Tiktok statt Stellenanzeige: Wie der Mittelstand von heute Azubis rekrutiert
Edeka Esslinger und die Volksbank Mittelhessen zeigen, wie sich Nachwuchs günstig gewinnen lässt
- Start mit durch die Luft wirbelnden Warenkartons
- Mitfahren im Hype-Train
- 160 Jahre alt und jetzt auf Tiktok
- Der Star der Bankenszene auf Social Media
Um den Nachwuchs von sich zu überzeugen, verlassen sich Edeka Esslinger und die Volksbank Mittelhessen auf eine unübliche Plattform: Tiktok. Wie sie dazu kommen und mit welchen Mitteln sie erfolgreich wurden, darüber hat sich OMR mit den zwei Verantwortlichen unterhalten.
Deutschland mangelt es an Azubis. Bewarben sich in der Saison 2004/2005 noch rund 750.000 Menschen auf einen freien Ausbildungsplatz, waren es laut der Agentur für Arbeit in 2020/2021 gerade einmal knapp über 430.000. Fast 40 Prozent aller Stellen blieben im vergangenen Jahr unbesetzt. Dieses Rekordtief, auch befeuert durch zwei Jahre Pandemie, stellt viele mittelständische Unternehmen vor ein Problem. Woher die neuen Azubis nehmen? Und das möglichst günstig?
Schon gesehen? Über den Tiktok-Erfolg der Volksbank Mittelhessen und viele andere Cases berichten wir ausführlich im OMR Report “Tiktok for Brands”. Dort geht es auch um Strategien, Ads und Followeraufbau. Hier erfahrt Ihr mehr darüber.
Start mit durch die Luft wirbelnden Warenkartons
Einer, der das Problem erkannt und längst eine Lösung für sein Unternehmen gefunden hat, ist Pascal Seifert. Er ist Geschäftsleiter von Edeka Esslinger, einem regionalen Edeka-Marktverbund mit vier Filialen, die sich vom Bodensee bis ins Allgäu erstrecken. Seifert, der neben Marketing und Vertrieb auch für das Personalmanagement verantwortlich ist, stellt jedes Jahr zwölf Auszubildende ein, etwa als Einzelhandelskaufleute, Verkäufer:innen oder als Frischespezialist:innen. Vorausgesetzt, es gibt ausreichend Bewerber:innen.
„Im Einzelhandel ist es sehr schwer, Azubis zu finden“, sagt er. 2018 hätten sich gerade einmal zwei Menschen für eine Ausbildung in einem der vier Supermärkte beworben. 2019 habe er Tiktok entdeckt. Anfangs sei es mehr eine Spielerei gewesen, um die eigenen Filialen dort ein wenig zu bewerben. Im ersten Tiktok-Video von Edeka Esslinger werfen Mitarbeiter:innen des sogenannten Warenteams Kartons durch die Luft, um sie schneller zu verräumen. Das Video habe in kurzer Zeit 30.000 Aufrufe erzielt. „Ich war überrascht, dass solcher Content so viele Menschen interessiert“, sagt Seifert.
Mitfahren im Hype-Train
Heute ist der Account von Edeka Esslinger mit über 414.000 Followern der größte eines regionalen Edeka-Verbunds auf der Plattform. Damit hat der kleine Verbund aus Süddeutschland doppelt so viele Follower:innen, wie der Hauptaccounts des Edeka-Konzerns. Laut Analyseplattform Infludata wurden Seiferts Videos bis heute insgesamt über 100 Millionen Mal abgerufen. Aber am wichtigsten ist für ihn: „Durch Tiktok sind die Bewerberzahlen so hoch wie noch nie.“ Im vergangenen Jahr hätten sich 18 Menschen beworben und damit mehr, als Ausbildungsplätze zur Verfügung standen. Eine luxuriöse Situation für die Seifert – abgesehen von Personalkosten – keinen Cent ausgegeben hat.
Den Content, der den Marktverbund zum beliebtesten Edeka-Account auf Tiktok macht, kreiert Seifert gemeinsam mit seinen Auszubildenden, manchmal auch mit dem Marktleiter. Dreh, Vertonung und Schnitt übernehme meist Seifert. Insgesamt, sagt er, würde die Produktion eines Videos weniger als eine Stunde dauern. Seifert hat erkannt, dass es vor allem die schnell wechselnden Trends sind, die die Videoplattform vorantreiben. Und die auch seinen Supermärkten die Klicks bringen.
Deshalb sind in den fertigen Videos von Edeka Esslinger oft Mitarbeiter:innen zu sehen, die virale Trends der Plattform aufgreifen, etwa wenn sie zu auf der Plattform populären Songs tanzen oder auf andere gehypte Creator:innen mit sogenannten Stitches reagieren. Zwischen den Videos mit den Millionenklicks platziert Seifert immer wieder geschickt Produktplatzierungen und Eigenwerbung. So wie etwa jene Videos, in denen für eine Ausbildung bei Edeka Esslinger geworben wird. Auch diese erreichen mittlerweile sechsstellige Aufrufzahlen. Zu viel davon soll es aber nicht geben, sagt er, schließlich wolle man nicht zur Dauerwerbesendung verkommen. Die Resultate sind auch so schon beachtlich: Die Videos haben nicht nur das Problem mit den Azubis gelöst. Dank Kooperationen mit Brands wie Red Bull oder Sony generiert Edeka Esslinger zusätzlich zwischen 3000 und 5000 Euro im Monat.
160 Jahre alt und jetzt auf Tiktok
Eine ähnliche Erfahrung macht derzeit auch Anna-Lena Wagner. Sie arbeitet in der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit der Volksbank Mittelhessen, einem Bankenverband mit rund 80 Filialen und 1.300 Mitarbeitenden. 2020 startet sie den Tiktok-Account für das Unternehmen, das zwei Jahre zuvor sein 160-jähriges Jubiläum feierte. „Für uns bedeutete das einen krassen kulturellen Wandel“, sagt Wagner heute.
Wie so viele andere Unternehmen steht aber auch die Volksbank Mittelhessen damals vor dem Problem des Auszubildendenmangels. Jedes Jahr sollen rund 20 Menschen eine Lehre als Bankkaufmann oder -frau, Systeminformatiker:innen oder Digitalisierungsmanager:innen beginnen. Doch die Realität sieht anders aus. „Bei der Volksbank denken viele junge Menschen noch immer an ein eingestaubtes Unternehmen und Menschen in Nadelstreifenanzügen, die Akten einsortieren“, sagt sie. 2019 wurden nicht alle offenen Stellen besetzt.
Der Star der Bankenszene auf Social Media
Tiktok, denkt Wagner damals, könnte eine Lösung für diese Misere sein – und macht aus der Account-Betreuung ein Projekt für die vorhandenen Auszubildenden. Ihre Theorie: Nur die tatsächlichen User der Plattform können authentisch vermitteln, dass hinter dem Job bei der Bank mehr steckt, als sein Ruf vermuten lässt. Die ersten Videos sind, ähnlich wie bei Edeka Esslinger, kurze unterhaltsame Sketches wie etwa über den morgendlichen Kaffee im Büro oder für die Plattform typische kurze Tanzeinlagen, vorgeführt von zwei jungen Mitarbeiterinnen der Bank.
Heute betreuen sieben Auszubildende den Tiktok-Account der Volksbank, die Followerzahl wuchs auf über 40.000 Menschen an. Der Content ist noch immer unterhaltsam, zu teilen auch selbstironisch, etwa, wenn eine Gruppe Mitarbeiter:innen kurzerhand den Konferenzraum für eine Netflix-Vorführung nutzt oder eine Mitarbeiterin mit ihrem Chef bei einem Drink am Pool über die Arbeitszeit verhandelt. Unterhaltung und Selbstironie sind wichtige Elemente für die junge Plattform und wirken überraschend, gerade wenn die Videos von den sonst so altmodisch wirkenden Genossenschaftsbanken erstellt wurden. Das erfolgreichste Video der Volksbank Mittelhessen hat über zwei Millionen Aufrufe und zeigt, was mit Geld passiert, nachdem es von Kund:innen am Geldautomaten einbezahlt wurde. Es sind gerade jene Videos, die das Berufsleben junger Bankmitarbeiter:innen ganz anders zeigen, als die allgemeine Erwartungshaltung ist, die besonders beliebt sind auf der Plattform. Und davon profitieren vor allem die Videos, in denen die Volksbank ihre Ausbildungsplätze bewirbt. Auch sie verzeichnen teilweise Millionen Klicks.
Die Bewerberzahlen seien bis heute zwar gleich geblieben, sagt Wagner. Aber dafür seien die Ausgaben des Bankenverbandes für Auszubildenden-Recruiting um 95 Prozent gesunken. Außer einem kleinen Betrag für Social-Media-Werbung und den Personalkosten konnte alles gestrichen werden. Außerdem würden sich heute mehr Studierende und Praktikant:innen denn je bewerben, auch dank Tiktok. Und seit Volksbank-Vorstandschef Peter Hanker hin und wieder in den Tiktok-Videos zu sehen ist, wurde auch die Presse auf den Bankenverband aufmerksam. Der Hessische Rundfunk und RTL berichteten in Fernsehbeiträgen über den außergewöhnlichen Erfolg des Tiktok-Accounts.
Auch wenn sich die Volksbank Mittelhessen noch nicht vollständig aus der herausfordernden Situation rund um den Nachwuchsmangel befreit hat: „Mir zeigt es, dass wir die junge Zielgruppe erreichen und auf dem richtigen Weg sind“, sagt Wagner. Und damit, so scheint es, hat ausgerechnet das Traditionsunternehmen Volksbank Mittelhessen vielen anderen verzweifelten Mittelständlern jetzt schon einiges voraus.