Wimbledon zwischen Klassik und KI: So innovativ ist das älteste Tennisturnier der Welt

Das Grand-Slam-Highlight im Südwesten Londons will mit digitalen Innovationen Fans begeistern und junge Menschen anlocken

Wimbledon bei Fortnite: Tradition trifft auf innovative Plattformen.
Wimbledon bei Fortnite: Tradition trifft auf innovative Plattformen.

Wimbledon ist das traditionsreichste Tennisevent der Welt – und gleichzeitig auch das innovativste. Der 1868 gegründete Veranstalter All England Club schafft dabei den Spagat zwischen klassischem Charme und digitalen Neuerungen. Beim Tennis-Highlight des Jahres treffen sich Kleiderordnung und KI, Royals und Roblox sowie Fortnight und Fortnite. Wimbledon wird damit zur Blaupause, wie Sportevents Stammkunden glücklich machen können, ohne sich neuen Zielgruppen zu verschließen.

Goldene Ananas und Erdbeeren en masse

Starten wir mit einem Fun Fact. Seit jeher ziert eine Ananas die Spitze des goldenen Wimbledon-Pokals. Warum das allerdings so ist, weiß niemand so richtig. Selbst der All England Club, der das Turnier seit 1877 ausrichtet, ist da ratlos: „Ja, das ist eine Ananas auf der Spitze und nein, niemand scheint sich einen Reim darauf machen zu können, was sie dort zu suchen hat“, schreiben die Grand-Slam-Veranstalter auf ihrer Website.

Wimbledon ist reich an Kuriositäten und Eigenheiten, die es sonst weder anderswo im Tennis noch in anderen Sportarten gibt. Ein weiteres Beispiel gefällig? Laut Generation Logistics werden in den zwei Wochen des Turniers rund 317.000 Gläser des britischen Kult-Aperitifs Pimm‘s geleert und 200.000 Schälchen Erdbeeren verzehrt.

Linienrichter*innen vs. Computer

Auch herrscht in Wimbledon eine strikte Kleiderordnung: Alle Tennisprofis müssen auf dem heiligen Rasen seit jeher von oben bis unten in weiß antreten. Daneben gehören die im Vergleich elegant gekleideten Linienrichter*innen fest zum Wimbledon-Inventar– über 300 an der Zahl sind während des zweiwöchigen Turniers im Einsatz. Ein Kostenpunkt, den sich Wimbledon gönnt, um die Tradition auch an dieser Stelle zu wahren. Und im Tenniszirkus mehr und mehr ein uniques Alleinstellungsmerkmal.

Denn: Andere Grand-Slam-Turniere wie die Australian Open und die US Open haben Linienrichter*innen unlängst durch das sogenannte Electronic Line Calling ersetzt. In Melbourne und New York ruft nun eine Computer-Stimme das berühmte „out!“, wenn die gelbe Filzkugel außerhalb des Spielfelds auftitscht. Nicht zu verwechseln mit der herkömmlichen Hawk-Eye-Technologie, mit der die Tennisprofis vermeintliche Fehl-Entscheidungen der Schiedsrichter*innen challengen können – die kommt seit 2007 auch in Wimbledon zum Einsatz.

Restriktionen für Sponsoren

Ein anderer im Profisport ungewöhnlicher Move von Wimbledon ist der restriktive Umgang mit Sponsoren. Wimbledon zählt zwar 14 renommierte Marken von American Express bis Vodafone zu seinem Partnerpool, doch sind deren Logos auf Werbetafeln kaum zu sehen. Der Grund: Die Veranstalter wollen das Gelände rund um den als „Mekka des Tennissports“ bekannten Centre Court an der Church Road nicht zu offensichtlich kommerzialisieren.

„Unsere Clean-Court-Philosophie ist das Herzstück unserer Marke“, beschreibt der ehemalige Wimbledon-Vermarktungschef Mick Desmond den Ansatz gegenüber „Forbes“.

Die Unternehmen scheint das nicht zu stören – Ralph Lauren (seit 2006), Evian (2008), Lavazza (2011) und weitere sind zum Teil schon weit über zehn Jahre dabei. Der Ballhersteller Slazenger ist sogar schon seit 1902 an Bord – und dürfte damit die längste aktive Partnerschaft im Sportbusiness überhaupt sein. Side note: Pro Wimbledon-Turnier stellt Slazenger rund 55.000 Bälle.

406 Millionen Euro Umsatz, 54 Millionen Euro Gewinn

In Summe nimmt Wimbledon umgerechnet rund 65 Millionen Euro über Sponsoring ein. Genauso viel erlöst das Turnier über Ticketing, während gut 49 Millionen Euro auf den Bereich Merchandising und Lizenzen entfallen. Der Löwenanteil des Gesamtumsatzes von gut 406 Millionen Euro kommt mit 227 Millionen Euro aus dem Verkauf der Medienrechte. Am Ende bleibt ein Gewinn von rund 54 Millionen Euro. Obwohl Wimbledon im Sponsoring sogar noch Vermarktungspotenziale nicht bis in den letzten Winkel ausschöpft, ist das Turnier also, ebenfalls traditionell, hochprofitabel.

Wimbledon ist aber nicht nur deswegen so erfolgreich, weil es besonders traditionsbewusst ist. Ganz im Gegenteil: In dem Turnier, das in diesen Tagen seine 136. Auflage feiert, steckt mehr Innovation als in jedem anderen Tennisturnier und den meisten anderen Sportevents. Die Veranstalter verfolgen mit ihrer Digitalstrategie vorrangig zwei Ziele: Sie wollen junge Menschen erreichen und das Fan-Erlebnis optimieren.

Wimbledon ist Social-Media-König

Bereits der Blick auf einige Social-Media-KPIs deutet an, dass Wimbledon nicht nur Klassik kann. Ob bei Instagram, Tiktok oder Twitter: Das englische Rasenturnier stellt in Sachen Follower*innen alle anderen drei Grand Slams in den Schatten. Kumuliert folgen Wimbledon auf den drei Kanälen 9,5 Millionen Menschen. Die French Open kommen gerade mal auf 6,1 Millionen Follower*innen, dahinter liegen die Australian Open (5,7 Millionen) und die US Open (5,6 Millionen).

Die Reichweitengiganten im Sport sind aber weder Vereine noch Turniere, sondern die Sportstars. Das weiß auch Wimbledon und macht sich deren Popularität gezielt zunutze: Als der achtmalige Wimbledon-Champion Roger Federer Anfang Juli mit Schlips und Kragen die Royal Box auf dem Centre Court beehrt, hält die Social-Media-Abteilung die Momente in gleich vier verschiedenen Videos auf Tiktok fest. Alle zählen nach kürzester Zeit mehr als eine Million Views.

Auch bei Instagram, wo Federer gut 11,7 Millionen Follower*innen hat, werden die Momente mehrfach festgehalten, was zum Teil weit über 500.000 Interaktionen pro Post bringt. Die globalen Instagram-Stars der Tennisszene sind seit Jahren übrigens Rafael Nadal (19 Millionen Follower*innen) und Serena Williams (16,7 Millionen), während die größte deutsche Tennis-Hoffnung, Alexander Zverev, auf 1,8 Millionen kommt.

Von Roblox bis Tennis Clash 

Neben Social Media setzt Wimbledon verstärkt auf Gaming. Im Juni 2022 verewigen die Veranstalter den altehrwürdigen Centre Court in einem immersiven 3D-Spiel auf Roblox. Darin können Fans Belohnungen sammeln, die sie im virtuellen Wimbledon-Store einlösen können – beispielsweise Produkte aus der turniereigenen Ralph-Lauren-Kollektion. Traditionsbewusst wie er ist, überlässt der All England Club auch beim Zeitpunkt des Roblox-Launchs nichts dem Zufall: Die sogenannte „Wimble World“ erscheint passgenau zum 100-jährigen Bestehen des Centre Courts.

Zeitgleich zum Roblox-Debüt verkünden die Wimbledon-Macher eine Zusammenarbeit mit dem Handyspiel Tennis Clash und launchen die gamifizierte Tennis-App Wimbledon Smash. Die App verfügt über einen Ganzjahresmodus, in dem Spieler*innen trainieren und verschiedene Level durchlaufen können. Während des zweiwöchigen Wimbledon-Turniers gibt es einen extra Meisterschaftsmodus. Die besten Spieler*innen können dabei Preise wie Halbfinaltickets für die Championships 2024 gewinnen – so zieht man Fans digital an und zieht sie in das physische Event vor Ort.

Zwölf Millionen Visits in der Wimble World

„Unsere Mission ist es, dafür zu sorgen, dass die Fans von morgen genauso Wimbledon lieben wie die Fans von heute“, sagt Alexandra Willis, Kommunikations- und Marketingdirektorin beim All England Club. Und die Aktivitäten auf Roblox scheinen bei den jungen Fans anzukommen. In den ersten zwölf Monaten verzeichnet die Wimble World auf der Metaverse-Plattform über zwölf Millionen Visits, davon allein fast zehn Millionen während der beiden Turnierwochen 2022. Nach Angaben der Veranstalter sind über 80 Prozent der Nutzer*innen unter 24 Jahre alt.

Die Wimble World ist eines der meistbesuchten offiziellen Sporterlebnisse auf Roblox. Im Januar dieses Jahres folgen etwa die Australian Open dem englischen First Mover auf Roblox. Während der ersten Turnierwoche kommt die Präsenz „AO Adventure“ nur auf vergleichsweise geringe 2,4 Millionen Visits. Bis Mai steigt der Wert immerhin auf 8,5 Millionen.

Szene aus Race to Wimbledon bei Fortnite.

Szene aus Race to Wimbledon bei Fortnite. (Foto: All England Club)

Wimbledon mit eigenem Fortnite-Spiel

In Sachen Gaming geht Wimbledon seit diesem Jahr noch einen Schritt weiter und veröffentlicht ein eigenes Spiel auf der Plattform Fortnite. Bei „Race to Wimbledon“ treten Spieler*innen gegeneinander an, um die beste Zeit auf einem Parcours zu erzielen, der sich vorbei an gigantischen Erdbeeren von Big Ben über das London Eye bis zum Wimbledon Village über mehrere Londoner Wahrzeichen erstreckt.

Wer die von Tennisprofi Andy Murray vorgelegte Zeit unterbietet, dem winkt ein VIP-Package für das Männer-Finale 2024. Und im Rahmen der Gewinnvergabe tut Wimbledon auch gleich noch was für seine Social-Media-Channel. So müssen die Teilnehmenden dem Twitter-Kanal von Wimbledon folgen und dort ihr im Fortnite-Spiel erzieltes Ergebnis posten, um in der Verlosung dabei zu sein.

Die Sponsoren kommen ebenfalls auf ihre Kosten: Wenn auf dem Centre Court schon kein Branding erlaubt ist, bietet Race to Wimbledon über In-Game-Advertising die digitale Alternative. So ist beispielsweise Wimbledon-Partner American Express, dessen Markenbotschafter Murray ist, werblich in das Spiel integriert.

Vodafone und Give Vision testen Headsets für sehbeeinträchtigte Menschen

Eine weitere Innovation bringt in diesem Jahr Wimbledon-Partner Vodafone mit nach London. Der Technologiekonzern testet 5G-gestützte Headsets von Give Vision. Diese sollen sehbeeinträchtigten Fans die Möglichkeit geben, Matches von überall im Stadion live verfolgen zu können. Die Headsets streamen dabei Live-Filmmaterial von lokalen Fernsehkameras über 5G und passen es an das spezifische Sehprofil der jeweiligen Person an.

„Wir bei Vodafone haben uns verpflichtet, unsere Technologie zu nutzen, um die Fans näher an das Geschehen zu bringen“, sagt UK-Chief Commercial Officer Max Taylor. Es ist laut All England Club das erste Mal, dass 5G-Technologie im Tennis eingesetzt wird.

Vodafone und Give Vision wollen sehbeeinträchtigten Menschen in Wimbledon ein Live-Erlebnis ermöglichen.

Vodafone und Give Vision wollen sehbeeinträchtigten Menschen in Wimbledon ein Live-Erlebnis ermöglichen. (Foto: All England Club)

IBM ist Wimbledon, Wimbledon ist IBM

Und dann wäre da noch die Technologiepartnerschaft von Wimbledon mit IBM. Die Kooperation besteht schon seit 1990 und ist damit eine der längsten ihrer Art im Sportbusiness überhaupt. Stichwort: Tradition

IBM bietet Wimbledon technologische Lösungen von der Backend-Infrastruktur bis hin zu mobilen Anwendungen. Seit Beginn der Partnerschaft hat der US-Tech-Gigant (Umsatz 2022: rund 60 Milliarden US-Dollar) nach eigenen Angaben über 25 Millionen Datenpunkte für das Tennisturnier erfasst.

Audio-Kommentare per KI

Ein Kern der IBM-Partnerschaft ist Künstliche Intelligenz (KI). Beim diesjährigen Grand Slam wird das für Fans erstmals auch hörbar sein. Während Wimbledon im Bereich der Linienrichter*innen weiterhin auf Menschen setzt, nutzt das Turnier 2023 generative KI, um Audiokommentare und Untertitel von Spielen in der Online-Highlight-Berichterstattung anzubieten. Die Funktion ist über die Wimbledon-App und -Website verfügbar und unabhängig von der Berichterstattung der TV-Partner.

Abgebildet wird die KI-Innovation von der IBM-eigenen Plattform Watson X, die dafür auf die Feinheiten der „Tennis-Sprache“ trainiert wurde. Zudem werden die von IBM seit einigen Jahren gesammelten Ball- und Spielertracking-Daten in Echtzeit verarbeitet und von einem Chatbot in natürlicher Sprache kommentiert. Perspektivisch soll die KI von IBM sogar vollständige Spiele kommentieren können und dabei Stimmen von realen Kommentator*innen klonen.

Erste KI-Statistik „dieser Art im Sport“

In Wimbledon feiert dieses Jahr noch eine weitere KI-gestützte Funktion Premiere, die sogenannte „draw analysis“. Sie zeigt auf, wie leicht oder schwer der Weg ins Finale für jeden Wimbledon-Profi ist und wird von IBM und Wimbledon als „erste Statistik dieser Art im Sport“ beschrieben.

Die Metrik berücksichtigt offensichtliche Indikatoren wie die Weltrangliste und die Setzliste, bezieht aber auch kürzliche Verletzungen und Form, die Analyse historischer Begegnungen zwischen den jeweiligen Spieler*innen oder solchen mit ähnlichen Spielstilen sowie die Bilanz auf Rasen mit ein.

37 Prozent mehr Visits auf digitalen Kanälen

Vom „Power Index“ bis zu „Pre-Match Insights“ bringen IBM und Wimbledon beinahe jährlich neue Features für App und Website raus. Die KI analysiert während des Turniers über 100.000 Datenpunkte von jedem gespielten Ball. Das Ziel ist es, alte wie neu Fans zu involvieren. Und die Rechnung scheint aufzugehen.

„Die digitale Wimbledon-Fan-Erfahrung hat bereits zu einer erheblichen Steigerung des Engagements geführt“, teilt IBM auf OMR-Anfrage mit. In Zahlen ausgedrückt: Während der Championships 2022 erreichte Wimbledon über seine digitalen Plattformen rund 21 Millionen Fans über verschiedene Endgeräte. Die Besucherzahlen auf den digitalen Kanälen von Wimbledon seien 2022 im Vergleich zum Jahr davor um 37 Prozent gestiegen.

So sieht das Feature "IBM AI Draw Analysis" in der Wimbledon-App aus.

So sieht das Feature „IBM AI Draw Analysis“ in der Wimbledon-App aus. (Foto: IBM)

„IBM arbeitet weiterhin mit dem All England Club zusammen, um die nächste Stufe der Datenerfassung in Wimbledon zu prüfen. Wir untersuchen zum Beispiel, wie KI den Workflow der Datenerfassung weiter automatisieren kann und welche weiteren Erkenntnisse wir über den IBM Power Index hinaus aus den erfassten Daten gewinnen können. Genau diese Art von Erkenntnissen wird das Zuschauerwachstum bei den Championships wirklich vorantreiben“, sagt Kevin Farrar, Head of Sports Partnerships, IBM UK & Ireland, gegenüber OMR.

Greifvogel schlägt KI

Für so manches Alltagsproblem gibt es aber auch in Wimbledon keine technische Lösung, etwa für das Verscheuchen der Tauben. Die werden nämlich nicht müde, die auf acht Millimeter haarfein getrimmten Rasenhalme auf den insgesamt 38 Courts zu zerpicken.

In diesem Fall vertrauen die Veranstalter vom All England Club allerdings weder auf Mensch noch Maschine, sondern bedienen sich in der Tierwelt. Und so kreist jeden Morgen ein eigens für diesen Zweck trainierter Wüstenbussard über den heiligen Rasen – und findet dabei womöglich auch noch die eine oder andere Erdbeere.

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Henning Eberhardt
Autor*In
Henning Eberhardt

Henning ist bei OMR seit Anfang 2023 für Sport- und Gaming-Inhalte zuständig. Von 2010 bis 2019 pendelte er für den Sportbusiness-Verlag SPONSORs als Redakteur zwischen Fußballstadion und Formel-1-Rennstrecke. Anschließend wechselte der waschechte Insulaner zum Marketing-Medium absatzwirtschaft in die Handelsblatt-Gruppe.

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