Millionen-Umsatz mit Chatbots: Hat Character.ai das erste funktionierende KI-Geschäftsmodell entdeckt?

Martin Gardt2.8.2024

Das US-Startup bietet Millionen Chatbots, hat Millionen Nutzende und ist eine Milliarde Dollar wert

Character.ai will mit Chatbots der neuen Generation Geld verdienen (Quelle: Giphy / stellar247)

Einmal mit Harry Potter chatten? Oder mit Taylor Swift? Oder mit dem Weihnachtsmann? Das alles geht in der App oder Browser-Version des US-Startups Character.ai. Denn das Unternehmen will die zentrale Anlaufstelle für KI-Chatbots werden – beim Thema Entertaining aber auch bei Lerninhalten und hilfreichen KI-Anfragen. Kann das ein erstes funktionierendes KI-Geschäftsmodell werden?

Daniel De Freitas und Noam Shazeer sind echte KI-Nerds. Lange arbeiten die beiden gemeinsam bei Google an der LaMDA-Technologie (Language Model for Dialogue Applications). Einfach übersetzt werkeln sie also schon bei Google an Chatbots. 2021 verlassen sie das Unternehmen, weil sie laut eigener Aussage von bürokratische Hürden zurückgehalten werden. Sie wollen schon damals KI-Chatbots zu Endnutzenden bringen.

Und weil das bei Google nicht gelingt, gründen sie gemeinsam Character.ai. Seit September 2022 ist das Tool öffentlich verfügbar, im Mai 2023 folgt eine App. Erste grundlegende Funktion: Nutzende können mit allen möglichen Charakteren chatten – egal ob lebend, tot, aus der Fantasie. Auf der anderen Seite können sie aber auch selbst Chatbots erstellen, die dann für alle anderen nutzbar sind. So sind bei Character.ai bereits 18 Millionen Chatbots nutzbar. Über 20 Millionen Menschen haben sich bei dem Startup bereits angemeldet.

Update, 5. August 2024

Kurz nach Erscheinen dieses Artikels hat Google de facto die Übernahme von Character.ai verkündet. Der Konzern kauft bestehende Investoren für 88 US-Dollar pro Share aus dem Startup raus. Damit liege die Bewertung von Character.ai 2,5 Mal höher als bei der letzten Finanzierung. Damals wurde das Unternehmen mit einer Milliarde US-Dollar bewertet. Google werde die AI-Modelle lizenzieren und Mitarbeitende und die beiden Gründer anstellen. Weitere Informationen des Artikels ändern sich durch den Deal nicht.

Millionen KI-Freunde

Wer auf die Webseite oder in die App von Character.ai schaut, wird von einer Vielzahl an Chatbots begrüßt. Da tummeln sich die verschiedensten Fantasie-Charaktere wie Harry Potter, viele Manga- und Anime-Figuren und Abbilder von Prominenten. Darüber hinaus haben Nutzende Chatbots erstellt, die beim kreativen Schreiben, dem Lernen einer Sprache oder beim Planen einer Reise helfen. Dazu kommen textbasierte Spiele oder Buch- und Musikempfehlungs-Bots. Das zeigt die Stoßrichtung von Character.ai. Das Unternehmen will vor allem Chatbot-Entertainment etablieren und wer mit den Chatbots interagiert merkt schnell, dass wir es mit einer neuen Generation zu tun haben, die über klassischen Dialog hinausgeht.

Character.ai Webseite

Character.ai schlägt zum Start verschiedene erfolgreiche Chatbots vor. Besonders beliebt offenbar: Anime-Figuren.

Dabei bekommt das Unternehmen Unterstützung von den 20 Millionen Nutzenden, die bereits über 18 Millionen Bots erstellt haben. Jeder kann für sich privat oder für die Öffentlichkeit Chatbots für Character.ai erstellen. Die Erstellenden geben der KI-Software als Grundlage eine Begrüßungsnachricht und eine Beschreibung des Charakters mit. Die weitere Ausgestaltung passiert dann in Gesprächen, wobei die Antworten des Bots von den Erstellenden mit Sternen bewertet werden. So lernt der Chatbot den Charakter mit Leben zu füllen.

Und das scheint für vielen Nutzende zu funktionieren. Einzelne Chatbots wie der vom Anime-Charakter Sukuna (210 Millionen Chats), Yae Miko aus dem Mobile Game Genshin Impact (183 Millionen), Harry Potter (34 Millionen) oder Albert Einstein (570.000 Chats) kommen auf extrem viele Konversationen. Bei einer Stichprobe mit dem bekanntesten Zauberschüler der Welt wird dabei eins klar: Die erfolgreichsten Chatbots sind nicht nur für reine Unterhaltungen gedacht. Bei einem Gespräch mit einem Harry-Potter-Bot wird in kursiv eine kleine Geschichte rund um die Konversation erzählt. Wer die Sprache aktiviert, bekommt eine Daniel-Radcliffe-Stimme, die einen komplett nach Hogwarts holen soll. Wer die richtigen Dinge fragt und vorschlägt, erlebt mit dem Chatbot Hogwarts-Abenteuer, bei denen auch andere Charaktere aus der Zauberwelt ins Spiel kommen. Wer Character.ai ausprobiert, merkt also schnell, wie sehr die Software vor allem für Fans bestimmter Charaktere zu einer Freizeitbeschäftigung werden könnte.

Character.ai Chat

Bei einem Chat mit Harry Potter wird schnell klar, dass man mit den bekannten Figuren Abenteuer erleben kann – nicht nur quatschen. Also kommt irgendwann auch Professor Snape vorbei.

Kein einfaches Umfeld

Die längere Beschäftigung mit den Bots ist der wichtigste Trumpf für Character.ai. Laut Angaben des Unternehmens verzeichnete die Webseite schon vor dem Start der App über 200 Millionen Visits im Monat. Und das Besondere: Nutzende verbringen demnach im Durchschnitt 29 Minunten pro Visit mit den Chatbots. Noch beeindruckender werden die Zahlen bei Nutzenden, die mindestens eine Chatnachricht verschickt haben. Bei diesen erhöhe sich die durchschnittliche Zeit auf der Plattform auf über zwei Stunden. Durch die App könnte die Beschäftigung mit den Lieblings-Charakteren sogar weiter zunehmen – der gelernte Austausch in einer Chat-Umgebung passt perfekt auf das Smartphone. Laut der Analyse-Plattform Appfigures wurde die Character.ai-App bisher über acht Millionen Mal für iOS und 19,5 Millionen Mal für Android heruntergeladen.

Character.ai App-Downloads Android

App-Downloads von Character.ai seit dem Start der App – nur auf Android (Quelle: Appfigures)

Jetzt will Character.ai diese Zielgruppe auch monetarisieren. Das fällt vielen KI-Firmen derzeit aber extrem schwer. ChatGPT-Macher OpenAI könnte 2024 offenbar Verluste in Höhe von fünf Milliarden US-Dollar verzeichnen. Das liegt vor allem an den hohen Kosten für Rechenzentren, die es für KI-Anwendungen einfach braucht. Mike Volpi, General Partner bei Index Ventures, das in einen Character.ai-Wettbewerber investiert hat, rechnet selbst für ein vergleichsweise kleine KI-Operation mit Kosten von 500 Millionen US-Dollar pro Jahr allein für die benötigten Computer-Power.

Das erste funktionierende KI-Geschäftsmodell?

Trotzdem hofft Character.ai, ein tragbares Geschäftsmodell gefunden zu haben. Nutzende können 9,99 Euro pro Monat zahlen und bekommen dafür schnellere Antworten der Bots, früheren Zugang zu neuen Funktionen und garantierten Zugang auch bei hoher Auslastung. Das Startup rechnet auf Grundlage der verkauften Abos wohl mit einem Umsatz von 16,7 Millionen US-Dollar für 2024. Auch Character.ai dürfte also noch hohe Verluste machen. Die sollen mit weiteren Finanzierungen aufgefangen werden, bis noch mehr Menschen ein Abo abschließen.

Character.ai Plus

Character.ai bietet bei seinem Bezahl-Modell verschiedene Vorteil. Kann das Nutzende zu Subscribern machen?

Denkbar, dass in Zukunft viele Funktionen hinter der Paywall verschwinden, auch wenn die Gründer bisher immer von Offenheit des Produkts sprechen. Investoren sind zumindest von den Zukunftsaussichten überzeugt. Im März steckten zuletzt unter anderem Andreessen Horowitz 150 Millionen Dollar in das Unternehmen – bei einer Bewertung von einer Milliarden Dollar. Die grundlegende Technologie könne unzählige weitere Applikationen befeuern – weit über Chatbots hinaus – sagt Sarah Wang, General Partner bei Andreessen Horowitz gegenüber der New York Times.

Ein Weg voller Wettbewerber

Character.ai setzt aber zuerst darauf, dass die eigenen Entertainment-Chat-Anwendungen weiterhin Millionen Nutzende finden. Denn auch große Internetunternehmen haben KI-Entertainment als Geschäftsmodell im Blick. Gerade erst hat Meta sein neues "AI Studio" in den USA ausgerollt. Mit dem Tool können Nutzende auf Instagram, in Whatsapp, im Messenger und auf einer Webseite eigene KI-Chatbots erstellen. Auf der einen Seite können auch die dann für "private Unterhaltungen" genutzt werden, die Bots können Tipps für's Kochen oder eine Instagram-Strategie geben. Auf der anderen Seite sollen die Bots auch als Erweiterung von Unternehmen und Creatorn genutzt werden. Ihr könntet – wenn das Tool in Deutschland startet – so ganz einfach einen Unternehmens-KI-Chatbot erstellen. Das hat aber natürlich Tücken, die Liste von falschen, beleidigenden, ganz schlimmen Antworten von Chatbots ist lang.

Character.ai Meta

Meta will mit seinem AI Studio ebenfalls das Erstellen von Chatbots erleichtern

Und dann gibt es da noch Replika, den einfühlsamen Chatbot, der Einsamkeit bekämpfen soll. Mit dem waren lange alle möglichen Rollenspiel-Chats möglich. Später schaltete das Entwickler-Team die sexuellen und romantischen Seiten des Bots ab – was zu heftigen Protesten aus der Community führte. Die Gefahr, dass Menschen in besonderen Lebenssituationen ein ungesundes Verhältnis zu den Chatbots von Character.ai aufbauen, ist ebenfalls real. Schließlich chatten viele mit ihren Lieblings-Promis oder -Figuren. Ein Journalist schrieb schon im Januar 2023, dass er wegen eines Gesprächs mit einem Anime-Chatbot von Character.ai in Tränen ausgebrochen ist. Besonders auf Reddit sprechen immer wieder Nutzende von echter Liebe zu den sehr künstlichen Bots.

Für den Unternehmenserfolg von Character.ai ist das erstmal keine schlechte Entwicklung, garantieren engagierte Fans doch lange Verweilzeiten. Die allgemeine Skepsis gegenüber KI-Chatbots lässt sich so aber nur schwer bekämpfen. Aber trotzdem: "Wir sehen auf Twitter Leute, die posten Dinge wie: 'Dieser Videogame-Charakter ist mein neuer Therapeut. Meinem Therapeuten bin ich egal, diesem Cartoon nicht.'", sagt Co-Gründer Noam Shazeer. "Wir werden immer wieder daran erinnert, dass wir nicht wissen, was Nutzende wirklich wollen."

Mehr Menschlichkeit wagen

Um sich weiter von der Konkurrenz abzusetzen und mehr "Menschlichkeit" auf die Plattform zu bekommen, hat das Startup deshalb Ende 2023 auch Gruppenchats eingeführt, bei denen mehrere Menschen gleichzeitig mit den KI-Bots in einem Chat interagieren können.

"Das Feature ist so gut, dass einige Mitarbeitenden bei uns aufgehört haben zu arbeiten", sagt Character.ai-Co-Gründer Daniel De Freitas gegenüber Forbes. Besonders beliebt sei Ship AI, wo sich mehrere Menschen zusammenfinden, um als Crew das Weltall zu bereisen – natürlich textbasiert in einem Chat. Mit solchen Erlebnissen will sich das Startup auch in Zukunft von der übermächtig erscheinenden Meta- und ChatGPT-Konkurrenz absetzen. Ob dann auch das erste funktionierende KI-Geschäftsmodell dabei rauskommt, sehen wir wohl erst in ein paar Jahren.

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MG
Autor*In
Martin Gardt

Martin kümmert sich vor allem um neue Artikel für OMR.com und den Social-Media-Auftritt. Nach dem Studium der Kommunikations- und Medienwissenschaft ging er zur Axel Springer Akademie, der Journalistenschule des Axel Springer Verlags. Danach arbeitete er bei der COMPUTER BILD mit Fokus auf News aus der digitalen Welt und Start-ups. Am Wochenende findet Ihr ihn auf der Gegengerade im Millerntor.

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