erfolg sei. Trotz des erfolgreichen Wachstums ließ die Sea Group zuletzt jedoch an der Börse nach: Ihr Aktienpreis ist seit November 2021 um etwa 64 Prozent gefallen, von 358 auf aktuell 129 US-Dollar. Offenbar befürchten die Anleger:innen, dass das von Corona getriebene E-Commerce-Wachstum sein Ende gefunden hat, sowie dass Garena Free Fire künftig nicht mehr so viel Geld einbringen könnte.
„Süchtig nach Punktesammeln auf Shein“
Nicht an den öffentlichen Märkten notiert ist bislang die chinesische Mode-Shopping-App Shein (hier im OMR Porträt). Die verfolgt in Sachen Gamification eine sehr ähnliche Strategie wie Shopee. Zum einen findet sich auch bei Shein ein Kundenbindungs- und Belohnungssystem: User bekommen Punkte, wenn sie sich registrieren, ihre Nummer angeben, die App täglich öffnen, Bewertungen abgeben, oder Outfits zusammenstellen. „Je häufiger ich mich einlogge, desto mehr Punkte bekomme ich. Für eine ‚Heavy Shopperin‘ wie mich ist das ein ziemlicher Spaß“, zitiert Business of Fashion im vergangenen Jahr die deutsche Gymnasiastin Marina Koss. „Das macht ziemlich süchtig.“ (Wir hatten bereits an dieser Stelle über mobile Treueprogramme von Shein, Snipes und anderen Shopping-Apps berichtet.)
Aber auch richtige Minispiele finden sich auf der Shein-Plattform. In der deutschen App lässt sich aktuell beispielsweise der Gamification-Klassiker finden: ein Glücksrad, über das die Nutzer:innen potenziell Rabatte in unterschiedlicher Höhe erhalten können. Das dürfen die Nutzer:innen einmal am Tag drehen; wenn sie Aufgaben bewältigen, wie etwa 15 Sekunden durch das Sortiment zu scrollen, erhalten sie eine weitere Chance.
Die Nutzungszeit von Shein hat sich verdreifacht
Die britische Times berichtet im zurückliegenden November über weitere Casino-artige Spiele (Paywall) auf der englischsprachigen Website von Shein. Bei einem Flappy-Bird-artigen Hindernisspiel sowie einem „Shein Points Giveaway“, für den Nutzer:innen sich eine Live-Verkaufsshow anschauen müssen, können sie Punkte gewinnen, die sie ebenfalls beim Kaufen einlösen können. Offenbar werden solche „Minispiele“ auf der Plattform durchaus gespielt: Wer auf Twitter den Hashtag #sheinminigame in die Suche eingibt, kann durch eine endlos wirkende Zahl von Tweets scrollen, die mit diesem versehen sind.
Das Punktesystem und die Minispiele dürften (neben „Retailtainment“-Events mit Superstars wie Katy Perry, Lil Nas X und Hailey Bieber) dazu beitragen, dass die Retention-Werte der App steigen. Eine vom Mobile-Marketing-Dienstleister Liftoff gemeinsam mit dem Mobile-Analytics-Tool Appannie im September 2021 herausgebrachte Studie besagt, dass Shein-Nutzer:innen in den zwölf Monaten zuvor 215 Prozent mehr Zeit in der App verbrachten hätten. Im März 2021 hätten 88 Prozent all jener Nutzer:innen, die die App auf ihrem Handy installiert hatten, diese mindestens einmal im Monat geöffnet.
Gamification als Ansporn für Reseller
Auf eine andere Form der Gamification als Shein und Shopee setzt die indische Plattform Meesho – auch, weil sie ein anderes Geschäftsmodell hat. Meesho verknüpft Hersteller und Großhändler (vor allem von Kleidung, aber auch anderer Kleinartikel) mit „Resellern“ und diese dann mit den Endkund:innen. Die Reseller sind übereinstimmenden Medienberichten zufolge vor allem Hausfrauen, die sich etwas dazu verdienen wollen. Sie können aus dem Sortiment der Großhändler auswählen, eine Marge aufschlagen und ihr Angebot digital verbreiten: über Facebook und Instagram, aber vor allem Whatsapp soll der Wachstumstreiber für Meesho sein. Geld verdient Meesho mit Gebühren von den Großhändlern.
Weil die Reseller für Meesho für das entscheidende virale Wachstum sorgen, haben die Macher der Plattform (in das Unternehmen sind zahlreiche namhafte VCs wie Sequoia und DST, aber auch Firmen wie Facebook und Softbank investiert) bei den Zwischenhändlern Gamification-Elemente integriert. Im Herbst 2020 hat das Meesho-Team ein Konzept namens „Journey Gamification“ eingeführt, um den Reseller:innen einen größeren Anreiz zu geben, ihre Produkte zu bewerben. Über ein Punktesystem inklusive „Leaderboard“ können die Verkäufer:innen verschiedene Level erreichen und Badges für ihr Händler:innenprofil erhalten. Im Rahmen eines AB-Tests habe Meesho daraufhin eine Zunahme an Engagement und Retention messen können.
Passt „Einkaufen als Spiel“ in die Klimakrisen-Ära?
Es bleibt die Frage, ob die Inszenierung von Konsum als Spiel in der westlichen Welt, in der verantwortungsbewusster Konsum und Purpose Marketing deutlich stärker dem Zeitgeist entspricht, als Marketinghebel funktionieren kann. Shopees Expansion nach Südamerika und Europa zeugt zumindest von den Ambitionen der asiatischen E-Commerce-Konzerne, ihre Shopping-Konzepte hierher zu bringen.
Dass das funktionieren kann, belegt der bisherige Erfolg von Shein in der westlichen Hemisphäre. In den USA hat die chinesische App im Mai 2021 Amazon in den App-Store- und Google-Play-Charts als Top-Shopping-App abgelöst. In Sachen Download-Zahlen lag Amazon im zurückliegenden Jahr dort laut Apptopia zwar noch vor Shein. Dem Marktforscher Earnest Research nach ist das chinesische Unternehmen jedoch mittlerweile der größte Fast-Fashion-Player des Landes – noch vor H&M und Zara.