Millionengeschäft Faszien: So profitieren findige Online-Marketer vom Hype

Diskuswerfer Robert Harting beim Verwenden einer Faszienrolle (Foto: Robert Harting/Twitter)

Der einst unbekannte Begriff sorgt für enorme Umsätze

Diskuswerfer Robert Harting beim Verwenden einer Faszienrolle (Foto: Robert Harting/Twitter)

Diskuswerfer Robert Harting beim Verwenden einer Faszienrolle (Foto: Robert Harting/Twitter)

Faszien – vor wenigen Jahren war der Begriff noch kaum bekannt. Heute ist aus dem Trend eine komplette Industrie entstanden, in der Macher und Trittbrettfahrer über das Internet viel Geld verdient. Wir beleuchten und erklären das Phänomen.

Wer sich in den vergangenen Jahren auch nur ein bisschen tiefer mit den Themen Gesundheit, Bewegung und Fitness auseinander gesetzt hat, ist am Begriff Faszien vermutlich nicht vorbei gekommen. Fitnessstudios bieten Faszientraining an und Physiotherapeuten entsprechende Therapien, eine Vielzahl von Büchern und DVDs verspricht Aufklärung zum Thema.

Faszien sind das Bindegewebe, das die Muskeln und Organe im Körper umhüllt. Noch vor wenigen Jahren war der Begriff kaum im öffentlichen Bewusstsein. Wie groß das Interesse an ihm heute ist, zeigt die Entwicklung der Suchanfragen bei Google. Wie erklärt sich also die erstaunliche Karriere des Wortes?

Robert Schleip (Foto: Riva Verlag, CC BY-SA 3.0)

Robert Schleip (Foto: Riva Verlag, CC BY-SA 3.0)

Vater des „Erfolgs“ der Faszien ist Dr. Robert Schleip. Der Körpertherapeut arbeitet seit Ende der 70er Jahre nach der „Rolfing“-Methode. Bei dieser sollen durch das manuelle Massieren des „Fasziennetzes“ Spannungen und auch emotionale Beschwerden beseitigt werden können. „Rolfer“ berufen sich auf die aus den 50er Jahren stammende Lehre der US-Biochemikerin Ida Rolf. Die Wirksamkeit von Rolfing ist bislang wissenschaftlich nicht belegt.

Er habe tägliche Behandlungserfolge gesehen und gespürt, sagt Schleip im Jahr 2012 in einem ARD-Bericht. „Aber die Erklärungskonzepte, die wir Rolfer da hatten, sind mir ein wenig zu dünn gewesen.“ Er habe genau wissen wollen, was wissenschaftlich haltbar sei – und geht deshalb im Jahr 2003 an der Universität Ulm in die Forschung. Im Jahr 2006 promoviert er mit einer Arbeit zum Thema Faszien; im darauf folgenden Jahr veranstaltet er an der Harvard Medical School in Boston den ersten Faszienkongress. Heute leitet Schleip das „Fascia Research Center“ an der Ulmer Uni. Ein Ergebnis der Forschung: Bei Rückenschmerzpatienten habe eine Verdickung der Faszien festgestellt werden können, erklärt eine Neurophysiologin der Universität Ulm in dem TV-Beitrag der ARD.

TV-Sendung sorgt für mehr Google-Suchanfragen

Schleip sucht nun verstärkt die Öffentlichkeit: Nachdem die ARD-Sendung „W wie Wissen“ über ihn berichtet hat, tritt er Ende Januar 2013 in einer Folge des beliebten Wissensmagazins „Quarks & Co“ zum Thema „Geheimnisvolle Faszien“ als Experte auf. Der WDR stellt für die interessierten Zuschauer ein PDF mit Faszien-Übungen und eine Web-App online. Offenbar trifft die Sendung einen Nerv – vielleicht bei Zuschauern, die bislang noch keinen Weg zur Erlösung von ihren Schmerzproblemen gefunden haben. Anhand des Tools Google Trends lässt sich nachvollziehen, wie die Sendung und Schleip den ersten Stein des „Faszien-Hypes“ ins Rollen bringen: Bei der Suchmaschine steigt die Zahl der Suchanfragen zum Begriff „faszien“ im Februar 2013, also im Monat nach der Sendung, erstmals deutlich an. Ein Video der Quarks-Sendung bei Youtube ist bislang fast 300.000 Mal abgerufen worden.

Die Entwicklung der Suchanfragen zum Begriff "faszien" in Deutschland (Quelle: Google Trends)

Die Entwicklung der Suchanfragen zum Begriff „faszien“ in Deutschland (Quelle: Google Trends)

Womöglich wegen des großen Interesses der Zuschauer an der vorhergehenden Folge, widmet sich Quarks im April 2014 erneut dem Thema Faszien. Erneut steigen die Suchanfragen bei Google.

Das so immer stärker wachsende Interesse vermarktet Schleip zu einem guten Teil selbst. Nicht nur, dass er sich als „Personality Brand“ etabliert, Bestseller-Bücher zum Thema schreibt, bei den DVDs und Büchern anderer Autoren seinen Namen zur Verfügung stellt (wie ein Gütesiegel, etwa als Vorwort-Autor) und Trainingsprodukte empfiehlt: Seine Frau Divo Müller betreibt die Fascial Fitness Association GmbH, die über einen Online-Shop Bücher, DVDs und Trainings-Material verkauft und darüber hinaus auch eine Ausbildung zum Fascial Fitness Trainer anbietet. Laut einem Bericht der „Welt“ kostet die viertägige Ausbildung mindestens 740 Euro. Wie die FAZ berichtet, sollen bis Oktober 2015 mehr als 400 Teilnehmer ein entsprechendes Zertifikat erhalten haben. Wie die „Welt“ schreibt, will der Verband als nächstes in Europa, dann weltweit internationalisieren.

Robert Schleip ist der Fascial Fitness Association als Berater verbunden. Es sei eine „merkwürdige Sonderrolle“, die Schleip im Hype um die Faszien einnehme, schreibt die „Zeit“. „In seiner Doppelrolle als Erforscher der Faszien und ihr Vermarkter steckt Schleip in einem klaren Interessenkonflikt.“ Schleip selbst versichert gegenüber der Zeitung: „Alle Einnahmen fließen in meine Forschung, auch mein Privatvermögen.“

Hersteller von Faszienrollen profitieren vom Hype

Rund um das Thema Faszien hat sich unterdes auch abseits von Schleip ein kompletter kleiner Wirtschaftszweig entwickelt. Neben den Fitness-Studios und Therapeuten, die Faszien-Training und -Therapie anbieten, dürfte Jürgen Dürr zu den größten Profiteuren des Rummels gehören. Der 48-jährige Schwabe hat das Unternehmen Blackroll gegründet und verkauft unter diesem Markennamen Schaumrollen, mit denen die Nutzer im Hausgebrauch ihre Faszien massieren können.

Der Blackroll-Gründer ist seit vielen Jahren im Vertrieb von gesundheitsnahen Produkten tätig und baute unter anderem den Deutschlandvertrieb der „Massai Barefoot Technology“-Schuhe (MTB) mit konvex abgerundeten Sohlen auf. Mitte des vorherigen Jahrzehnts sieht Dürr bei der deutschen Fußballnationalmannschaft die Schaumrollen im Trainingseinsatz; dort eingebracht vom US-Fitnesscoach Mark Verstegen. Während sich die Presse zu dieser Zeit auf das Training der Kicker mit so genannten Therabändern aus Gummi stürzt und dieses in den Mittelpunkt ihrer spöttelnden Berichterstattung stellt, erkennt Dürr das Geschäftspotenzial der Schaumrollen. „Erst wollte ich genau diese Rollen in Deutschland vertreiben, aber die Qualität stimmte nicht, die sahen aus wie ein Abfallprodukt aus der Teppichherstellung“, erzählt Dürr später der „Welt“. Er entwickelt also eine eigene Rolle und lässt diese künftig in der Nähe von Chemnitz herstellen.

Holidaycheck-Manager sollen Blackroll auf die nächste Stufe heben

Anfangs habe er nur mäßigen Erfolg damit gehabt, Händler davon zu überzeugen, sein Produkt in ihr Sortiment aufzunehmen. Erst als 2009 auf einer Fachveranstaltung einen Preis gewinnt und Physiotherapeuten anfangen seine Rolle zu empfehlen, zieht das Geschäft langsam an. Ende 2011 verpflichtet er zwei Online-Profis, um sein Unternehmen zu führen: Marius Keckeisen (CEO) und Axel Jockwer (Managing Director), die beide zuvor beim Reiseportal Holidaycheck im Marketing tätig waren. Der 2012 dann langsam einsetzende Hype um das Thema Faszien dürfte sich dann als Glücksfall für Blackroll erwiesen haben. Dr. Schleip empfiehlt die Blackroll („Ich bin von der Backroll (sic!) schlicht begeistert!“) und gemeinsam mit dem steigenden Interesse der Öffentlichkeit dürfte auch der Blackroll-Absatz gestiegen sein. Heute wird „blackroll“ von Deutschland aus bei Google ähnlich häufig gesucht wie Freeletics oder Runtastic – zwei mittlerweile millionenschwere Sport-Start-ups.

Die Entwicklung der Suchanfragen zum Begriff "blackroll" in Deutschland (Quelle: Google Trends)

Die Entwicklung der Suchanfragen zum Begriff „blackroll“ in Deutschland (Quelle: Google Trends)

Blackroll verkauft die unternehmenseigenen Produkte sowohl über einen eigenen Online-Shop (Blackroll.de und Blackroll.com), als auch über ein Händlernetz. Eine Standard-Rolle kostet knapp 30 Euro. Infos über Umsatz und Gewinn von Dürrs mittlerweile in der Schweiz ansässigen Unternehmen sind öffentlich nicht verfügbar. Gegenüber der „Welt“ bezifferte der Gründer die Zahl der verkauften Rollen im Jahr 2014 auf „erstmals sechsstellig“. „Seit 2012 verzeichnen wir exponentielles Wachstum. Wir liefern in über 20 Länder, auch nach Australien und Korea.“ Geht man davon aus, dass der Absatz im Jahr 2015 durch den zunehmenden Hype noch weiter gestiegen ist, erscheint vorsichtig geschätzt ein Umsatz in mittlerer einstelliger bis niedriger zweistelliger Millionen-Euro-Höhe als nicht unrealistisch.

Kein Wunder, dass Blackroll in einem starken Wettbewerb steht. Der deutsche Konkurrent „Black Roll Orange“ (produziert vom Unternehmen Dr. Koch) agiert augenscheinlich ebenfalls erfolgreich am Markt. Auch etablierte Hersteller von Physiotherapeutenzubehör wie etwa Pino Pharmazeutische Präparate haben entsprechende Produkte in den Markt gebracht.

Umsätze im dreistelligen Millionen-Bereich?

Zieht man die Vielzahl der Bücher, DVDs, Ausbildungsprogramme und Massagegeräte in Betracht, erscheint es durchaus als wahrscheinlich, dass die Aufmerksamkeit für das Thema Faszien in Deutschland jährlich für Umsätze im zwei- bis dreistelligen Millionen-Euro-Bereich sorgt.

Unterhalb den Hauptnutznießern des Faszien-Trends, also den Therapeuten, Hersteller und Ratgeber-Autoren, hat sich zudem ein eigenes kleines Ökosystem an Online-Marketing-Machern entwickelt, die versuchen, die Aufmerksamkeit zu dem Thema im Netz abzufischen und zu Geld zu machen. Wer bei Google nach Begriffen wie „faszien“ oder „faszienrolle“ sucht, stößt in den Ergebnissen auf diverse Affiliate-Seiten mit URLs wie faszienrolle.org, faszien-rolle.net oder faszien-rollen-test.de. Meist sind dort entsprechende Produkte auf Amazon verlinkt – kauft der Nutzer dort ein, erhält der Website-Betreiber unter bestimmten Bedingungen eine Provision. Laut Schätzungen des Statistik-Tools SimilarWeb verzeichen die Seiten zwischen 4.000 und 7.400 Besucher pro Monat.

Noch erfolgreicher sind einige Betreiber von Youtube-Kanälen mit der Vermarktung von „Faszien-Traffic“: Auf der Videoplattform lassen sich ohne Problem diverse Videos mit fünf-, teilweise auch sechsstelligen Abrufzahlen finden. Wer etwa nach „faszientraining“ sucht, stößt auf dem zweiten Platz unter den Suchergebnissen auf ein Video des Youtubers Dominik Franke, das bislang 87.000 Views verzeichnet. Ein Affiliate Link darunter wurde bislang fast 5.000 Mal angeklickt.

Öffentlich einsehbare Statistiken des Affiliate-Links unter dem Youtube-Video von Dominik Franke

Öffentlich einsehbare Statistiken des Affiliate-Links unter dem Youtube-Video von Dominik Franke

Auch der Begriff „blackroll“ wird bei Youtube offenbar viel gesucht. Unter den Suchergebnissen findet sich ein Video des Fitness-Kanals „StrongandFlexTV“, das bislang 225.000 Mal abgerufen wurde. Der erste Affiliate-Link in der Video-Beschreibung, der zum Blackroll-Shop führt, wurde bislang sogar 23.000 Mal angeklickt.

Klick-Statistiken des Affiliate-Links unter dem Video von "StrongandFlexTV"

Klick-Statistiken des Affiliate-Links unter dem Video von „StrongandFlexTV“

Womöglich können findige Affiliate Marketer künftig noch mehr Provisionen kassieren, sollte es Machern wie Dürr gelingen, noch weitere Geschäftspotenziale mit seinen Schaumrollen zu erschließen. Gegenüber der „Welt“ kündigte der Blackroll-Gründer an, künftig auch Frauen mit Bindegewebsschwäche anzusprechen. „Irgendwann wird sich die Erkenntnis durchsetzen, dass man mit der Blackroll die Oberfläche der Haut optisch verändern kann, ganz ohne OP.“

Schon heute treibt das Faszien-Business kuriose Blüten. Für weniger motivierte Kunden hat Blackroll das Produkt „Blackroll 2.0“ in den Markt gebracht: eine Schaumrolle mit eingebautem Vibrationsmotor. „Sie müssen sich nur noch drauflegen“, so Dürr. In den USA hat im vergangenen Jahr das Unternehmen „RolPal“ eine „Luxus-Schaumrolle“ für den Preis von 365 US-Dollar in den Markt gebracht.

Dem eigentlichen Erfinder des Hypes ist der Trubel bereits Anfang 2015 ein wenig zu viel geworden: „So wie ich den aktuellen Rummel in der Fitness-Szene mitbekomme, wird da auch schon mal mächtig übertrieben“, sagte Robert Schleip im Februar 2015 im Interview mit „Spiegel Online“.

Roland Eisenbrand
Autor*In
Roland Eisenbrand

Roland ist seit mehr als zehn Jahren als Journalist in der Digitalbranche aktiv. Seit 2014 verantwortet er als Head of Content (und zweiter Mitarbeiter) alle inhaltlichen Komponenten von OMR, darunter vor allem den OMR Blog und redaktionelle Arbeit rund um das OMR Festival.

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