Brotdosen als Business: Die Erdbeere, die eigentlich eine Himbeere war

Mit 170.000 Follower*innen gehört die Hamburgerin Anika Ricke zu den Großen in der Lunchbox-Szene. Viral ging sie auch durch einen Engagement-Trick.

Inhalt
  1. Mittwochs ist Brezeltag 
  2. Cleverer Hack als Beilage
  3. Empörung fördert organische Performance
  4. Rabenmutter, Übermutter, Helikoptermutter
  5. "Viele Eltern denken, ihre Kinder wären schlechte Esser" 
  6. Erste Kooperation mit Amazon
  7. Ziel ist ein eigenes Kochbuch

Langweilige Brote kommen ihr nicht in die Dose: Die Hamburgerin Anika Ricke gehört mit 170.000 Instagram-Follower*innen zu den größten deutschen Accounts in der Lunchbox-Szene. In ihren Brotdosen steckt ihre Leidenschaft für ausgewogene Ernährung für ihre beiden Zwillingsjungs. Viral ging sie aber auch, weil sie mit einem cleveren Engagement-Hack bewusst Empörung auslöste. OMR hat sie erzählt, warum es sich manchmal lohnt, sich als Rabenmutter beschimpfen zu lassen und wie sie mit Hasskommentaren umgeht.

Es ist die traurige Realität unzähliger Brotdosen in Deutschland: Sie sind das leidige To-do am Morgen vieler Eltern, verbringen den Schultag in einem stickigen Tornister zwischen Büchern und Federmäppchen, um am Nachmittag weitestgehend unberührt wieder den Heimweg anzutreten. Die Monster, die Anika Ricke aus Feigen, Mandeln und Plastikaugen bastelt, oder die selbst gebackenen Dinos mit Skelett aus Backkakao teilen dieses Schicksal nicht, sagt sie: "Meine Brotdosen kommen fast immer leer zurück."

Seit 2,5 Jahren betreibt die Hamburgerin den Account Lunchbox4mykids und teilt darauf täglich Fotos und Reels der Brotdosen, die sie für ihre Kinder zusammenstellt. Damit ist sie nicht alleine: Im großen Labyrinth der Content-Nischen auf Social Media gibt es tatsächlich etwas, was man als "Lunchbox-Szene" betiteln kann. 9,4 Millionen Beiträge gibt es auf Instagram mit dem Hashtag Lunchbox. Auf Tiktok kommen #lunchbox-Videos auf 13,9 Milliarden Views. Nicht wenige Kanäle, deutsche und internationale, haben sich ganz auf das Thema spezialisiert, so wie Lunchbox.daddy, Adalynnslunchbox, Mum_made_yum – oder der größte deutschsprachige Account Pausenbrotjunkie mit 235.000 Follower*innen bei Instagram und 1,6 Millionen bei Tiktok. 

Mittwochs ist Brezeltag 

Lunchbox4mykids ist mit 170.000 Follower*innen inzwischen auch einer der größten deutschen Accounts, der Inspiration fürs Pausenbrot bietet. Was als Hobby begann, ist für Anika Ricke mittlerweile zum Beruf geworden. Die täglichen Beiträge plant sie in einem Redaktionsplan vor, damit die Abwechslung stimmt, sie entwickelt Rezepte, dreht und schneidet Reels. Mal ist das Highlight der Box ein Frühstücksdrink, mal Falafel-Waffeln, mittwochs ist Brezeltag.

OMRAnika

Angefangen hat sie auf Facebook, zunächst konnten nur ihre Freund*innen und Bekannte die Lunchbox-Bilder sehen. Doch die Resonanz ist ausschließlich positiv, ihre Follower*innen der ersten Stunde ermutigen sie, größer zu denken und ihren Content öffentlich zu machen. Im Oktober 2021, ihre Jungs sind damals in der zweiten Klasse, startet sie ihren Account. "Auf Insta hat es von Anfang an gut funktioniert: Über die ersten 1.000 Follower habe ich mich riesig gefreut. Vor einem Jahr waren es dann schon 10.000", sagt die 46-Jährige. Ab Februar 2022 postet sie ihre Beiträge auch auf Tiktok. 

Cleverer Hack als Beilage

Für eine rasante Entwicklung bei der Reichweite sorgt dann aber plötzlich ein spezielles Video. "Das war vor einem Jahr, da sind mir in kürzester Zeit plötzlich 50, 60, 70.000 Menschen gefolgt." Der eine Instagram-Post, dem sie das zu verdanken hat, vereint zwei Dinge: Besonders kreative selbst gebackene Dino-Brötchen und als Beilage einen cleveren Hack: Sie bezeichnet eine Himbeere als Erdbeere. "Mögen eure Kinder auch so gerne Erdbeeren?", fragt Anika Ricke im Reel. Das Internet ist in Aufruhr. "Viele Leute haben sich daran hochgezogen", sagt sie, "ich sei eine schlechte Mutter, weil ich den Unterschied zwischen einer Himbeere und einer Erdbeere nicht kenne."

Letzteres ist nicht der Fall. Anika Ricke ist nicht zu doof, um eine Himbeere von einer Erdbeere zu unterscheiden. Im Gegenteil, sie ist ziemlich einfallsreich, wenn es darum geht, Engagement zu erzielen: "Der Versprecher war volle Absicht", sagt sie. Sie habe ausprobieren wollen, ob der Trend auch bei ihr funktioniert: "Dass man was Dämliches sagt oder einen kleinen Fehler einbaut und dann guckt, ob es den Leuten auffällt. Im besten Fall geht der Beitrag dann viral", erklärt sie. Bei der Erdbeere, die eigentlich eine Himbeere war, geht das Prinzip voll auf: 3.600 Kommentare sammeln sich unter dem Beitrag, 47.000 Likes, drei Millionen Views und eine Follower*innenzahl, die in die Höhe schießt. 

Weil das so gut funktioniert hat, lässt sich Anika Ricke immer mal wieder ähnliches einfallen: "Ich habe zum Beispiel mal eine Feige als Dattel bezeichnet, das ging auch viral. Man muss aber auch ein bisschen Glück haben. Als ich eine Chili in die Brotdose gelegt habe statt einer Paprika, ist das kaum jemandem aufgefallen."

Empörung fördert organische Performance

Adil Sbai, CEO und Gründer der Agentur Wecreate, die sich auf Vertical Video für Tiktok und Instagram spezialisiert hat, kennt das Prinzip: Er beschreibt es als "das bewusste Auslösen von Korrekturen/Feedback oder gar 'lösbaren' Skandalen, um die Aufmerksamkeit der Audience zu gewinnen." Das funktioniere, weil so Diskussionen oder Empörung ausgelöst würden, die oftmals in den Comments des Videos landen. "Das ist sehr förderlich für die organische Performance, weil die Watch Time steigt und das Video als relevanter eingeordnet wird", sagt er. Eine wichtige Bedingung gebe es jedoch: "Dass keine Strikes erfolgen von Tiktok, Youtube, Instagram, die das auch zunehmend sanktionieren, wegen 'Fakenews' oder 'Gefährlicher Aktion'." 

Von Fakenews dürfte beim Erdbeer-Gate keine Rede sein. Auch die Chili wurde natürlich aus der Lunchbox entfernt, bevor es für ihre Söhne in die Schule ging. Für Anika Ricke ist der Versprecher ein Spaß, ein Spiel mit dem Algorithmus. Sie betont aber auch: "Bei solchen Maßnahmen muss ich selbstverständlich sehr darauf achten, dass ich nicht an Glaubwürdigkeit verliere, denn ich bin ja kein Comedy-Kanal." 

Diesen Eindruck könnte man bei manchen anderen Kanälen bekommen, in denen das Prinzip auf die Spitze getrieben wird. Da kommt Energydrink in die kleine Trinkflasche, weil die Kleinen in der Schule immer so müde sind oder Chips werden mit dem Hammer zerkleinert, damit sie besser gegessen werden können. Und natürlich ist das Prinzip nicht nur in der Brotdosenwelt beliebt. "In Perfektion machen das Julesboringlife oder Twenty4tim. Die bauen Typos ein, machen bewusst Fehler, stellen sich dümmer dar, als sie sind", sagt Tiktok-Experte Adil Sbai. "Man kann das soweit spinnen, dass das Auslösen kleiner, temporärer Shitstorms auch förderlich sein kann. Auf ihnen wurden manche Karrieren aufgebaut, bestes Beispiel ist heute Twenty4tim. Aber auch schon vor Jahrzehnten hat Verona Feldbusch damit gespielt." (Wie das Prinzip für sie aufgegangen ist, hat Verona Pooth, wie sie heute heißt, zuletzt im OMR Podcast erzählt.)

Rabenmutter, Übermutter, Helikoptermutter

Aber zurück in die Jetztzeit, zu Anika Ricke. Neben ihren absichtlich versteckten kleinen Fehlern bieten die Themen Kinderernährung im Allgemeinen und Brotdose im Besonderen auch so eine ganze Menge natürliches Aufregerpotential. Sie erfahre viel Zuspruch aus ihrer Community, die vielen positiven Kommentare würden eindeutig überwiegen, betont Ricke. "Aber es gibt eben auch die Hater, die sich über alles aufregen, die mich als Rabenmutter, Übermutter oder Helikoptermutter beschimpfen." Dafür reicht es aus, ein Ei mit einem Eierformer in Herzform zu pressen: "Das triggert die Leute, weil sie denken, meine Kinder kennen kein ovales Ei." Oder einen Mini-Schoko-Lebkuchenmann in die Brotdose zu legen – zu ungesund. 

Die Kommentare lässt Anika Ricke nicht an sich heran: "Ich kann damit super umgehen, denn ich bin selbstbewusst, ich weiß, dass ich meine Kinder sehr gesund ernähre und kann das schnell abhaken, wenn ich mit einer Freundin oder meinem Mann kurz darüber rede." Und manchmal nimmt sie sie sogar in Kauf: "Der positive Nebeneffekt ist eben, dass die Beiträge dadurch viral gehen." 

"Viele Eltern denken, ihre Kinder wären schlechte Esser" 

Die Lunchbox-Creatorin will anderen Inspiration liefern. Dabei legt sie Wert auf die Farbzusammenstellung der Lebensmittel, eine ausgewogene und abwechslungsreiche Ernährung. Sie backt mit Dinkel- oder Vollkornmehl, verzichtet häufig auf Zucker, außerdem kommt viel Obst und Gemüse und immer mal wieder eine Kleinigkeit zum Naschen in die Lunchbox. Sie sagt: "Viele Eltern denken, ihre Kinder wären schlechte Esser." Dabei könne man mit der richtigen Präsentation manchmal dafür sorgen, dass sie doch bereit sind, ein breiteres Spektrum auszuprobieren.

Besonders häufig wird sie auf das Thema Zeit angesprochen, mal mehr, mal weniger höflich. "Viele fragen, ob ich um vier Uhr in der Früh aufstehe und woher ich die Zeit dafür nehme, die Lunchboxen so zu gestalten", sagt sie. "Ob ich keine Hobbys oder Freunde oder kein eigenes Leben hätte." Das Argument lässt sie nicht gelten: "Es kostet immer Zeit, egal, ob ich ein 'liebloses' Brot schmiere oder mir ein paar Minuten mehr Zeit nehme. Die Gap ist gar nicht so groß." 

Erste Kooperation mit Amazon

Die Zusatzarbeit fängt vielmehr erst an, wenn sich ihre Söhne schon auf dem Schulweg befinden. Es ist das Drumherum, das tatsächlich viel Zeit kostet: Videos drehen, Lunchboxen planen, Rezepte entwicklen, Fotos machen, Texte schreiben, mit der Community kommunizieren. Lunchbox4mykids ist mittlerweile so professionalisiert, dass sich damit auch Geld verdienen lässt. Wie viel genau, dazu möchte die Content Creatorin keine Angaben machen. Die Kooperationen hätten etwa bei 5.000 Follower*innen angefangen, sagt sie. "Da hab ich mal eine Lunchbox geschenkt bekommen oder Müsliriegel zum Testen." Es folgen erste Affiliate-Links oder Rabattcodes. 

Anika Ricke ist vom Fach. Sie kommt aus dem E-Commerce und hat vorher bei Firmen wie Tom Tailor, Novomind (Otto) und Ticket Online gearbeitet. "Daher kannte ich mich aus, wusste wie Affiliate funktioniert und habe gesagt: Ich gebe keine Links raus, wo ich nichts dran verdiene." Ihre erste Kooperation ist mit Amazon, inzwischen sind weitere Partnerschaften hinzugekommen. Auf ihrem Kanal finden sich unter anderem Affiliate-Links zu Brotdosenshops, Eierformern, Waffeleisen, Rabattcodes für den Versanddienst Koro, dessen Produkte Anika Ricke auch in ihren Rezepten verwendet, oder die Biobox Etepetete. Es scheint eine ganze Palette an Produkten zu geben, die sich für Partnerschaften mit Lunchbox-Influencern anbieten. Die Kooperationspartner will Anika Ricke aber weiterhin mit Bedacht auswählen: "Das muss zu 100 Prozent zu mir und meinem Kanal passen, ich möchte nur ausgewählt Werbung machen", sagt sie.

Ziel ist ein eigenes Kochbuch

Wichtiger ist es ihr, die Freude an ihrem Kanal nicht zu verlieren, denn sie sieht großes Potenzial, weiter zu wachsen. Obwohl sie mit 2,5 Jahren Zugehörigkeit in der Brotdosen-Szene eher zu den Rookies gehört, hat sie schon viele überholt, wenn es um die Anzahl der Follower*innen geht. Viele andere Lunchbox-Accounts würden ein Brot schmieren, es mit einer Form ausstechen oder etwas mit Lebensmittelfarbe anmalen. "Ich denke, was mich davon unterscheidet, ist, dass ich mehr Variation biete. Mir folgen auch viele Menschen, die selbst gar keine Kinder haben, sondern sich einfach für die Rezepte interessieren, weil die nicht allzu aufwändig sind." Anika Ricke könnte sich gut vorstellen, diese Rezepte irgendwann in einem eigenen Kochbuch zu veröffentlichen. Dazu sei ihr Kanal aber noch zu klein, sagt sie. "Da warte ich lieber noch etwas ab. Ich bin ein totaler Zahlenmensch und beobachte immer den Markt. Wenn ich es mache, dann richtig."

Dass sie sich dabei in einem Wettrennen gegen die Zeit befindet, weil ihre Kinder älter werden und Dinos und Co. in der Brotdose irgendwann uncool finden, glaubt sie nicht. Einerseits, sagt sie, könne sie die Lunchboxen ja auch weniger kindlich und verspielt zubereiten. Andererseits mache sie auch schon jetzt manchmal Lunchboxen für Erwachsene – ihren Mann oder sich selbst etwa, wenn es gilt, die Schulferien mit Content zu überbrücken.

Aktuell ist sie sich der Unterstützung ihrer Kinder jedenfalls noch 100-prozentig gewiss – selbst dann, wenn es darum geht, mal wieder Kiwis für Gurken zu halten, wenn es der Algorithmus gerade gut mit ihr meint. "Meine Kinder haben mir dafür extra eine Versprecherliste geschrieben."

Tanja Karrasch
Autor*In
Tanja Karrasch

Tanja Karrasch ist Redakteurin bei OMR. Sie hat bei der Tageszeitung Rheinische Post volontiert und anschließend als Redakteurin gearbeitet. Vor ihrem Wechsel zu OMR arbeitete sie für die TV-Produktionsfirma Bavaria Entertainment und war als Redaktionsleiterin für zwei ZDF-Shows zuständig.

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