Machtprobe im Reich der Mitte: Umgehen chinesische Digitalkonzerne Apples Tracking-Opt-in?

Steht damit ATT noch vor der Einführung möglicherweise auf der Kippe? – Apple bestreitet dies.

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Der chinesische Branchenverband China Advertising Association (CAA) testet offenbar eine Methode, mit der App-Entwickler im iOS-Umfeld Apples angekündigten Tracking-Opt-in-Zwang umgehen und Nutzer weiterhin App-übergreifend nachverfolgen können sollen. Was auf Anhieb nach nischigem Branchenthema klingen mag, birgt in Wirklichkeit enorme Brisanz. Denn Apples „App Tracking Transparency“ (ATT) könnte für die nahezu gesamte Digitalwirtschaft massive Folgen haben. Und in der CAA sind offenbar große chinesische Digitalfirmen wie Bytedance (u.a. Tiktok) und Tencent (u.a. Wechat) organisiert. Einige Branchenexperten glauben, dass der Konfrontationskurs der chinesischen Digitalriesen ATT nun sogar noch vor Einführung kippen könnte. OMR erklärt die Hintergründe und entwirft verschiedene Zukunftsszenarien.

In Mobile-Marketing-Foren und -Slack-Gruppen hatten in den vergangenen Wochen bereits entsprechende Gerüchte kursiert: Die chinesische Regierung und chinesische Firmen planten eine Alternative zu Apples „Identifier for Advertisers“ (IDFA), die aber offenbar gegen Apples Richtlinien verstoße. Mittels IDFA können Werbetreibende Nutzende App-übergreifend identifizieren, um daraufhin ihre Werbemaßnahmen optimieren und personalisieren zu können. Bei der letztjährigen Ausgabe von Apples hauseigener Entwicklerkonferenz WWDC hatte der Konzern aus Cupertino jedoch bekanntgegeben, dass Werbetreibende im Rahmen von ATT künftig die Erlaubnis der Nutzenden einholen müssen, bevor sie diese nachverfolgen (und auch außerhalb der eigenen App auf deren IDFA zugreifen) dürfen („Hat Apple Mobile Tracking bei iOS beerdigt? Was der Datenschutz-Move für Marketer bedeutet“).

Zwei der größten Digitalkonzerne der Welt testen CAID

Wie die Financial Times nun enthüllte (Paywall), ist an den Gerüchten offenbar etwas dran: Die CAA (die laut einer Pressemitteilung 2.000 Mitglieder verzeichnet) testet gerade die so genannte „China Advertising ID“ (CAID). Laut dem FT-Bericht soll Bytedance in einer unternehmensinternen Broschüre CAID als Alternative zu Apples IDFA aufgeführt haben. Gegenüber der Zeitung sollen außerdem anonyme Quellen bestätigt haben, dass Tencent und Bytedance die Methode testen. Beide Firmen gehören zu den größten Digitalkonzernen nicht nur Chinas, sondern der gesamten Welt. Bytedance soll bereits im November 2018 angeblich 800 Millionen Nutzende erreicht haben (eine jüngere Zahl ist nicht bekannt), bei Tencent verzeichnet alleine der Messenger Wechat weltweit mehr als 1,2 Milliarden Nutzer.

Gegenüber der FT soll die CAA erklärt haben, dass CAID nicht gegen Apples Datenschutzrichtlinien verstoße, die Lösung aber aktuell noch nicht offiziell implementiert worden sei und der Verband auch mit Apple kommuniziere. Die FT berichtet, dass CAID aktuell in einer kostenlosen Demophase getestet werde. Später soll die Nutzung aber offenbar Gebühren kosten. Den Nutzungsbedingungen, die über eine CAID gewidmete Sektion der CAA-Website abrufbar sind (allerdings nur auf chinesisch) ist zu entnehmen, dass die Höhe der Gebühren von der Menge der „API-Calls“, also der Schnittstellen-Anfragen abhängt.

Der Workaround verstößt gegen Apples Richtlinien

Nachdem der Bericht der Financial Times erschienen war, kursierten über Twitter und andere Social-Media-Plattformen PDFs mit detaillierteren Beschreibungen zu CAID. Eine davon war über den Webspace des chinesischen Tracking-Dienstleister TrackingIO herunterladbar. Mittlerweile ist die Datei dort gelöscht; sie ist jedoch noch über die Seite Archive.org abrufbar. Diverse Mobile-Marketing-Experten interpretierten das PDF dahingehend, dass für den CAID die so genannte Fingerprinting-Methode genutzt werde. Bei Fingerprinting wird versucht, Nutzer auf Basis ihrer Geräte-Merkmale (welche Version des Betriebssystems, welche Apps installiert, etc.) wieder zu identifizieren. In dem PDF heißt es, CAID verzeichne eine 96-prozentige Trefferquote.

Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass CAID gegen Apples Richtlinien verstößt. In einem FAQ-Bereich einer Infoseite von Apple für Entwickler heißt es auf die Frage: „Kann ich einen anderen Identifier als IDFA […] nutzen, um einen Nutzenden nachzuverfolgen?“ – „Nein. Sie müssen mittels dem App-Tracking-Transparency Framework die Erlaubnis des Nutzenden einholen, ihn nachverfolgen zu dürfen.“ Gegenüber OMR erklärte ein Apple-Sprecher: „Die Bedingungen und Richtlinien des App Stores gelten gleichermaßen für alle Entwickler rund um die Welt, Apple eingeschlossen. Wir sind fest davon überzeugt, dass Nutzende um Erlaubnis gebeten werden sollten, bevor sie getrackt werden. Apps, die die Entscheidung der Nutzenden missachten, werden gesperrt.“

Den westlichen Tech-Größen drohen Umsatzeinbußen durch ATT

Die Vorgänge in China sind auch deswegen so brisant, weil Apples ATT-Offensive wohl enorme wirtschaftliche Folgen für die App Economy haben wird. Die Betreiber der Dating-App Bumble hatten vor ihrem vor wenigen Wochen erfolgten Börsengang in ihrem IPO-Prospekt die Schätzung abgegeben, dass höchstens 20 Prozent der Nutzenden App-Betreibern die Erlaubnis zum Tracking erteilen werden. Der Mobile-Attribution-Anbieter Appsflyer berichtet gar, dass einige App-Entwickler den ATT-Dialog zum Einholen der Tracking-Erlaubnis eingebettet haben, bevor dieser noch offiziell ausgerollt wurde – und 99 Prozent der Nutzenden hätten die Erlaubnis verweigert.

Wenn digital Werbung Nutzer nicht mehr tracken kann, ist sie schlechter optimierbar und ihre Wirkung schlechter nachweisbar – und dadurch möglicherweise weniger wert. Dementsprechend könnten große Werbeplattformen und App-Entwickler durch ATT weniger Geld einnehmen. Mobile-Experte Eric Seufert rechnete im Januar in einem Blog-Artikel vor, dass Facebook durch Apples Datenschutzverschärfungen im ersten Quartal nach deren Einführung möglicherweise sieben Prozent weniger Umsatz erwirtschaften könnte.

Facebook fährt millionenschwere Kampagne

Wenig erstaunlich also, dass der Social-Riese in den vergangenen Wochen und Monaten eine massive Kampagne gefahren hat, um gegen Apples Änderungen Stimmung zu machen und Verbündete zu gewinnen. Erst schaltete der Konzern in mehreren großen US-Zeitungen (New York Times, Washington Post und Wall Street Journal) großformatige Anzeigen. Die Botschaft: Apples Änderungen schadeten kleinen und mittleren Unternehmen weltweit. Danach legte Facebook mit einer Kampagne auf den eigenen Plattformen nach, bei denen real existierende KMU als Testimonial auftreten.

Dabei ist ATT noch nicht einmal ausgerollt, obwohl Apple das „Framework“ bereits vor einem Dreivierteljahr angekündigt hat. Zuletzt ist ATT Gerüchten zufolge immer wieder verschoben worden. Ein Apple-Sprecher erklärte gegenüber OMR, dass ATT mit der Auslieferung der Version 14.5 von Apples Betriebssystem iOS ausgerollt werden soll, und zwar „im Frühling“. Allzu viel Zeit bleibt der App Economy also nicht mehr, sich auf die „Tracking Apokalypse“ vorzubereiten.

„Die großen Firmen werden das Risiko nicht eingehen“

Welche Szenarien sind nun in Bezug auf CAID denkbar? Eines könnte sein, dass der chinesische Workaround von den großen Digitalfirmen doch nicht final implementiert wird. Damit rechnet beispielsweise Pan Katsukis, CEO und Mitgründer des Berliner Mobile-Marketing-Dienstleisters Remerge (hier im OMR Porträt). „Ich glaube, dass die meisten großen Firmen nicht den Schritt gehen und riskieren werden, aus dem App Store gekickt zu werden. Mitbewerber warten nur auf diese Gelegenheit, und davon gibt es einen Haufen in China“, so Katsukis gegenüber OMR. „Ehrlicherweise brauchen Bytedance und Tencent das Cross-App-Tracking auch gar nicht so dringend. Sie verfügen über genügend First-Party-Daten – warum also sollten sie das riskieren?“

Ein anderes Szenario könnte sein, dass die chinesischen Digitalgrößen CAID implementieren – und Apple sie entgegen anderslautender Ankündigungen gewähren lässt. Einige Branchenvertreter halten das offenbar für denkbar, weil Apple in China schon jetzt mit anderen Maßstäben misst als in der westlichen Welt: „Tencent wird erlaubt, einen In-App-App-Store für seine Mini-Apps zu betreiben, im Widerspruch zu den iOS-Richtlinien, und das bedeutet natürlich nicht automatisch, dass Facebook das auch darf“, schreibt Ben Thompson bei Stratechery (Paywall).

Wird Apple auf Umsätze aus China verzichten?

Es ist jedoch kaum vorstellbar, dass andere westliche Tech-Konzerne die Benachteiligung durch ATT klaglos hinnehmen, während chinesische Konkurrenten das nicht tun müssen. Entweder also nimmt Apple das Risiko in Kauf, von Facebook oder anderen Gegenspielern vor Gericht gezerrt zu werden – oder sie lassen auch westlichen Unternehmen eine Hintertür, womit ATT quasi tot wäre.

Das alternative Szenario: Apple geht wie angekündigt gegen App-Entwickler, die CAID verwenden, vor und wirft deren Apps aus dem App Store. Das könnte für den Konzern aus Cupertino spürbare Umsatzverluste mit sich bringen. Der chinesische Markt ist aus vielerlei Gründen für Apple relevant – nicht nur wegen der Umsatzbeteiligung an den App-Einnahmen der großen chinesischen Konzerne, sondern auch als Absatzmarkt für die eigene Hardware. Im vergangenen Quartal machten die Verkäufe in China fast 20 Prozent von Apples Gesamtumsatz aus.

„Apple steckt in der Zwickmühle“

Wenn Apple dem offenen Konflikt mit der chinesischen Digitalwirtschaft nicht aus dem Weg geht, läuft das Unternehmen damit aber auch Gefahr, dass die chinesische Regierung sich einmischt und gegen Apple vorgeht – mit Sanktionen, zusätzlichen Zöllen o.ä. Das wäre für Apple riskant, weil ein beträchtlicher Anteil der Bauteile von Apples Hardware-Produkten aus China stammt. Foxconn, der wohl größte Produktionspartner von Apple, ist ein chinesisches Unternehmen.

Mobile-Adtech-Experte Eric Seufert glaubt nicht daran, dass Apple den chinesischen Firmen in diesem Fall eine Sonderbehandlung gewährt. Er sieht CAID als Desaster für Apple an; das Unternehmen befinde sich „between a rock and a hard place“, also in der Zwickmühle. Möglicherweise wird Apple-Chef Tim Cook ja bald ein persönliches Gespräch mit Vertretern der chinesischen Wirtschaftswelt suchen. Schon am 20. März soll er an dem vom chinesischen Entwicklungsministerium veranstalteten „China Development Forum“ teilnehmen.

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Roland Eisenbrand
Autor*In
Roland Eisenbrand

Roland ist seit mehr als zehn Jahren als Journalist in der Digitalbranche aktiv. Seit 2014 verantwortet er als Head of Content (und zweiter Mitarbeiter) alle inhaltlichen Komponenten von OMR, darunter vor allem den OMR Blog und redaktionelle Arbeit rund um das OMR Festival.

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