Milliardenvernichter Twitter: Mit diesen Problemen kämpft die 140-Zeichen-Plattform
- Auch im zehnten Jahr des Bestehens verbrennt Twitter lichterloh Geld – eine Spurensuche
- Wall Street reagiert nach Quartalsbilanz entsetzt
- Werbegeschäft weiter nur zaghaft erschlossen
- CEO Costolo ist angeschlagen
- Die Zukunft: Übernahmeziel oder Google-Boost?
- Schnelle Wetten: Periscope und TellApart zugekauft
Auch im zehnten Jahr des Bestehens verbrennt Twitter lichterloh Geld – eine Spurensuche
Wir lieben Twitter, sind süchtig nach dem 140-Zeichen-Dienst. Hier ein schneller Tweet #ausgruenden, da ein Schenkelklopfer, als wär’s ein Bewerbungsschreiben für TV total. Ey, Twitter, ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, wie das Online-Leben ohne dich war – so 2007, als ich Breaking News noch von Spiegel Online bezogen habe. Warum schaffst Du es dann seit Jahren nicht, Geld zu verdienen? Wir haben uns mal Deine Zahlen angeschaut – jetzt ist Zeit für Klartext. Twitter war immer die kleine, coolere Social Media-Tochter, die ihr Ding machte, während der große Bruder Facebook nach der Karriere schielte. Der Unterschied zwischen beiden Social Media-Pionieren, deren Geburtsdaten tatsächlich nur zwei Jahren auseinander liegen, könnte in Dollar und Cent größer kaum sein: Anders als der viel gescholtene große Bruder Facebook, der inzwischen Geld scheffelt wie Heu, hat Twitter nie das Prinzip der Profitabilität verstanden.
Unterm Strich liest sich das Missverhältnis im vergangenen Geschäftsjahr so: Während Facebook 2014 bei Umsätzen in Höhe von 12,47 Milliarden Dollar immerhin schon 2,9 Milliarden Dollar verdiente, verbrannte Twitter im gleichen Zeitraum bei Erlösen von nur 1,4 Milliarden Dollar happige 578 Millionen Dollar! In der jüngsten Geschäftsbilanz für das abgelaufene erste Quartal, die Twitter vor zwei Wochen vorlegte, verschärfte sich die Misere weiter. Zwar legten die Erlöse dynamisch um 74 Prozent auf 436 Millionen Dollar zu, doch synchron dazu explodierten auch die Verluste. Enorme 162 Millionen Dollar verbrannte der 140-Zeichen-Dienst in den ersten 90 Tagen des Jahres – im Vergleichszeitraum vor einem Jahr betrug das Minus noch 132 Millionen Dollar.
Wall Street reagiert nach Quartalsbilanz entsetzt
Die Reaktion an der Wall Street: blankes Entsetzen. Die Twitter-Aktie, die sich seit dem Börsengang im November 2013 auf einer skurrilen Achterbahnfahrt befindet und erst massiv zulegte, um dann noch härter zurückzufallen, stürzte nach Bekanntgabe des neuen Zahlenwerks um mehr als 20 Prozent ab. Berücksichtig man den Zeitraum von April bis heute, beläuft sich das Minus gar auf 30 Prozent. Anleger und Analysten begreifen einfach nicht, warum es dem jahrelang als „nächstes Facebook“ hoch gewetteten Social Network so schwerfällt, endlich schwarze Zahlen zu schreiben. Tatsächlich hat der Kurznachrichtendienst in den sechs Quartalen seit dem IPO die enorme Summe von 1,25 Milliarden Dollar verloren, wie Techreporter Dan Fromer von Quartz vorrechnet.
Werbegeschäft weiter nur zaghaft erschlossen
Die Spurensuche nach den Ursachen von Twitters steter Geldverbrennung führt unmittelbar zum tradierten Geschäftsmodell mit Online-Werbung. Wie Google und Facebook fährt auch Twitter weiterhin den Löwenanteil – im vergangenen Quartal waren es 388 von 436 Millionen Dollar – seiner Erlöse mit Werbeeinblendungen ein – mit Promoted Tweets (Werbe-Tweets, die in der Timeline erscheinen, obwohl dem Account nicht gefolgt wurde), Promoted Trends (Die #Hashtag-Trends des Tages), Promoted Accounts (Bewerbung eines Twitterkontos) oder Promoted Apps (in der Mobilversion).
Twitters anhaltendes Werbeproblem liegt in der Simplizität des Dienstes: Werbe-Tweets versenden sich schnell im Nachrichtenstrom, gesponserte Accounts und Trends gehen in ihrer bislang dezenten Aufmachung unter. Dazu kommt das immer offenkundigere Wachstumsproblem: Mit rund 300 Millionen aktiven Nutzern bringt es Twitter derzeit auf ein Fünftel der Mitglieder von Facebook, dessen zugekaufte Töchter Instagram und WhatsApp in puncto Nutzerzahlen inzwischen ebenfalls am Mikrobloggingdienst vorbeigezogen sind, obwohl sie später den Betrieb aufnahmen.
CEO Costolo ist angeschlagen
Fest steht: Auch im zehnten Jahr der Bestehens hat CEO Dick Costolo kein klares Konzept anzubieten und muss inzwischen selbst um seinen Job bangen. “Ich glaube, die Aktie würde wieder bei 55 bis 60 Dollar notieren, wenn der Aufsichtsrat einen anderen CEO berufen würde”, stellte CNBC-Marktkommentator James Cramer Costolo schon vor Monaten ein ungenügendes Führungszeugnis aus.
Die problematische Beziehung von CEO und Wall Street hat eine lange Historie. Was gerne vergessen wird: Es gibt kaum eine wildere Gründungsstory als die von Twitter, das seine CEOs verschleißt wie Bundesliga-Abstiegskandidaten ihre Trainer – Costolo, über dessen Ablösung inzwischen offen spekuliert wird, ist bereits der dritte Vorstandschef seit der Gründung 2006.
Wer „The Social Network“ über den Soziopathen Mark Zuckerberg für einen bitterbösen Film hält, der sollte unbedingt einmal das grandiose Enthüllungsbuch vom New York Times-Reporter Nick Bilton über den 140-Zeichendienst Hatching Twitter in die Hand nehmen (deutsch: „Twitter: Eine wahre Geschichte über Geld, Macht, Freundschaft und Verrat“ ). Es ist eine Geschichte wie in so vielen Start-ups: Große Egos stehen sich selbst im Weg.
Die Zukunft: Übernahmeziel oder Google-Boost?
Wie die Twitter-Story ausgeht, erscheint nach mehr Trendwenden als in „Mad Men“ weiter völlig offen. Kolportiert werden alle paar Monate Gerüchte über eine mögliche Übernahme, für die angesichts eines Börsenwertes kaum eine Handvoll Unternehmen infrage käme – Facebook und vor allem Google gelten als die üblichen Verdächtigen. Vor allem dem wertvollsten Internetkonzern der Welt wird immer wieder Interesse nachgesagt. “Google ist ziemlich chancenlos im Social Media-Bereich”, befand etwa unlängst Fondsmanager Dan Niles. Durch die Einbettung von Tweets in der Google-Suche rücken die beiden US-Unternehmen in Zukunft schon mal enger zusammen.
Schnelle Wetten: Periscope und TellApart zugekauft
Im ebenfalls Ende April verkündeten zweiten Schulterschluss mit Mountain View erfolgte die Vermarktung von Display Ads auf der Twitter-Plattform durch DoubleClick – eine Holzhammer-Methode aus der Pre-Native-Advertising-Ära. Ob sich Twitter und seinen hypersensiblen Nutzern einen Gefallen mit weniger zielgruppengenauen Promoted Tweets tut, die vom DoubleClick Bid Manager generiert werden, ist allerdings mehr als fraglich.
Bleibt die Wette auf mobile Videos, die der 140-Zeichen-Dienst zuletzt mit dem Rollout der Live-Streaming-App Periscope verschärfte, für die Twitter nach Angaben des Techportals CNET zwischen 50 und 60 Millionen Dollar auf den Tisch gelegt haben soll. Satte 533 Millionen US-Dollar in Aktien wurden ebenfalls bereits dieses Jahr für den Digital-Werbung-Vermarkter TellApart aufgewendet, der Nutzergewohnheiten im mobilen Internet verfolgt. Der Aktionismus der schnellen Zukäufe ist unverkennbar – es dürften Dick Costolos letzte große Trümpfe sein: Gelingt ein erkennbarer Turnaround nicht in den nächsten Quartalen, erscheint ein erneuter Führungswechsel beim Social Media Pionier vorprogrammiert.