Was ist das Fediverse? – Hier kommt der OMR-Explainer

Mastodon, Friendica – und bald auch Metas Threads? – Wir erklären was dahinter steckt

Inhalt
  1. Fedi…was?!
  2. Die Social-Media-Variante der E-Mail
  3. Vor- und Nachteile des Fediverse
  4. Ich bin dabei, was muss ich tun?
  5. "Ein Gefühl des Misstrauens"
  6. Knapp 12 Millionen "Bewohner*innen"
  7. Das Marketingpotenzial des Fediverse
  8. "Werbung ist Zeitverschwendung"
  9. Gewinnen andere den Dezentralisierungs-Trend?

Nachdem Elon Musk X (ehemals Twitter) aufgekauft hat und manche Nutzer*innen deswegen zu Mastodon wechselten, wurde das Fediverse – im Grunde eine dezentralisierte Form von Social Media – eine Zeit lang heiß diskutiert. Nachdem die Aufmerksamkeit für das Thema kurzzeitig abzuflauen schien, hat Meta den viel beachteten X-Konkurrenten Threads gelauncht, der ebenfalls Teil des Fediverse werden soll. Wir erklären, was sich hinter dem Begriff verbirgt, welche Bedeutung das Fediverse aktuell hat und wie Du einsteigen kannst. 

Die Wurzeln des Phänomens, das heute Fediverse genannt wird, gehen auf das Jahr 2010 zurück. Vier New Yorker Studenten entwickeln damals, schon unter dem Eindruck des enorm schnell wachsenden Einflusses von Facebook, die Idee für Diaspora, eine Art dezentrales soziales Netzwerk. Mit Friendica entsteht im selben Jahr ein ähnliches Projekt. Der Durchbruch in den Mainstream gelingt beiden nie. Doch die Idee von dezentralisierten Plattformen findet in den folgenden Jahren immer wieder neue Anhänger*innen; immer wieder gibt es auch Versuche, entsprechende Lösungen für Audio und Video-Streaming zu entwickeln.

Fedi…was?!

Dass viele dieser Anwendungen irgendwann unter dem Begriff "Fediverse" – ein Kofferwort aus "Federation" und "Universe" – ein gemeinsames Dach finden, ist übereinstimmenden Medienberichten zufolge zu großen Teilen ein Verdienst von Evan Prodromou. Der entwickelt 2018 das Protokoll "Activity Pub" unter dem Dach des "World Wide Web Consortium", das Standards für das Internet entwickelt. Das wird heute von vielen Anwendungen wie Mastodon und Friendica genutzt und ermöglicht, dass mehrere Plattformen miteinander Informationen austauschen können.

Denn das ist der größte Unterschied von Fediverse-Anwendungen zu den etablierten und großen digitalen Plattformen: Im Fediverse gibt es nicht eine zentrale, geschlossene Plattform, die alleine über alle Daten verfügt, sondern viele einzelne Server (auch Instanzen genannt). Die werden meist von Einzelpersonen oder Organisationen eingerichtet und betrieben. Die Betreiber*innen eines Servers können auch eigene Diskussionsregeln festlegen.

Die Social-Media-Variante der E-Mail

Durch die Verwendung von "Activity Pub" können die verschiedenen Server jedoch miteinander kommunizieren und Informationen austauschen – und zwar plattformübergreifend. So kann man beispielsweise mit einem Mastodon Profil auf einem Mastodon-Server auch mit anderen Diensten wie Friendica etc. interagieren. Alles ist miteinander vernetzt: Die verschiedenen Server einer Plattform untereinander und die der Plattformen miteinander.

Der naheliegende Vergleich zum Fediverse und zu "Activity Pub" ist der der E-Mail: Wenn ich eine E-Mail schreiben will, muss ich mir ja auch kein Konto bei dem E-Mailanbieter meiner Freunde anlegen. Auch hier gibt es ein Standardprotokoll, das es ermöglicht, das unterschiedliche E-Mail-Server miteinander kommunizieren können.

Vor- und Nachteile des Fediverse

Nachteile: Zunächst einmal ist das Fediverse dezentral organisiert. Das macht alles sehr unübersichtlich. Es kann kompliziert sein, sich in der Fülle der Server und Instanzen zurechtzufinden. Menschen, die wenig Technikverständnis haben, können davon schnell abgeschreckt sein. 

Ein weiterer Nachteil ist, dass es durch die Fülle der Server auch vorkommen kann, dass sich extreme Instanzen bilden, auf denen es zu Hate Speech oder anderen unschönen Inhalten kommen kann. Hier ist derzeit auch nicht ganz klar, wie man das verhindern kann. 

Vorteile: Die Dezentralität ist aber auch ein Vorteil, denn ich kann - sofern ich das technische Verständnis besitze - mir einen eigenen Server aufbauen. Das trägt zu einer großen Vielfalt des Fediverse bei. Außerdem könnne Nutzer*innen über alle Plattformen hinweg miteinander kommunizieren.

Ein weiterer Punkt ist, dass auf klassischen Sozialen Netzwerken Werbung ausgespielt wird, was bei den Fediverse Alternativen nicht der Fall ist. Auch gibt es keine Speicherung der Nutzungsdaten durch die Plattformen. Letztlich basieren die Fediverse-Plattformen auf freier Software und offenen Schnittstellen. Jeder kann sie nutzen. 

Ich bin dabei, was muss ich tun?

Wer ins Fediverse einsteigen möchte, muss vorerst drei Schritte tun: 

  1. Eine Plattform wählen (Mastodon, Friendica, PeerTube u.v.m.)

  2. Server auswählen (Hier kriegt man Unterstützung: https://instances.social)

  3. Auf der Plattform anmelden

Die Timeline, die sich dann beispielsweise auf Mastodon öffnet, zeigt drei unterschiedliche Feeds. Die Home-Timeline (zeigt alle Inhalte und Shares der Personen, denen sie folgen), die lokale (zeigt Inhalte, die auf ihrem Server/Instanz gepostet werden) und die "föderierte" Timeline (hier liest man alle Inhalte von Accounts, denen andere Accounts ihrer Instanz folgen). 

"Ein Gefühl des Misstrauens"

Mastodon ist heute wohl der Fediverse-Dienst mit den meisten Nutzer*innen. Der Kurznachrichtendienst wurde 2016 von dem nach Deutschland emigrierten Russen Eugen Rochko entwickelt. "Ich dachte, dass die Möglichkeit, mich online mit meinen Freunden durch Kurznachrichten auszudrücken, für mich sehr wichtig ist, auch für die Welt, und dass dies vielleicht nicht in den Händen eines einzigen Unternehmens liegen sollte. Es hatte allgemein mit einem Gefühl des Misstrauens gegenüber der Kontrolle von oben nach unten zu tun, die Twitter ausübt", so Rochko im November 2022 in einem Interview. Wenige Monate zuvor hatte Elon Musk Twitter aufgekauft und damit viele Nutzer*innen in die Arme von Mastodon getrieben.

Mastodon ist im Gegensatz zu X (vormals Twitter) dezentral organisiert. Die Plattform hat nicht die Macht, die Server-Besitzer zu irgendwas zu zwingen – auch nicht zur Einhaltung grundlegender Moderation Standards. Man könnte meinen, das mache das System anfällig für extreme Positionen. Aber Rochko sagt, dass viele von Mastodons Servern in der Praxis strengere Regeln als X hätten. Wenn Hassreden-Server auftauchen, können sich andere Server zusammentun, um sie zu blockieren, wodurch sie im Wesentlichen von der Mehrheit der Plattform ausgeschlossen werden. "Ich denke, man könnte es den demokratischen Prozess nennen", so Rochko.

Knapp 12 Millionen "Bewohner*innen"

Das gesamte Fediverse soll aktuell über 11,7 Millionen Accounts mit 19.440 betriebenen Servern verzeichnen. Da die Nutzer*innen der Erhebung von Statistiken zustimmen müssen, ist nur die "Mindestzahl" der Nutzer*innen bekannt. Auf Mastodon gibt es dementsprechend Unschärfen bei der Zahl der Nutzer*innen. Nach Angaben der offiziellen Mastodon-Webseite gab es am 1. September 2023 auf allen etwa 9.000 zugänglichen Mastodon-Servern 8,07 Mio. Nutzer, von denen 1,78 Millionen monatlich aktiv waren. 

In den Google Trends ist weltweit ein Anstieg von Suchanfragen zum Fediverse zu sehen. Nach dem Begriff Mastodon haben insbesondere zum neuen Jahr hin viele Google Nutzer*innen gesucht. Die Kurve ist jedoch schnell wieder abgeflacht. 

Das Marketingpotenzial des Fediverse

Wie groß also ist aktuell das Marketingpotenzial von Fediverse-Plattformen? "Mastodon ist für Marken keine Twitter-Alternative", schreibt das US-Branchenmedium Advertising Age im November 2022, als Mastodon gerade einen Ansturm neuer Nutzer*innen verzeichnet. Es gäbe nur wenig "Discoverability" für Marken und wenig Chancen, um viral zu gehen und eine große Menschenmasse zu erreichen.

Einige Marken mit einer eher nerdigen, Tech-affinen Zielgruppe wie Raspberry Pi (44.000 Follower), 1Password (8.300 Follower) und Github (1.300 Follower), hält das nicht davon ab, mit eigenen Accounts und teilweise auch eigenen Instanzen (1Password, Raspberry Pi, Medium und Flipboard) bei Mastodon der Plattform aktiv zu sein. Ebenso wie Medienmarken wie die Washington Post und, in Deutschland, die Tagesschau, ZDF Heute, NDR, FAZ, Spiegel, Krautreporter, Riffreporter u.v.m. Große Mainstream-Consumer-Marken fehlen jedoch.

"Werbung ist Zeitverschwendung"

Darüber hinaus gibt es auf Mastodon und allen anderen bisherigen Fediverse-Plattformen keine bezahlte Werbung. "No algorithms or ads to waste your time", heißt es auf der Mastodon-Website. Das Unternehmen hinter dem Dienst finanziert sich aktuell über Spenden beim Social-Payment Anbieter Patreon.

Mehr Marketingrelevanz könnte das Fediverse erhalten, wenn Metas im Juli gestarteter X-Konkurrent Threads (der bislang aus datenschutzrechtlichen Gründen noch nicht in Europa verfügbar ist) wirklich den "Activity Pub"-Standard erfüllen sollte. Das hat Instagram CEO Adam Mosseri mit einem Post auf Threads selbst angekündigt. Und auf Threads sind bereits eine Vielzahl von Marken aktiv. Nur eine kleine Auswahl: Nike (5,3 Millionen Follower), Adidas (1,3M), Red Bull (1,1M) und McDonalds (428K).

Gewinnen andere den Dezentralisierungs-Trend?

Und immer wieder gibt es neue dezentralisierte soziale Netzwerke, die zwar nicht "Activity Pub" nutzen (und damit offiziell keine Fediverse-Plattformen sind), aber eigene, mehr oder minder offene Protokolle: Bluesky beispielsweise, einst als Projekt innerhalb von Twitter gegründet, heute ein unabhängiges Unternehmen mit einer App, die im Mai und Juni einen kurzen Hype erlebte. Twitter-Gründer Jack Dorsey nutzt demgegenüber mittlerweile Nostr und hat die Entwicklung des dahinterstehenden Protokolls finanziell unterstützt. Auch das Blockchain-basierte Farcaster hat in der US-Techszene einiges an Aufmerksamkeit bekommen. Doch die Geschichte des Fediverse zeigt: Der Weg in den Mainstream ist noch lang.

Angela Woyciechowski
Autor*In
Angela Woyciechowski

Angela sammelte erste redaktionelle Erfahrungen als Nachrichtensprecherin beim Hochschulradio und im Rahmen von Projektassistenzen beim NDR und ZDF. Nach Tätigkeiten im Online-Marketing und freier Mitarbeit bei der Badischen Zeitung (Freiburg), ist sie seit Juli 2023 im Redaktionsteam von OMR.

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