Wie der Staat beim größten Steuerraub der Geschichte versagt – die frühere Cum-Ex-Ermittlerin Anne Brorhilker rechnet ab
Der Staat wurde um mehrere Milliarden Euro betrogen. Warum holt man sich das Geld nicht entschlossen zurück?
Es ist der größte Steuerbetrug in der deutschen Geschichte: Cum-Ex. Über Jahre ließen sich Banken & Co. Steuern erstatten, die sie nie gezahlt hatten und verursachten damit einen Schaden in Milliardenhöhe. Als Staatsanwältin brachte Anne Brorhilker etliche Täter*innen vor Gericht und wurde so zur prominentesten Kämpferin für Steuergerechtigkeit. Doch dann schmiss sie ihren Job hin, um zu einer NGO zu wechseln. Wie konnte das passieren?
Irgendwie wünscht man sich, dass sie das gerade nicht gesagt hätte. Weil es natürlich all jene triggern muss, die sowieso überzeugt davon sind, dass der deutsche Staat nichts mehr zustande bringt. Aber was hilft es, so zu tun, als sei alles in Ordnung gewesen? Immerhin hat Anne Brorhilker jahrelang selbst erleben müssen, wie es dem Staat an genau jener Kraft mangelt, um jene in die Schranken zu weisen, die sich auf Kosten der Allgemeinheit bereichern wollen. Und deswegen braucht es diese Geschichte eben doch. Im OMR Podcast spricht die heutige Geschäftsführerin der Nichtregierungsorganisation Finanzwende...
...über alltägliche Probleme im Staatsdienst: "2014 hatte ich so ein kleines Druckerchen auf dem Tisch. Man erinnert sich zurück, der konnte so ganz langsam fünf Seiten in einer Stunde drucken. Aber das waren 14 Länder und es waren glaube ich 280 Beschlüsse, die ich erwirken musste, mit jeweils 25 Seiten. Also das war ein Ding der Unmöglichkeit. Dann habe ich beim Landeskriminalamt gefragt, ob die vielleicht irgendwie ein besseres Gerät hatten, weil in der ganzen Staatsanwaltschaft hatten wir das nicht. Also hätte ich jetzt nicht da fragen können, wäre ich daran gescheitert, dass ich das Zeug sich ausdrucken konnte. Naja, und dann beim Landeskriminalamt hatten die zum Glück ein Profi-Gerät und da hab ich dann halt 14 Tage in der Abstellkammer gestanden und immer gedruckt, was das Zeug hält und getackert und in Kartons gepackt und dann diese riesen Kartons alle zum Ermittlungsrichter gebracht, damit die Beschlüsse erlassen wurden."
"Die Verwaltung ist zu schwach aufgestellt"
...über ihren ersten Cum-Ex-Fall: "Das Bundeszentralamt war schon eine Weile mit dem Thema beschäftigt, hatte sich da auch schon eingearbeitet und hat mir auch das Prinzip erklärt. Ich muss allerdings auch sagen, dass ich erstmal nichts verstanden habe, als die uns das alles auf Power-Point-Folien präsentiert haben. Es war alles so gespickt mit technischen Begriffen, dass es erstmal an mir vorbeigerauscht ist. Und dann habe ich das abends noch mal mit nach Hause genommen, habe mir das ganz in Ruhe angeguckt und mir so eine Ablauf-Skizze gemacht: Was passiert als erstes, was als zweites und was als drittes? Und als ich dann diese Skizze so vor mir hatte, dachte ich plötzlich: Ach Mensch, das ist ja genauso wie die Umsatzsteuerkarusselle. Und die kannte ich schon."
...warum die Probleme bekannt sind, aber weiterhin existieren: "Es gibt eine klare Rechtsprechung. Man sollte also meinen, wenn man rational wäre, dass man alle Ressourcen mobilisiert und sagt: Mensch, das schadet uns so derartig, da gehen wir jetzt ran. Aber es passiert nicht. Die Verwaltung ist an dieser Stelle zu schwach aufgestellt. Und mit Verwaltung meine ich nicht nur die Justiz, sondern genauso die Finanzverwaltung und auch die Polizei. Wir haben überall die gleichen strukturellen Mängel in ganz Deutschland. Wir haben zu wenig Leute sitzen an den Stellen, die dafür zuständig sind. Ein einziger Betriebsprüfer muss beispielsweise mehrere Investmentbanken prüfen. Ja, herzlichen Glückwunsch. Das kann ja nicht funktionieren. Wir hatten auch bei der Staatsanwaltschaft Köln jahrelang viel zu wenig Personal. Wir konnten eigentlich gar nicht diese Ermittlungsschritte gehen, die wir gehen mussten. Wir konnten lange Zeit beispielsweise keine Banken durchsuchen, weil wir schlichtweg keine Leute hatten."
Finanzwende: Der Gegenpol der Finanz-Lobby
...warum sie nun versucht, das System von außen zu ändern: "Ein Staat muss in der Lage sein, gegen solche Täter vorzugehen. Sonst werden wir diesem Grundgesetz, der im Artikel 3 des Grundgesetzes steht, nämlich dass vor dem Gesetz alle gleich sind, ja nicht gerecht. Und das liegt eben an bestimmten Rahmenbedingungen. Die Ermittlungsgruppen saßen beispielsweise in Hessen, manche in Bayern, manche in Nordrhein-Westfalen und hatten alle unterschiedliche Vorgaben ihrer Datenschutzbeauftragten. Die einen durften die E-Mails verschlüsseln, die anderen durften sie nicht verschlüsseln. Das hatte zur Folge, dass ich nicht eine E-Mail an alle schreiben konnte. Wir konnten keine Videokonferenzen machen, weil die einen nur Skype machen durften, bei den anderen war Skype verboten und die dritten hatten gar keine Videokoferenzanlage. Wie soll man denn da ermitteln? Ich habe gesehen, dass wir daran nichts ändern werden, wenn alles so bleibt, dass wir immer nur die kleinen Fische kriegen und nicht die großen. Und das kann man nur ändern, wenn man außerhalb des Systems ist. Von innen verändert sich da gar nichts."
... über ihre Mission bei der NGO Finanzwende: "Finanzwende ist eine Organisation, die von ganz unterschiedlichen demokratischen Parteien unterstützt wird. Wir haben Unterstützer*innen aus allen demokratischen Parteien. Die Ansichten zu Migrationspolitik und Co. sind unter unseren Fellows völlig unterschiedlich, aber in der Sache Finanzpolitik, da sind sich alle einig und das finde ich wichtig, weil sonst können wir auch nichts verändern. Ich finde es ganz wichtig in der Sache zu arbeiten, das heißt, den Pseudo-Argumenten der Finanzbranche auch etwas entgegenzusetzen, um eben auch Politiker*innen zu ermöglichen, überhaupt mal eine andere Position zu hören. Das ist mir wirklich sehr wichtig, weil ich ja auch selber erlebt habe, wie Beeinflussung husionieren kann, wenn da immer eine Seite sendet und von der anderen Seite nichts zu hören ist."
Im OMR Podcast spricht Anne Brorhilker außerdem darüber, warum ihr von ihrem eigentlichen Berufswunsch abgeraten wurde. Außerdem verrät sie, was sie von der Behauptung von Ex-Kanzler Olaf Scholz hält, er könne sich an entscheidende Gespräche mit Bankern nicht mehr erinnern – und ob sie im Sinne der Öffentlichkeitsarbeit auch bei einer Show wie "Let's dance" mitmachen würde.