Milliarden-Reichweiten ohne echtes Marketing – Die Tippspiel-Plattform Kicktipp.de ist ein Phänomen

Torben Lux24.5.2016

Kurz vor der Europameisterschaft in Frankreich haben wir mit Kicktipp-Macher Janning Vygen gesprochen

Kicktipp Titel

Wenn der Ball bei der Fußball-Europameisterschaft in Frankreich in wenigen Tagen endlich rollt, passiert wieder Magisches: Fans und Zuschauer verwandeln sich in Experten und tippen Ergebnisse, Torschützen und Gruppensieger. Mit einer hohen Wahrscheinlichkeit erzielt die 1995 gestartete Plattform Kicktipp.de dann wieder Traffic-Rekorde; eine Milliarde Seitenaufrufe waren es während der Weltmeisterschaft 2014. Dabei findet gezieltes Marketing quasi nicht statt. Wir haben mit dem Macher Janning Vygen gesprochen und erfahren, wie er sie aufgebaut hat – und was diese Mega-Reichweite eigentlich wert ist.

„Wie der Ursprung im Detail war, weiß ich gar nicht mehr genau. 1995, während meines Jura-Studiums, hatte ich einfach Bock, etwas zu programmieren. Da ist dann erst einmal eine kleine Tipprunde für Freunde entstanden“, erzählt Janning Vygen im Gespräch mit Online Marketing Rockstars. Das Prinzip ist einfach: Ein Spielleiter erstellt eine Tipprunde zur Fußball-Europameisterschaft, einer internationalen Liga wie der spanischen Primera División oder zu anderen Sportarten wie Handball, Hockey oder Formel 1. Auch komplett eigene Wettbewerbe können angelegt werden. Per Mail-Einladung fügt der Spielleiter dann Teilnehmer hinzu und legt die Regeln fest (z.B. Verfügbarkeit von Bonustipps wie Torschützenkönig und wie viele Punkte es pro Sieg gibt).

Janning Vygen, Kicktipp-Gründer

Kicktipp-Gründer Janning Vygen

Dass aus dieser, anfangs nur für private Zwecke bestimmten Software, in den folgenden Jahren die extrem erfolgreiche Tippspiel-Plattform Kicktipp.de werden sollte, war damals noch nicht abzusehen und auch nicht geplant. Marketing habe Janning nie wirklich gemacht. Und trotzdem hat Kicktipp.de laut ihm heute 1,3 Millionen aktive Nutzer in Deutschland, also Mitglieder, die mindestens einen Tipp pro Monat abgeben. Während der Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien habe die Seite eine Milliarde Seitenaufrufe erzielt, in der Spitze konnte er 50.000 Seitenzugriffe pro Sekunde messen. „Das ist schon fett“, erinnert sich Janning stolz. „In dem Jahr haben wir es auch unter die zehn meistgesuchten Begriffe bei Google geschafft, hinter Conchita Wurst und vor Ebola.“ Aber wie hat es die kleine, private Tipprunde zur erfolgreichen Plattform gebracht?

Kein Marketing und trotzdem Milliarden Seitenaufrufe – wie ist das möglich?

Die extremen Traffic-Peaks gibt es laut Janning natürlich immer zu großen Turnieren wie Welt- und Europameisterschaft; in der Regel wird alle zwei Jahre ein neuer Rekord aufgestellt. Trotzdem kann sich der Traffic auch während einer laufenden Bundesliga-Saison sehen lassen. Laut dem Statistikdienst SimilarWeb verzeichnete Kicktipp.de im April 2016 fast 3,2 Millionen Visits, zwischen zwei Spielzeiten und während der Winterpause fällt dieser Wert jeweils etwas ab. „Ich glaube, der Erfolg basiert nahezu komplett auf Mund-zu-Mund-Propaganda. Wir haben nie wirklich Marketing gemacht“, sagt Janning. „Natürlich habe ich Anfangs darüber nachgedacht, aber es gibt zwei Probleme. Erstens würde Werbung nur in sehr kurzen Zeitraumen vor Spielzeiten und Wettbewerben Sinn machen, während einer laufenden Saison fängt ja keiner mehr mit einer Tipprunde an. Und zweitens ist die Zielgruppe, die man ansprechen müsste, deutlich kleiner, als die Zahl der aktiven Nutzer. Wir müssten ja potenzielle Spielleiter finden.“ Dass es von denen auch so offenbar genug gibt, deuten dann auch die Zahlen an. 120.000 Runden seien laut Janning im Schnitt aktiv, entsprechend viele Spielleiter gäbe es. „Der Fokus liegt definitiv auf dem Produkt. Technik und Performance müssen stimmen“, betont Janning. „Der Rest kam bisher zum Glück von alleine.“

SimilarWeb zeigt einen deutlichen Traffic-Peak von kicktipp.de während der WM 2014.

Auch wenn die Reichweite von Kicktipp seit dem Startschuss 1995 ohne echten Marketing-Aufwand stetig zunimmt, war das Betreiben für Janning lange Zeit mehr Hobby als Beruf. Mehr als sechs Jahre lang hat er neben dem Jura-Studium – das er übrigens abgeschlossen hat – nicht nur viel Zeit in die Programmierung der Seite investiert, sondern auch für Serverkosten draufzahlen müssen. Erst seit etwa 2002 erwirtschaftet Kicktipp Gewinne, seit 2007 ist das Projekt als GmbH unterwegs. „Seitdem ist auch mein Kollege Peter Buning an Board und wir haben die Seite technisch mit extrem viel Aufwand umgekrempelt. Bis heute machen wir das zu zweit als Full-Time-Job“, sagt Janning. Das Geschäftsmodell von Kicktipp basiert dabei auf klassischer Display-Vermarktung, kostenpflichtige Accounts oder Mitgliedschaften für normale Nutzer gibt es nicht. Unternehmen können sich allerdings für knapp zehn Euro im Monat eine White-Label-Lösung buchen, im eigenen Corporate Design branden und sie selber vermarkten. Zur anstehenden Fußball-Europameisterschaft nutzen dieses Angebot beispielsweise Unternehmen wie Ford, Kärcher und die Rheinischen Anzeigenblätter. „Die Display-Anzeigen machen etwa 70 Prozent vom Umsatz aus, die Profi-Pakete den Rest. Wir wollen da eher Richtung 50:50 gehen, das klappt bisher aber nur annähernd bei großen Turnieren“, so Janning.

Wird die minimalistische Vermarktung innerhalb der erfolgreichen App zum Problem?

Monja Skalden von Skalden Media

Monja Skalden von Skalden Media

Seit fast zwei Jahren ist Monja Skalden von Skalden Media für die Vermarktung von Kicktipp verantwortlich. Die selbstständige Beraterin ist seit 2000 in der Branche unterwegs, war unter anderem bei Doubleclick, Interactive Media und G + J Electronic Media Sales. Aktuell vermarktet sie neben Kicktipp auch die internationalen Seiten vom Online-Fußballmanager Comunio, ebenfalls die internationalen Ableger von Transfermarkt.de und berät einige weitere namhafte Publisher. „Der Großteil bei Kicktipp ist Agenturgeschäft, danach kommt zu einem noch deutlich kleineren Teil Programmatic. Und zu großen Turnieren wie jetzt zur Europameisterschaft verkaufen wir Platzierungen, die es sonst nicht gibt“, erklärt Monja Skalden. Vor allem Sportwetten-Anbieter würden super funktionieren. „Insgesamt ist Janning aber sehr vorsichtig, was Banner angeht. Das stößt bei Kunden nicht immer auf Verständnis, weil er so auch mal recht große Budgets ablehnt. Das macht ihn am Ende aber auch so sympathisch, weil es zeigt, dass es für ihn ein Herzensprojekt ist und nicht in erster Linie um Geld geht.“

Diese Philosophie spiegelt sich dann auch in der Kicktipp-App wider, die regelmäßig auf den ersten Plätzen der Appstores zu finden ist (jeweils Gratis-Kategorie „Sport“); in Googles Playstore wird die App von Kicktipp bei über 8.300 Bewertungen mit über vier Sternen bewertet und trägt das Siegel für eine Million Downloads. Lediglich ein kleines 6:1-Banner befindet sich am unteren Seitenrand innerhalb der App. Das dürfte mit der immer weiter zunehmenden Smartphone-Nutzung und einem dadurch sinkenden Anteil vom Desktop-Traffic langfristig zu einem nicht zu unterschätzenden Finanzierungs-Problem für Kicktipp werden. Trotz Vermarktungs-Minimalismus scheint das Tippspiel-Portal trotzdem noch ein durchaus lukratives Projekt zu sein. 2015 habe die Seite laut Janning etwa 900.000 Euro Umsatz gemacht. Die laufenden Kosten dürften dabei überschaubar sein.

Kicktipp App

Links: iOS-App mit 6:1-Banner unten. Rechts: Kicktipp in Googles Playstore.

Wie sieht die Zukunft von Kicktipp aus?

Dass Kicktipp die etwas andere, mit weiteren Online-Projekten nur schwer vergleichbare Erfolgsgeschichte ist, zeigt nicht nur die zurückhaltende Vermarktungs-Politik von Janning. Auch der Gründer selbst passt nicht so recht in die häufig Buzzword-getränkte Internetszene voller Superlativen – und will es auch gar nicht. Entsprechend zurückhaltend ist er seit Jahren unterwegs. Man findet ihn nicht auf Events, Bemühungen um einen Verkauf gab es nie wirklich. „Nur einmal habe ich so halbherzig versucht, Angebote einzuholen, um Kicktipp eventuell zu verkaufen. Das war aber vor allem interessehalber, um für mich den Wert zu erkennen“, erinnert sich Janning. „Die paar Angebote waren aber überhaupt nicht attraktiv, vielleicht ist unsere Story auch einfach zu unspektakulär.“ Er habe sich dann sehr schnell entschieden, den Exit-Gedanken komplett zu streichen. Stattdessen gibt es seit inzwischen zwei Jahren Bemühungen, Kicktipp zu internationalisieren. „Wir haben in Frankreich, Spanien und Italien jeweils einen Mann, der Übersetzung, Service und Marketing macht. Das brauchen wir beim Markteintritt im Ausland, anders als hier, nämlich auf jeden Fall. Die Nutzerzahlen sind noch sehr überschaubar“, sagt der Kicktipp-Gründer. In Spanien beispielsweise seien es nur rund 2.000 aktive, in England immerhin 20.000 Nutzer.

Vielleicht sind es diese kleinen Anlaufschwierigkeiten bei der Internationalisierung, die Janning den Erfolg hierzulande nicht zu Kopf steigen lassen. „Dass es jetzt so erfolgreich ist, ist schön. Aber ich weiß auch, dass irgendwann alles zu Ende geht“, sagt er, ohne lange nachdenken zu müssen. „Seit 1995 habe ich schon viele Seiten kommen und gehen sehen. Irgendwann gehört, glaube ich, jeder dazu.“

Janning hat es geschafft, ohne Marketing mit einer eigenen, kleinen Plattform erfolgreich zu werden. Wenn Ihr jetzt aber wissen wollt, wie Marketing, auch im größeren Stil, auf neuen Plattformen wie Snapchat, Instagram und Messengern funktioniert, dürft Ihr auf keinen Fall unsere New Platform Advertising Konferenz am 26. Mai im Hamburger Docks verpassen. Ein paar Tickets gibt es noch. Hier geht’s zum kompletten Line-Up!

Torben Lux
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Torben Lux

Torben ist seit Juni 2014 Redakteur bei OMR. Er schreibt Artikel und Newsletter, plant das Bühnenprogramm des OMR Festivals, arbeitet an der "State of the German Internet"-Keynote, betreut den OMR Podcast und vieles mehr.

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