Ist Hinge auf dem Weg zur größten Dating-App der Welt?

Martin Gardt4.10.2022

Gründer Justin McLeod spricht mit OMR über den neuen Online-Dating-Ansatz und den Deutschland-Start von Hinge

Hinge-Gründer Justin McLeod
Hinge-Gründer Justin McLeod zu Besuch im OMR-Office

Hinge ist älter als Tinder – und trotzdem in Deutschland deutlich unbekannter. Jetzt will die schnellst wachsende Dating-App der USA, Großbritanniens und Kanadas auch hierzulande angreifen – mit eine Abkehr vom stumpfen Swipen. Uns hat Gründer Justin McLeod erzählt, was er anders macht als die Konkurrenz, warum die App gerade jetzt so erfolgreich ist und warum er keine Lust auf KPIs wie Retention oder Engagement hat.

Man sieht Justin McLeod nicht an, dass er eine der größten Dating-Apps der Welt führt. Im OMR-Office kommt der Hinge-Gründer lässig in Übergangsjacke, Kapuzenpulli, zerrissenen Jeans und zerstrubbelten Haaren an. Wenn es dann aber um sein Unternehmen geht, wird viel gelacht. Es lief wohl nie besser für Hinge. Die Download-Zahlen wachsen kontinuierlich, der Umsatz hat sich 2021 im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt – auf 197 Millionen US-Dollar.

Doch der Weg zum Erfolg ist für Hinge und McLeod sehr lang. Er gründet das Unternehmen noch als Student im Jahr 2012. „Die Idee kam mir in der Uni. Ich habe realisiert, dass niemand in meinem Alter Online-Dating nutzt. Ich wollte einen Weg finden, um Online-Dating für die nächste Generation zugänglich zu machen“, erzählt er gegenüber OMR. Der Durchbruch Richtung junger Zielgruppe gelingt dann aber doch anderen, vor allem Tinder und dem Swiping-Mechanismus. „Am Anfang war es die Einfachheit, die dazu beigetragen hat, die jüngeren Generationen für das Online-Dating zu gewinnen“, so McLeod. „Wir bei Hinge glauben aber, dass es einen besseren Weg geben könnte, um ernsthafte Beziehungen zu finden.“

Likes für Details statt schneller Swipe

Das beschreibt die Unterschiede zwischen Hinge und dem Marktführer Tinder gut. Bei Hinge geht es eher um Partner-Suche als um schnelle Liebschaften. Deshalb werden neue Nutzende zu Beginn genauestens befragt, darunter zur politischen Einstellung, der Familienplanung, zum Alkohol- oder Tabak-Konsum. „Wir verlieren 20 Prozent der Menschen beim Sign-Up. Aber das ist so gewollt. Wir suchen Nutzende, die ernsthaft nach einer Beziehung suchen“, so der Hinge-Gründer. Aus den Informationen und natürlich auch Bildern baut die Dating-App dann eine Profilseite, die an einen persönlichen Blog erinnert. Hinge fordert Nutzende ihre Einstellung zu bestimmten Dingen abzugeben und so landen auch Aussagen (sogenannte Ice Breaker) zwischen Bildern und Infos. Beispiele: „Die einfachen Dinge im Leben, die ich genieße, sind:“ oder „Unnützes Wissen, das ich liebe:“. Die können Nutzende aber auch als Video oder Sound auf ihr Profil packen.

Hinge-App Design

Hinge setzt mehr als andere Dating-Apps auf Sprach-Inhalte, Videos und Likes für einzelne Content-Stücke

Der Algorithmus von Hinge sorge auf Grundlage der vielen Informationen dafür, dass vor allem passende Profile vorgeschlagen werden. „Algorithmen verstehen Liebe nicht. Aber sie verstehen Geschmack, sie verstehen, wen du mögen könntest und wer dich mögen könnte. Also können wir Nutzende mit Personen zusammenbringen, die sie am wahrscheinlichsten gut finden werden“, so McLeod. Hinge verzichtet dabei auf die Swiping-Funktionen. Nutzende können stattdessen einzelne Content-Pieces der Profile liken, wie Bilder, Aussagen, Videos oder Sounds. Das Gegenüber sieht diese Likes und kann dann ins Gespräch einsteigen. Durch die Like-Funktion erkennt die App besser, was genau Nutzende in der Liebe suchen. „Wenn du durch die Stadt gehst und mir zeigst, dass du diese Hälfte Menschen magst und diese Hälfte nicht, würde mir das nicht besonders helfen, deinen Typen zu verstehen. Aber wenn du nach 3-Minuten-Gesprächen bei zehn Prozent landest, bekomme ich ein besseres Gefühl dafür, was du wirklich magst“, sagt der Hinge-Gründer.

Erste Dates als KPI

Die Funktion, auf die Justin McLeod besonders stolz ist, sind die sogenannten „Prompts“ – also Aufforderungen. Die schickt die App gleich zu Beginn, um etwa das Profil zu füllen. Da wird beispielsweise gefragt, ob man ein Video als „Ice Breaker“ zu einem Thema posten wolle. Prompts schickt Hinge aber auch während eines Gesprächs. Um etwa Schwung in Gespräche zu bringen, landen Aufforderungen, über den besten Ort für ein erstes Date abzustimmen, im Postfach der Gesprächspartner. „Die Prompts sind ein Gleichmacher. Sie helfen auch introvertierten Nutzern, mehr von sich zu zeigen“, erklärt McLeod. Insgesamt zielt die App darauf, dass Nutzende schneller einen genaueren Eindruck von ihrem Gegenüber bekommen. „Wir wollen Vorfreude auf ein Treffen erzeugen. Das ist der größte Motivationsfaktor, um erste Dates auszumachen. Das erzeugen wir dadurch, dass wir Menschen in der App lebendig machen.“

Der Hinge-Gründer habe keine Lust auf klassische App-Kennzahlen: „Ich wollte nicht mehr auf die Konkurrenz und Venture-Capital-KPIs wie Engagement, Retention, Dailys over Monthlys, usw. gucken. Also haben wir die Ziele der User ins Zentrum gerückt und geben jetzt alles dafür, dass sie großartige erste Dates haben“, sagt McLeod. Doch die lassen sich nur schwer bemessen, deshalb hilft ein Blick auf die Downloads, um zu verstehen, wie stark das Wachstum von Hinge derzeit ist. Laut Analyse-Tool Appfigures wurde die App weltweit allein seit Anfang 2020 über 15 Millionen Mal für iOS und 7,4 Millionen Mal für Android heruntergeladen. Auf iOS hat sich Hinge laut der Daten bei rund 30.000 täglichen Downloads eingependelt. Tinder liegt hier noch voraus – das Wachstum von Hinge ist aber deutlich explosiver. Das Unternehmen selbst verweist offiziell lieber auf seine Kern-KPI: Alle zwei Sekunden komme ein Date über die App zustande.

Downloadzahlen von Hinge

Die weltweiten Download-Zahlen der Hinge-App seit Anfang 2020 (grün: iOS, lila: Android). Zuletzt zeigt sich vor allem auf iOS deutliches Wachstum (Quelle: Appfigures)

Wachstum durch Word of Mouth und Branding

Seit Mai 2022 ist Hinge auch mit einer deutschen Version am Start und damit offiziell in 20 Ländern aktiv. Schon zuvor konnten Nutzende in Deutschland die englischsprachige Version verwenden, wirkliche Marketing-Aktivitäten gab es hierzulande vor Mai aber nicht. Deshalb lagen die Downloads hier laut Appfigures bei nur knapp über 200 pro Tag. Das hat sich jetzt geändert. Seit Juli trommelt Hinge auf dem deutschen Markt für die App und verzeichnet mittlerweile 2.000 Downloads pro Tag. Insgesamt verzeichnet Hinge seit Anfang 2020 knapp 400.000 Downloads in Deutschland. Mit dieser kritischen Masse an Nutzenden könne der laut Gründer McLeod wichtigste Marketing-Hebel zum Einsatz kommen: „Die beste Wachstumsstrategie für uns ist Word of Mouth. Das ist effektiv und günstig. Für uns ist es also am wichtigsten, ein Produkt zu bauen, das wirklich funktioniert“, sagt er. „Marketing kippt dann Benzin in das bereits brodelnde Feuer.“

Das Benzin in diesem Fall ist für Hinge in Deutschland vor allem Branding: „Wir machen sehr wenig Performance-Marketing. Bei uns steht die Brand im Mittelpunkt, damit Menschen unsere Positionierung verstehen und die App ausprobieren“, so McLeod. Seit 2019 gehört Hinge zur Match Group – dem weltweiten Marktführer im Online-Dating mit knapp drei Milliarden US-Dollar Umsatz. Das Budget für große Branding-Aufschläge sollte also da sein. Jetzt startet Hinge mit einer Out-Of-Home-Kampagne in großen deutschen Städten und Video-Ads. Im Zentrum steht das Maskottchen Hingie (das App-Icon in haarig und mit Augen). Das muss abserviert werden, weil nach dem perfekten Date braucht es die App ja nicht mehr. Deshalb auch der Werbespruch von Hinge: „The dating app designed to be deleted“.

Hinge Out of Home

Ein Blick auf die Out-of-Home-Kampagne von Hinge mit Maskottchen „Hingie“

Abos statt Ads als Geschäftsmodell

Ganz so schnell dürfen Nutzende die App aber nicht löschen – wenn Hinge Umsatz machen will. „Hinge verdient sein Geld mit Mitgliedschaften, Boosts und Rosen, die man verschicken kann“, erklärt Justin McLeod. Boosts erlauben es, Nachrichten mit einer Prio zu versehen und so im Postfach von anderen Nutzenden ganz oben aufzutauchen. Rosen sind eine Art Super-Like, das ebenfalls mit Priorität angezeigt wird und kosten pro Stück ab 1,50 Euro. Und dann sind da noch die Premium-Mitgliedschaften. Wer knapp 39 Euro pro Monat (oder 72 Euro für drei oder 111 Euro für sechs Monate) zahlt, darf genaue Dating-Vorlieben angeben, wie etwa die Größe, Familienplanung, Alkoholkonsum potenzieller Partner*innen, kann unbegrenzt Likes senden und erhält doppelt so viele tägliche Standout-Profil-Empfehlungen, wie alle anderen.

„Wir denken weniger darüber nach, wie wir Monetarisierungsfunktionen bauen können. Während unser Produkt-Team neue Funktionen baut, denken wir nebenbei dann, ob eine Bezahlkomponente Sinn machen könnte“, erklärt McLeod. Gerade weil eine lange Nutzungsdauer keine KPI sei, komme Werbefinanzierung für ihn derzeit nicht in Frage. Auch damit grenzt er sich von Tinder ab. Am Ende dürfte die Hoffnung von Hinge sein, dass immer mehr Menschen genug vom gefühllosen Swipen haben und über die spielerischen Elemente Lust bekommen, mehr von sich in einer App zu präsentieren – vor allem im datensensiblen Deutschland. Wenn die Nutzenden dann noch eine Rose kaufen, dürfte Hinge auch in Sachen Umsatz weiter extrem wachsen.

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Autor*In
Martin Gardt

Martin kümmert sich vor allem um neue Artikel für OMR.com und den Social-Media-Auftritt. Nach dem Studium der Kommunikations- und Medienwissenschaft ging er zur Axel Springer Akademie, der Journalistenschule des Axel Springer Verlags. Danach arbeitete er bei der COMPUTER BILD mit Fokus auf News aus der digitalen Welt und Start-ups. Am Wochenende findet Ihr ihn auf der Gegengerade im Millerntor.

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