"Potenzieller Amazon-Killer": Temu plant Öffnung für europäische Marken

Bisher galt Amazon unter den Online-Marktplätzen als uneinholbar. Doch Temu bringt den Platzhirschen in Bedrängnis

Temu
"Temu ist die Bild-Zeitung des E-Commerce: Angeblich will niemand da kaufen, aber am Ende sprechen die Zahlen für sich" Foto: OMR/erstellt mit Playground AI
Inhalt
  1. Temu will sich nicht zum Europa-Start äußern
  2. Niedrige Einstiegsbarriere durch niedrige Provision
  3. "Ein-Euro-Shop des Internets"
  4. Amazon-Fehler nicht wiederholen
  5. Ist Amazon im Zugzwang, die Preise zu senken?
  6. Massive Lobbyarbeit als erfolgsversprechende Strategie

Der chinesische E-Commerce-Marktplatz erobert Europa im rasanten Tempo. Doch Temu will mehr, viel mehr – und geht dafür den nächsten Schritt: Seit kurzem können US-amerikanische Händler auf dem Marktplatz ihre Waren anbieten. Als nächstes sollen offenbar europäische Markplatzpartner folgen. Noch ist nicht klar, ob sich westliche Händler wirklich in Scharen der Plattform anschließen werden. In der Branche werden die möglichen Auswirkungen aber bereits diskutiert. OMR hat mit E-Commerce-Expert*innen gesprochen, die Temu für einen potenziellen Amazon-Killer halten und Händler*innen davor warnen, Fehler aus der Vergangenheit zu wiederholen.

Temu, das sei wie die Bildzeitung des E-Commerce, findet Yvonne Bachmann vom Händlerbund, der Branchenvereinigung der Online-Händler. "Angeblich will niemand da kaufen, aber am Ende sprechen die Zahlen für sich." Damit meint sie Zahlen wie diese: 26 Prozent der Deutschen haben schon mal ein orangefarbenes Paket aus China bestellt, wie kürzlich eine Appinio-Umfrage ergeben hat. Etwa 200.000 dieser Pakete sollen Schätzungen zufolge nach Deutschland geliefert werden – jeden Tag.

Starke Zahlen, wenn man bedenkt, dass die Plattform erst seit einem knappen Jahr in Deutschland online ist, seit April 2023. Doch die große Bekanntheit und das rasante Wachstum sind kein Zufall. Temu investiert Milliarden, um zum globalen Player zu werden und dreht dafür das ganz große Marketing-Rad (auf OMR haben wir zuletzt hier darüber berichtet). 2023 belegte die Temu-App mit 337 Millionen Downloads Platz eins der weltweit am häufigsten heruntergeladenen Shopping-Apps und ließ Shein und Amazon (Platz 2 und 3) hinter sich zurück. Mit welcher Wucht die globale Offensive den Markt auf den Kopf stellt, beeindruckt selbst versierte E-Commerce-Experten wie den Wirtschaftswissenschaftler Gerrit Heinemann von der Hochschule Niederrhein: "Wir dachten immer, die Märkte sind besetzt, Amazon ist uneinholbar und plötzlich entpuppt sich einer als potenzieller Amazon-Killer."

Dass Temu immer wieder mit vergleichsweise langen Lieferzeiten, schlechter Produktqualität und Sicherheitsmängeln Schlagzeilen macht, scheint die Plattform bei Konsument*innen durch ihre extrem günstigen Preise und die riesige Produktpalette wettzumachen. Smoothiemaker, Haarspangen, Massagepistolen, Hausschuhe – das alles und noch viel mehr gibt es bei Temu zu Spottpreisen. Artikel, die weniger als fünf Euro kosten, sind auf der Plattform eher die Regel als die Ausnahme. Bei diesen Schnappern sind Konsument*innen offenbar bereit, ein paar Tage länger auf die Bestellung zu warten.

Wer auf der Plattform shoppt, bekommt die Ware aktuell noch direkt aus China geliefert. Doch das soll sich bald zumindest teilweise ändern und könnte Temu den nächsten entscheidenden Schub geben, der für Marktführer Amazon, aber auch für Ebay und Co. gefährlich werden könnte.

Temu will sich nicht zum Europa-Start äußern

Der nächste strategische Schritt von Pinduoduo (PDD), dem Mutterkonzern von Temu, wird in den USA bereits umgesetzt: Dort können lokale Händler*innen und Hersteller seit Mitte März auch selbst Marktplatzpartner von Temu werden – zumindest in der Theorie. Laut Recherchen von Marketplace Pulse gibt es bislang noch keine US-Verkäufer, stattdessen habe Temu mit dem Onboarding von rund 1000 chinesischen Verkäufern begonnen, deren Inventar sich in lokalen Lagern in den USA befände, heißt es. Bisher hatte Temu nur mit chinesischen Partnern zusammengearbeitet und durch den direkten Versand aus China Kosten gespart, weil auf Lager und Logistik in den Zielländern verzichtet wurde.

Die Öffnung für lokale Händler*innen und Marken ist auch für den europäischen Markt geplant. Auf Anfrage von OMR wollte sich Temu nicht dazu äußern, wann mit dem Start zu rechnen sei. Wenn es so weit ist, werde das Angebot auf Interesse stoßen, ist Alexander Graf, Handels- und Digital-Experte sowie Co-CEO des Softwareanbieters Spryker, überzeugt: "Es werden Marken teilnehmen, ganz klar, sodass wir dann neben den chinesischen Günstig-Marken auch die ein oder andere europäische Marke sehen werden."

Niedrige Einstiegsbarriere durch niedrige Provision

Finanziell gesehen sei die Plattform für Händler attraktiv, sagt Gerrit Heinemann. "Die Transaktionsgebühr bzw. Provision ist mit 0,6 Prozent vom Umsatz bei Temu unglaublich niedrig und damit ist auch die Einstiegsbarriere für potenzielle Marktplatzpartner sehr gering". Zusätzlich sieht er bei Temu ein hohes Umsatzpotenzial für Markplatzpartner, weil Temu es geschafft habe, "eine unglaubliche Frequenz in kürzester Zeit zu generieren."

Temu könnte das Willkommenheißen europäischer Marken gleich an mehreren Punkten noch mehr Richtung Pole Position befördern: "Es verleiht den Anstrich von Seriosität und Glaubwürdigkeit und sorgt für mehr Akzeptanz", sagt Graf. So sei es perspektivisch einfacher für Temu, Marken abzuwerben, die bisher nur bei Amazon vertreten sind. Und auch die Lieferzeiten-Thematik könnte verblassen: "Das komplette Fulfillment lässt Temu von den Marktplatzpartnern machen und wenn die jetzt eben westlich werden, haben wir da auch zunehmend westliche Standards in der Lieferzeit", sagt Gerrit Heinemann.

"Ein-Euro-Shop des Internets"

Ein Großteil der Online-Händler*innen, mit denen Yvonne Bachmann vom Händlerbund gesprochen hat, ist hingegen noch skeptisch. Bisher war der neue Online-Marktplatz in erster Linie eines: ein mächtiger Rivale. "Die Händler sind frustriert und wissen um die Konkurrenz. Im Bereich Elektrogeräte bestellen Kunden vielleicht nur einmal, weil sie zum Beispiel einen Smoothiemaker bestellen und merken, das ist nur Elektroschrott", sagt sie. Bei Händler*innen aus dem Handmade-Bereich, Nähzubehör oder Bastellbedarf, sei das allerdings anders: "Die stehen in so direkter Konkurrenz zu Temu und einige haben schon berichtet, dass sie die Sparte in ihrem Online-Shop einstellen müssen, weil sie preislich mit Temu nicht mithalten können." Händler*innen, die scharf darauf sind, selbst auf Temu zu verkaufen, seien ihr nicht bekannt.

Geht es nach Jan Bechler, Co-Founder der E-Commerce- und Marketingagentur Front Row Germany, ist davon auch eher abzuraten. Bechler glaubt nicht daran, dass Temu in absehbarer Zeit Amazon bei Markenprodukten den Rang ablaufen wird. Temu sei der "Ein-Euro-Shop des Internets" schreibt er auf Linkedin. "Marken verlieren allein durch die Präsenz dort an Wert."

Diese Sorge hat auch die Lifestyle-Marke Nytted aus Kiel, die in Deutschland nachhaltige Strickmode produziert und diese unter anderem auf Amazon verkauft. Ein Verkauf über Temu kommt nicht in Frage: "Aktuell können wir uns das nicht vorstellen, weil der Qualitätsanspruch und das Image der Plattform nicht zu dem Markenkern passt, den wir verkörpern", sagt Geschäftsführer Johann Schwarz. Sollten mehr und mehr europäische Marken auf Temu vertreten sein, könnte sich seine Meinung ändern: "Wir sind offen für andere Marktplätze. Wenn sich Temu im Laufe der Zeit gut etabliert und auch einen Imagewandel hinlegt, wäre es denkbar, dass wir es uns anders überlegen."

Amazon-Fehler nicht wiederholen

Alexander Graf erinnern solche Überlegungen an vergangene Zeiten, an eine Zeit vor zehn Jahren, als es für viele Marken noch unvorstellbar schien, Amazon als Partner zu sehen. Die Sorgen von damals klingen vertraut: viel billiges Zeug, kein kontrolliertes Umfeld. "Inzwischen haben sich die Fachhändler zum großen Teil aus dem Markt verabschiedet und jetzt gibt es die gleiche Diskussion wieder mit Temu." Der Markt sei vergesslich, sagt er, warnt aber davor, vor lauter Vergesslichkeit Fehler aus der Vergangenheit zu wiederholen: Amazon habe ganz klar gezeigt, dass es für Händler auf Plattformen keine Win-Win-Situation gebe. "Wenn du als Händler dem Amazon-Gebührenmodell ausgesetzt bist, zehn Prozent, hier 15 Prozent da, sorgt das ja heute schon dafür, dass sich viele Produkte gar nicht mehr gewinnbringend verkaufen lassen."

Plattformen würden über das Auktionsprinzip den letzten Blutstropfen Marge aus dem Geschäft saugen. Insofern sei eine zweite Plattform, die als Alternative in den Markt reinkommt und Händler*innen und Herstellern möglicherweise einen günstigeren Zugang zum Endkunden bietet, "erstmal gut". Aber: "Den Fehler, den Händler und Hersteller vor zehn Jahren gemacht haben, nämlich Amazon als strategischen Partner zu betrachten, den sollte man nicht noch mal machen", sagt Graf.

Ist Amazon im Zugzwang, die Preise zu senken?

Welche Konsequenzen werden also für Amazon, aber auch für die Konsument*innen spürbar, wenn Händler*innen hierzulande eine Alternative zum amerikanischen Spitzenreiter bekommen? Jetzt schon gibt es viele identische Produkte auf beiden Plattformen. Der Händlerbund hat Testbestellungen durchgeführt und nennt als Beispiel ein Stickerset, das zu diesem Zeitpunkt bei Amazon für 7,99 Euro erhältlich war und bei Temu 80 Cent kostete. Die dimmbare LED-Tischlampe kostet beim US-Riesen rund 40 Euro. Bei Temu ist sie für knapp 18 Euro zu finden, gerade im Angebot statt 53,99 Euro – der Versand ist kostenlos, die Lampe das #1 Angebot im Bereich Beleuchtung, 18.000 Menschen haben sie auch schon gekauft und im Schnitt 4,7-Sterne-Bewertungen hinterlassen, darunter auch viele Deutsche. Wer jetzt nicht zuschlägt, ist selber Schuld, suggeriert das Angebot in jeder Zeile. Und wen das Argument, bei Temu gäbe es ja nur billigen China-Schrott, bisher von einer Bestellung abgehalten hat, dem wird so vor Augen geführt, dass auch bei Amazon ein großer Teil der Produkte im asiatischen Raum hergestellt wird.

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Links Amazon, rechts Temu: Smiley-Hausschuhe und Akku-Tischleuchten im Vergleich. Screenshots: OMR

Das offenbar gleiche Produkt, aber deutliche niedrigere Preise? Dafür gibt es laut Gerrit Heinemann verschiedene Gründe, zum Beispiel die deutlich niedrigeren Provisionen, die Temu (aktuell) von den Anbieter*innen verlangt. Entscheidend ist aber auch das D2C-Modell. Durch die direkte Verbindung der Hersteller und Konsument*innen fallen die Margen der Zwischenhändler weg. Außerdem spart Temu an anderer Stelle: "Die Anbieter aus Asien wie Tiktok, Shein, PDD, haben es geschafft, diese klassische Logik aufzubrechen, dass ich meinen Kunden bei Google oder Meta einkaufe und auf meinen Onlineshop konvertiere", sagt Alexander Graf. Die Plattform ist stattdessen ein Ort, der Unterhaltung bietet, auf dem man sich inspirieren lassen kann. "Der Kunde kommt da freiwillig hin, jeden Tag, 40, 50 bis 60 Minuten, und kauft dann. Dadurch spare ich mir die Kosten bei Google, was ein relativer großer Betrag ist in der Regel, den ich dann zurückgeben kann in Form von günstigeren Produkten." Ist Amazon also im Zugzwang, seine Preise zu senken?

Massive Lobbyarbeit als erfolgsversprechende Strategie

Für Verbraucher*innen könnte sich diese Konkurrenz tatsächlich bald in niedrigeren Preisen auf der Plattform bemerkbar machen: "Amazon wird das defintiv spüren", ist sich Alexander Graf sicher. "Vor allem auch in den Niedrigpreisbereichen werden sich ihre Third-Marketplace-Einnahmen verringern, denn sie müssen ihre Preise senken, damit die Händler nicht umshiften." Ein anderer Weg und laut Graf "wahrscheinlich die erfolgsversprechendere Strategie", könnte massive Lobbyarbeit gegen chinesische Plattformen sein, wie es gerade in den USA mit Tiktok der Fall ist. Dort wird aktuell ein Verbot der Videoplattform heiß diskutiert. Das Repräsentantenhaus hat einen Gesetzentwurf verabschiedet, mit dem die Abspaltung von Tiktok von seinem chinesischen Mutterkonzern Bytedance erzwungen werden soll. "Sie könnten auch bei Temu sagen, das ist eine strategische Gefahr für die nationale Sicherheit etc. und darauf drängen, dass die Plattform aus dem Markt ausgesperrt wird."

Die Frage, ob deutsche Händler*innen und Hersteller auf Temu verkaufen wollen, führt automatisch zu einer weiteren, die langfristig wohl die relevantere ist: Können sie dort im Wettkampf mit den chinesischen Mitbewerbern überhaupt bestehen? Denn was das Temu-Modell neuartig macht, ist das Factory-to-Consumer-Modell. Waren gelangen über Temu direkt vom Hersteller zum Kunden, der Zwischenhandel wird ausgeschaltet. "Das lässt auch eine On-Demand-Produktion zu, aber nur, wenn die Hersteller digital entsprechend ausgestattet sind", sagt Gerrit Heinemann. "Und das ist der große Hemmschuh in Europa." Die datentechnischen Voraussetzungen seien insbesondere im deutschen Mittelstand nach wie vor katastrophal. "Die arbeiten noch nicht datenbasiert und sind gar nicht in der Lage, das zu tun." Im Gegensatz zu den chinesischen Herstellern, die dadurch in der Lage seien, ganz andere Preise anzubieten. Deutschland habe einen riesigen Aufholbedarf, um überhaut die technischen Voraussetzungen dafür zu schaffen, ist Gerrit Heinemann überzeugt: "Und das rächt sich jetzt."

E-CommerceChinaAmazonTemu
Tanja Karrasch
Autor*In
Tanja Karrasch

Tanja Karrasch ist Redakteurin bei OMR. Vor ihrem Wechsel arbeitete sie für die TV-Produktionsfirma Bavaria Entertainment und war als Redaktionsleiterin für zwei ZDF-Shows zuständig. Sie hat bei der Tageszeitung Rheinische Post volontiert und anschließend als Redakteurin gearbeitet.

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