Bar Chart Races: Wie Youtuber mit Balkendiagrammen Hunderte Millionen Views erhalten

Gastautor21.11.2019

Die Datenvisualisierungs-Videos sind schnell erstellt. Einige Channels nutzen das erfolgreich aus und ihre Videos gehen viral

Data is Beautiful Bar Chart Races
Bar Chart Race, © Data is Beautiful
Inhalt
  1. In nur zwei Monaten zu knapp einer Million Abonnenten
  2. Warum die „Bar Chart Races“ auf Youtube gut funktionieren
  3. Millionen von Klicks über Social Media
  4. Verlinkungen in namhaften Blogs und Medien pushen die SEO-Sichtbarkeit
  5. Sechsstellige Umsätze mit Youtube-Werbung?
  6. „Die Software erledigt die ganze Arbeit“
  7. Der Wettbewerb ist groß
  8. Zehn Millionen Impressions auf Twitter

Eine Datenvisualisierungs-Art wird zum Trend: Kaum jemand, der etwas mit Online Marketing zu tun hat, dürfte nicht mindestens einmal irgendwann in den vergangenen Monaten ein „Bar Chart Race“ in seine Social Feeds gespült bekommen haben. Die animierten Diagramme bestehen aus wachsenden und schrumpfenden Balken und bilden die Entwicklung mehrerer Unternehmen, Plattformen oder Marken einer Branche, einer Kategorie oder eines Genres über einen längeren Zeitraum hinweg ab. OMR zeigt, wie auf Youtube findige Kanalbetreiber mit relativ wenig Aufwand aus dem Phänomen Profit schlagen.

Es ist fast so, als ob man ein wirkliches Wettrennen verfolgt – nur, dass wir nicht Autos, Pferden oder Menschen dabei zuschauen, wie sie in möglichst kurzer Zeit eine Strecke bewältigen, sondern Unternehmen oder Marken, die über Jahre hinweg versuchen, sich im Wettbewerb zu behaupten. Bar Chart Races führen dabei beeindruckend vor Augen, mit welch rasantem Tempo Firmen wie Google und Apple einen enormen Markenwert aufgebaut haben und wie schnell Nokia als Handy-Hersteller in der Bedeutungslosigkeit verschwunden ist. Die Datenvisualisierungen rütteln am Glauben daran, dass bestimmte Gefüge unveränderlich sind. Sie zeigen, wie plötzlich eine Marktführerschaft verloren gehen, wie schnell ein junges Unternehmen etablierte Branchengrößen überholen kann.

In nur zwei Monaten zu knapp einer Million Abonnenten

Wer diese Art der Visualisierung wann genau erfunden hat, lässt sich heute kaum mehr nachvollziehen. Google Trends weist erstmals für den März 2019 relevantes Suchvolumen für die Keyword-Kombination „bar chart race“ aus. Aus diesem Monat stammt ein Blog-Eintrag des Visualisierungs-Tools Flourish, in dem erklärt wird, wie man ein „Bar Chart Race“ erstellen kann. Doch in dem Blog-Eintrag werden schon ältere Beispiele für „Balkendiagramm-Rennen“ angeführt, u.a. eines von John Burn-Murdoch, Datenjournalist der Financial Times. Er ist zumindest auf Twitter der erste, der den Begriff „Bar Chart Race“ für eine solche Visualisierung verwendet.

Im weiteren Laufe dieses Jahres sind die Balken-Wettrennen dann zum Trend geworden – und diverse Kanäle auf Youtube haben erfolgreich darauf aufgesattelt. Den Kanal „Data is beautiful“ beispielsweise gibt es zwar schon seit fast zwei Jahren. Noch vor wenigen Monaten wäre er wohl kaum jemandem aufgefallen. Vor vier Monaten begann der/die unbekannte Betreiber/in des Kanals jedoch damit, Bar Chart Race Videos hochzuladen – und die Abonnenten- und Aufrufzahlen stiegen rasant an. Laut der Social-Media-Statistik-Website Socialblade wuchs die Followerzahl von 6.000 auf jetzt über 870.000. In der gleichen Zeit verzeichnete der Channel über 100 Millionen neue Views; vorher waren es insgesamt knapp 500.000.

Abonnenten- und View-Wachstum bei Data Is Beautiful auf Youtube, Quelle: Socialblade

Warum die „Bar Chart Races“ auf Youtube gut funktionieren

Seit etwa zwei Monaten erhalten die neuen Videos des Kanals in der Regel mehrere Millionen Views. Zu diesem Erfolg tragen nach Ansicht des Youtube-Experten Christoph Burseg zwei Faktoren bei. Zum einen die Frequenz, mit der neue Videos hochgeladen werden: „Es hilft, dass sie mehr Videos produzieren. Youtube mag Regelmäßigkeit“, so Burseg.

Mindestens ebenso wichtig dürfte der Aufbau der Videos sein. Denn die meisten Zuschauer dürften wissen wollen, welcher Film aktuell am meisten einnimmt, welche Website heute die bestbesuchte ist usw. Daher müssen sie bis zum Ende zuschauen (oder dorthin springen). Dieser Umstand verlängert die Sehdauer. „Der Youtube-Algorithmus belohnt Kanäle mit hoher Watch-Through-Rate – und eigentlich will man ja immer sehen, wie die Zahlen am Ende aussehen“, sagt Christoph Burseg. „Das Thema des Kanals passt einfach extrem zum aktuellen YouTube-Algorithmus.“ Zudem lassen sich die Videos von „Data is beautiful“ gut auf dem Handy anschauen, weil die Balken gut lesbar beschriftet oder mit großen Logos versehen sind.

Millionen von Klicks über Social Media

Das beliebteste Video von „Data is beautiful“ zeigt, welche Websites zwischen den Jahren 1996 und 2019 die besucherstärksten im Web waren. Es ist ein achteinhalbminütiger wilder Ritt durch die Geschichte des Webs: Während anfangs AOL und Yahoo das Feld noch mit weitem Abstand anführen, erscheint kurz nach der Jahrtausendwende plötzlich eine Firma namens Google auf der Bildfläche und setzt mit einem enormen Tempo zur Aufholjagd an. Später stoßen Youtube, dann Facebook und schließlich die chinesische Suchmaschine Baidu auf die vorderen Plätze vor. Seitdem das Video vor einem guten Monat hochgeladen wurde, haben es sich 15 Millionen Nutzer angeschaut.

Ein großer Teil der Zuschauer dürfte über Social-Media-Plattformen auf das Youtube-Video gestoßen sein. Einer Analyse des Social-Media-Analytics-Tools Crowdtangle (gehört zu Facebook) zufolge, ist das Video auf Facebook 28 Mal von Nutzern oder Facebook-Seiten öffentlich geteilt worden und hat dabei potenziell 890.000 Facebook-Nutzer erreicht. Hinzu kommt die unbekannte Reichweite, die darüber erzielt wurde, dass das Video 9.394 Mal von Nutzern gesharet wurde. In der Social Community Reddit ist das Video elf Mal gepostet worden, u.a. in dem Unterforum „Data is beautiful“, das wohl Namenspate für den Youtube-Kanal stand und das aktuell 13,9 Millionen Mitglieder verzeichnet. Auf Twitter lud u.a. Online-Marketing-Guru Larry Kim (Gründer der SaaS-Firma Wordstream mit fast 800.000 Followern) das Video hoch (immerhin mit Verlinkung der Originalquelle) und erhielt damit 462 Retweets, 494 Antworten und 685 Likes.

Verlinkungen in namhaften Blogs und Medien pushen die SEO-Sichtbarkeit

Ein weiterer Teil der Abrufzahlen des Videos geht wohl darauf zurück, dass nach seiner Popularität in Social Media mehrere Medien-Websites und Viral-Blogs mit relevanter Reichweite das Video aufgegriffen und darum herum einen kurzen Artikel gestrickt haben. In den USA beispielsweise Boing Boing, Laughing Squid und Geekologie, in Deutschland Business Punk, Gründerszene und LangweileDich.net. Das dürfte nochmals für einen Sichtbarkeits-Push in Youtubes Algorithmus gesorgt haben: „Embeds sind für YouTube ein großes Qualitäts-Signal. Und falls aus Versehen überdurchschnittlich viele Embeds zustande kommen, dann hilft das diesem Kanal“, sagt Christoph Burseg.

Verlinkungen von bekannten, reichweitenstarken Websites dürften dann auch mit dafür gesorgt haben, dass das Video in Googles Suchmaschine gut sichtbar ist. Wer bei Google auf der Suche nach entsprechenden Statistiken „most popular website“ eingibt, dem wird auf Googles Suchergebnisseite mit hoher Wahrscheinlichkeit relativ weit oben ein so genanntes Video-Karussell angezeigt. Erstes Video darin: das von „Data is beautiful“. Das sorgt für zusätzlichen Traffic. Auch mit anderen Videos, etwa zu den Musikern mit den meisten Verkäufen, taucht „Data is beautiful“ prominent in Googles Suchergebnissen auf.

Videos von Data Is Beautiful auf Googles Suchergebnisseite, Screenshot Google

Sechsstellige Umsätze mit Youtube-Werbung?

Geld verdient der Betreiber mit der so erzielten Reichweite dadurch, dass er es Youtube erlaubt, Werbung vor dem Video einzublenden. Von den damit erzielten Einnahmen erhält der Kanalbetreiber 55 Prozent. Mit Hinblick auf die Abrufzahlen des Kanals ist durchaus vorstellbar, dass der „Data is beautiful“-Macher eine niedrige sechsstellige US-Dollar-Summe im Jahr mit Werbung einnimmt.

Geld zu verdienen sei gar nicht sein Ziel gewesen, so der Macher schriftlich gegenüber OMR: „Ich bin weder eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens noch ein Entrepreneur. Dieser Kanal bot mir die Gelegenheit, mit interessanten Leuten aus der akademischen Forschung und der High-Tech-Community in Kontakt zu treten. Und ich weiß das zu schätzen; es ist eine erstaunliche Erfahrung für eine nerdige Person wie mich.“ Ein schriftliches Interview lehnte der Kanalbetreiber ab. Im Info-Bereich des Kanals schreibt Dov Medvedev er sei Uni-Doktorand und „Data Geek“, Datenvisualisierung sei sein Hobby.

„Die Software erledigt die ganze Arbeit“

Unbestritten ist, dass die Produktion „Bar Chart Race“-Videos nicht besonders aufwändig und teuer ist. Man braucht kein Videostudio, muss nicht das eigene Gesicht vor die Kamera halten und benötigt theoretisch noch nicht einmal eine Kamera. Im Forum Black Hat World, in dem sich Online-Marketing-Glücksritter untereinander austauschen, erklärt ein Kanalbetreiber, wie simpel es sein kann, solche Videos zu erstellen. Mit der bereits erwähnten Software Flourish Studio ist das kostenlos möglich. „Man muss nur die Informationen zu einem Thema in eine Tabelle packen und dann erledigt die Software die ganze Arbeit für Dich.“ Ein Download des Videos sei zwar eigentlich kostenpflichtig – aber man könne ja auch einfach eine Bildschirmaufnahme erstellen. Auf Youtube erklärt ein anderer Nutzer ausführlich, wie man mit Flourish ein Balken-Wettrennen produziert.

Die Daten, um solche Diagramme zu erstellen, seien ja ebenfalls im Internet kostenlos verfügbar, schreibt der Black-Hat-World-Nutzer: „Googlet einfach, welches der beliebteste Film im Jahr 2000 war und führt dann dieselbe Suche für die darauffolgenden Jahre durch.“ Ein anderer Forennutzer merkt an, dass auch auf Wikipedia abrufbare Tabellen, beispielsweise über die Gewinner der Formel 1 im Laufe der Jahre, als Datenquelle dienen könnten.

Der Wettbewerb ist groß

Data Is Beautiful ist derzeit der wohl populärste Youtube-Kanal, der Daten in dynamischen Diagrammen visualisiert – aber nicht der einzige. Und auch nicht der erste, denn schließlich sind die Clips nicht älter als vier Monate. Womöglich hat der Macher also das Konzept bei anderen Kanälen gesehen und seine Inhalte erfolgreich optimiert. Andere Kanäle wie Latos Charts waren mit ähnlichen Videos schon vorher einigermaßen erfolgreich. Im Schnitt verzeichnet dieser Kanal mit über 24.000 Followern aber weniger als 400.000 Aufrufe bei seinen Videos.

Der Kanal The Rankings wiederum, mit beinahe 300.000 Followern, hat inzwischen über 50 Millionen Views und setzt auf eine ähnliche Ästhetik wie Data is beautiful. Das Video „The Top 15 Most Subscribed YouTube Channels“ verzeichnet bereits über 20 Millionen Aufrufe. Bei Google taucht es in der Suche nach „Most Subscribed Youtube Channel“ neben einer vergleichbaren Version von Data is beautiful auf.

Zehn Millionen Impressions auf Twitter

Besonders erfolgreich war das Video „Top 15 Best Global Brands Ranking“ von The Rankings auf Twitter. Dort lud Social-Media-Experte Matt Navarra (über 50.000 Follower bei Twitter) das Video hoch – jedoch nur mit einem Hinweis auf das Unternehmen Interbrand versehen, von dem die Daten stammen, nicht aber auf den Macher. Der Tweet ging viral. Wie viel Reichweite dieser erzielte, enthüllte Navarra in einem weiteren Tweet per Screenshot: mehr als eine Million Impressions (Stand: Februar 2019). Ein weiterer User repostete das Video und kam sogar auf knapp zehn Millionen Impressions (Stand: Februar 2019). Ob dieses „Freebooting“ (Content-Klau) für den Macher des Kanals letzten Endes einfach nur ärgerlich ist, oder ob er damit möglicherweise sogar zusätzliche Views generiert, weil Nutzer danach nochmals nach dem Video googlen, bleibt Spekulation.

Ob mit Bar Chart Races langfristig Reichweiten generiert werden können? Youtube-Experte Christoph Burseg ist skeptisch: „Wie immer wieder ist es einfach gerade ein Trend – und in einem Jahr wird es den nächsten Trend geben.“ Doch bis dahin könnten weitere Youtuber möglicherweise noch von dem Hype um die Balken-Wettrennen profitieren und „mit lokalisierten Versionen dieser Videos für andere Sprachen aktuell auf der Welle mitreiten“, glaubt Burseg.

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