Fourfront: Wie dieses Unternehmen ein Fake-Influencer-Universum auf Tiktok baut

Martin Gardt27.10.2021

Aus Schauspieler:innen werden bei Fourfront Tiktok-Stars – das Prinzip erinnert an "Berlin – Tag & Nacht"

FourFront Fake-Influencer
Fake-Influencer von FourFront: "Sydney", "Ollie" und "Tia" sind eigentlich Schauspieler:innen.
Inhalt
  1. TV-Serien auf Tiktok
  2. Ein Fake-Influencer-Imperium
  3. Realität und Fiktion verschwimmen
  4. Chats mit Künstlicher Intelligenz
  5. Fake-Influencer können trotzdem influencen

Das Influencer-Business ist nicht gerade für seine Authentizität bekannt – auch wenn viele Creator ständig davon sprechen. Aber was das US-Unternehmen Fourfront gerade macht, hat nochmal eine andere Qualität. Der Plan: Mit Schauspieler:innen ein fiktionales Universum aus Tiktok-Stars schaffen. Wir zeigen, wie das genau funktioniert und wie die Fake-Influencer schon jetzt mit fragwürdigen Methoden auf Millionen-Reichweiten kommen.

„Warum kann ich nicht mit Harry Potter abhängen?“, fragt Fourfront-Gründer Ilan Benjamin gegenüber Fastcompany. „Das ist die Frage, mit der das Unternehmen gestartet ist: Wie bekommen wir Menschen näher an ihre liebsten fiktiven Figuren?“ Damit beschreibt der Gründer die Idee hinter seiner 2019 gegründeten Firma. Die engagiert Schauspieler:innen, baut mit ihnen Tiktok-Kanäle auf und erzählt hier verschiedene ausgedachte Geschichten im Stile typischer Creator. Mit den so entstehenden Millionen-Reichweiten will Fourfront gutes Geld verdienen. „Wir bauen ein Universum von Charakteren auf Tiktok – so ein bisschen im Stile des Marvel Cinematic Universe“, so Benjamin. 

TV-Serien auf Tiktok

Beispiel gefällig? Im vergangenen Jahr startet Fourfront mit der Geschichte rund um die junge Paige (hinter der eine Schauspielerin steckt). Die bemerkt, dass alle ihre Freundinnen und Freunde sie auf Social Media geblockt haben. Also fragt sie die Community auf Tiktok nach Rat. Dann ist da noch Ollie, ein Transmann, der herausfindet, dass ausgerechnet sein Vater eine Geschlechtsumwandlung durchmacht. Oder Tia, die herausfindet, dass ihr Freund einer afrikanischen Königsfamilie entstammt und der seine Zukunft ohne sie plant. Oder Sydney, die den Verlobten ihrer Schwester als Betrüger enttarnt. 22 solcher etwas übertriebener Storylines hat Fourfront bisher ausgetestet, acht bespielt das Unternehmen noch aktiv. „Manche Geschichten funktionieren, andere fallen durch. Wir investieren nur in Storys, die die Zielgruppe liebt“, so Gründer Benjamin.

Für jede Geschichte produziere das Team um die 20 Videos für Tiktok. Ist das Engagement gut, geht es weiter. „Das ist das klassische TV-Pilot-Modell auf Steroiden“, sagt Gründer Ilan Benjamin. „Wir lassen die Nutzenden entscheiden, wer eine Chance auf eine komplette Staffel verdient hat.“ Die Zielgruppe sei vergleichsweise jung (Gen Z) und weiblich. Daher liege der Fokus auf Geschichten von Liebe, dem Älterwerden, witzigen Momenten. „Wir setzen nicht auf Thriller oder Horror, weil das die Grenze zwischen Realität und Erzählung verwischt. Stattdessen wollen wir Geschichten erzählen, die Optimismus und Positivität verbreiten“, so Benjamin. „Wir versuchen Charaktere zu erschaffen, zu denen die Fans aufschauen können und die sie als Vorbilder mit in unser Universum mitnehmen.“

Ein Fake-Influencer-Imperium

Die derzeit laufenden Fourfront-Storys scheinen zu funktionieren. Besonders Sydney sticht aber heraus: Siekommt auf fast 700.000 Follower auf Tiktok, ihre Videos regelmäßig auf mehrere Millionen Views. Aber auch andere Creator liefern immer wieder Clips mit Millionen-Reichweite. Laut eigener Angaben zählen die Fourfront-Influencer zusammen über zwei Millionen Tiktok-Follower und 281 Millionen Views. Und das Unternehmen will mit dem Universums-Gedanken im Hinterkopf die Zahlen weiter pushen. Immer wieder treffen verschiedene Charaktere „im echten Leben“ aufeinander und teilen die Erlebnisse. Aktuell kämpfen sie Sydney, Tia & Co. darum, das Erbe eines Milliardärs anzutreten – und feiern in dessen Villa. Die Follower sollen so merken, dass die fiktionalen Figuren alle in der gleichen Welt leben.

Tiktok-Statistik Sydney von FourFront

Die Tiktok-Posts von Fourfront-Charakter Sydney performen ziemlich gut. (Quelle: Infludata)

Wie ein roter Faden zieht sich dabei durch, dass die Fake-Influencer ganz natürlich mit ihren Followern interagieren. Damit das so authentisch wie möglich funktioniert, drehen die Schauspieler:innen alle Clips komplett selbst – natürlich nach Drehbuch. Danach schicken sie ihre Aufnahmen an ein Team bei Fourfront, das dann die Postings übernimmt und mit den Followern in den Kommentaren interagiert. 

„Wir haben nicht nur ein Universum an Charakteren auf Tiktok erschaffen, wir bauen auch an einem interaktiven Format“, erzählt Gründer Ilan Benjamin. „Da passiert gerade eine Evolution von Filmen, wo das Publikum nicht mit den Figuren interagieren kann zu Formaten mit Charakteren, die sich lebendig anfühlen, in unserer Welt leben, auf Social Media sind und direkt auf Nachrichten der Fans reagieren.“ Ein bisschen erinnert das Modell an in Deutschland bekannte Formate wie „Berlin – Tag & Nacht“, wo die fiktionalen Charaktere aus der Show zu Influencern auf Facebook und Instagram gemacht werden.

Realität und Fiktion verschwimmen

Eine Gefahr bei der Strategie ist jedoch, dass nicht alle Follower das als solches erkennen. Fourfront versucht zumindest, transparent zu sein. In den Profilen der Creator taucht in irgendeiner Form das Wort „fictional“ auf. In den einzelnen Posts wird es als Hashtag benutzt. Ob das aber reicht, um bei allen Abonnent:innen für Klarheit zu sorgen? „Wir erzählen Geschichten, die etwas verrückter als die Realität sind. Und ich denke, das machen viele Influencer auf Tiktok so“, sagt Ilan Benjamin. Damit trifft er natürlich einen Punkt. Soweit einen komplett anderen Namen zu verwenden, gehen viele Tiktoker:innen nicht, ein bisschen Schauspielerei ist auf der Plattform aber nicht ungewöhnlich. 

Wer die Kommentare unter den Beiträgen etwa von Sydney anschaut, bemerkt schnell, dass viele das Hashtag „fictional“ nicht bemerken und besorgt nachfragen, warum sie sich an dem Verlobten ihrer Schwester rechen will. Oder sie beschimpfen sie, weil sie als „Mitarbeitende“ einer Dating-App-Firma seine Daten ausspioniert hat. All das natürlich nur Teil der ausgedachten Geschichte rund um Sydney und ihre Schwester. Andere Follower wirken aber zumindest so, als wären sie einfach gespannt auf die nächste „Folge“ der Geschichte.

Chats mit Künstlicher Intelligenz

Diese Anteilnahme versuchen Ilen Benjamin und sein Team mit weiteren Engagement-Hebeln anzutreiben. Sydney und Ollie verlinken in ihren Tiktok-Accounts auf Chatfunktionen. Mit Hilfe des AI-Sprachmodells GPT-3 (hier bei OMR im Test) antworten die Fake-Influencer sozusagen in Echtzeit – nur eben nicht selbst. So soll eine Skalierung und die Verarbeitung Tausender Nachrichten möglich sein. 

Laut Fourfront-Gründer Benjamin habe das Prinzip schon beim ersten Versuch mit Paige stark funktioniert. 89 Prozent der Nutzenden hätten weiter mit ihr schreiben wollen, obwohl sie darauf hingewiesen wurden, dass Paige nicht real ist. 42 Prozent hätten auf einer sehr persönlichen Ebene mit der Fake-Influencerin (bzw. der AI) geschrieben. Solche Daten wolle das Unternehmen nur verwenden, um besseres Storytelling zu liefern. Wie viele Nutzende insgesamt mit den Fourfront-Creatorn schreiben, ist nicht bekannt.

Fake-Influencer können trotzdem influencen

Das Unternehmen experimentiert darüber hinaus immer wieder mit weiteren Möglichkeiten, um die Zielgruppe nah an die eigenen Figuren zu holen. Sie tauchen immer wieder auf Discord, Zoom oder Clubhouse auf. Zum aktuellen Wettkampf um das Milliardärs-Erbe landet ein absurdes Video auf Youtube – eher Cringe als coole Story. Am Ende soll aber eine eigene Plattform mit Live-Shows und weiteren Formaten stehen. Diese soll dann als Whitelabel-Lösung auch an andere Entertainment-Unternehmen verkauft werden. „Ein perfekter Vergleich ist Fortnite: Wie Epic Games nicht nur ein erfolgreiches Spiel entwickelt hat, sondern auch die zugrundeliegende Technologie Unreal Engine, die sie jetzt an andere Spiele-Entwickler lizenzieren. Das ist ein großer Teil von deren Business-Modell“, so Benjamin. „Wir glauben, wir können etwas ähnliches mit einer ausgereiften KI bauen, die für Entertainment-Ideen optimiert ist.“

Das klingt alles sehr nach Buzzword-Bingo. Realistischer sind kurzfristig andere Ideen von Ilen Benjamin und seinem Team: „Wenn unsere Charaktere noch populärer werden, sehe ich sie in der klassischen Creator Economy, auf Youtube, Instagram und anderen Plattformen. Dann könnten sie nicht nur mehr Content erstellen, sondern den auch direkt und langfristig monetarisieren.“ Der Weg zum kompletten Fake-Influencer wäre dann mit Sponsoring-Verträgen geschafft. Und noch etwas hat sich Benjamin von echten Creatorn abgeschaut: Abo-Modelle oder Live-Events. Über 13.000 Menschen hätten sich für einen Zoom-Call mit Fourfront-Charakter Sydney angemeldet – allerdings war der kostenlos. „Das zeigt uns, dass so eine Art von Live-Plattform, auf der die Zielgruppe eine Abo-Gebühr zahlen kann, um direkt mit den Charakteren zu interagieren, funktionieren kann – und Umsätze für die Zukunft bedeutet. Geld für solche Projekte ist zumindest in Ansätzen da: Kleinere VCs haben vor zwei Wochen 1,5 Millionen US-Dollar in Fourfront investiert.

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MG
Autor*In
Martin Gardt

Martin kümmert sich vor allem um neue Artikel für OMR.com und den Social-Media-Auftritt. Nach dem Studium der Kommunikations- und Medienwissenschaft ging er zur Axel Springer Akademie, der Journalistenschule des Axel Springer Verlags. Danach arbeitete er bei der COMPUTER BILD mit Fokus auf News aus der digitalen Welt und Start-ups. Am Wochenende findet Ihr ihn auf der Gegengerade im Millerntor.

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