Fett im Geschäft: Wie die Yazio-Gründer ihre Abnehm-App zum Weltmarktführer machen wollen
Die Weight-Loss-App aus Erfurt bringt es auf bis zu 150.000 tägliche Downloads – der globale Erfolg ist das Ergebnis einer konsequenten Content-Strategie
- Millionenschweres Marketingbudget
- Remote-Kultur und jede Menge Freelancer
- Über 150.000 App-Downloads an einem Tag
- Starke Facebook-Gruppen und eine engagierte User-Community
- Das Content-Monster hinter der Homepage
- Fleiß und Effizienz statt Startup-Lifestyle
Deutscher Weltmarktführer aus der Provinz. Das klingt nach Autoteilen, Betonpumpen, Tunnelvortriebsmaschinen. Aber nicht nach einem Startup aus Erfurt. Doch die beiden Yazio-Gründer Florian Weißenstein und Sebastian Weber haben vorgemacht, dass man mit Mittelstands-Mindset auch aus dem Hinterland heraus weltweit Spitzenplätze in App-Stores erobern kann. Aber wie genau kriegen sie das hin?
„Wir machen nichts Besonderes“, sagt Weißenstein gleich mehrfach im Gespräch mit OMR. So richtig glauben will man es dem Yazio-Co-Founder nicht. Denn die Story seines Startups ist schon besonders.
Ende 2008 launchten die Erfurter ihre Website yazio.de als „Ernährungs- und Gesundheitsportal mit einer umfangreichen Kalorientabelle“. Eine Art studentischer SEO-Case, der zur Basis für ihr heutiges Unternehmen wurde. Auf der Website gab es Ernährungstipps, und die User wurden aufgefordert, über ein standardisiertes Formular Nähwerte von Lebensmitteln zu erfassen. So entstand eine umfassende, strukturierte Datenbank. Von Weißensteins Faszination für das Thema SEO zeugen Einträge auf seinem damaligen Blog.
Nachdem Weißenstein und Weber ihr Studium an der TU Ilmenau 2011 mit einem MBA abgeschlossen hatten, wurde 2013 aus dem Hobby-Projekt dann eine richtige Firma. Die Gründer starteten Yazio als App-only-Ernährungstagebuch neu. „Unsere Nutzerzahlen waren damals nicht gigantisch und auch nur auf Deutschland beschränkt. Von daher war es uns nicht wirklich wichtig, unbedingt die Nutzer mitnehmen zu müssen“, erklärt Weißenstein das kalkulierte Risiko hinter dem Pivot.
Millionenschweres Marketingbudget
Die Entscheidung sollte sich als richtig erweisen: Mobile wurde immer bedeutender und die App-Store-bedingte internationale Verfügbarkeit von Yazio bildete die Basis für das folgende Wachstum. Gepusht wird die App mit einem jährlichen Marketing-Budget im siebenstelligen Euro-Bereich. Genauer will Weißenstein nicht werden, aber auch hier: „nichts Besonderes“.
Aber offensichtlich das Richtige. Der Gründer reklamiert inzwischen die „klare Marktführerschaft“ in Deutschland und sieht seine App auch in Frankreich und Polen vorn. Nur auf den englischsprachigen Märkten tue man sich bislang schwer, zu der dem Sportartikelhersteller Under Armour gehörenden App My Fitness Pal aufzuschließen.
Das App-Analytics-Tool Prioridata bestätigt Weißensteins Aussagen. Dort sieht man auch, dass Yazio in Brasilien, Spanien, Russland und weiteren osteuropäischen Märkten in der Kategorie „Health & Fitness“ ganz vorne mitspielt. Darum erscheint es auch plausibel, wenn Weißenstein über seine unternehmerischen Pläne sagt: „Ganz klar: Wir wollen weltweiter Marktführer werden.“
Das Besondere hinter diesem Anspruch steckt weniger in der App selbst, bei der User ihr Zielgewicht eingeben, ihre Ernährung tracken und kostenpflichtige Zusatzdienste wie Rezeptvorschläge und Coaching-Funktionen abonnieren können. Wirklich besonders an Yazio ist das Unternehmen hinter der App: Weißenstein und Weber haben ihr Startup komplett ohne Investoren aufgebaut und Wert auf schmale Strukturen gelegt. Und die Gründer ziehen diese Tugend bis heute durch. Die Kernmannschaft besteht aus 35 Leuten, davon fünf Werkstudenten. Und nur ein Teil von ihnen sitzt im Yazio-Büro in einer umgebauten Kirche, knapp zehn Fußminuten vom Erfurter Hauptbahnhof. Der Rest arbeite remote über ganz Deutschland verteilt.
Remote-Kultur und jede Menge Freelancer
Allerdings komme noch eine „zweistellige Zahl“ Freelancer dazu, so Weißenstein – präziser will er auch an dieser Stelle nicht werden. Dafür räumt der Gründer ein, dass Yazio dann doch ein bisschen besonders sein könnte. Er spricht sogar von einer „Superpower“ und meint die konsequente Remote-Kultur seines Startups: Bei Neueinstellungen spiele es keine Rolle, wo die Person lebt, solange der Ort maximal drei Zeitzonen von Erfurt entfernt ist, sagt Weißenstein. „Dadurch, dass wir ortsunabhängig sourcen, können wir uns einfach die besten Leute aussuchen und haben wenig Fluktuation im Team.“
Die schlanke Struktur erlaube es, schnell zu reagieren, sobald Smartphones und Fitnesstracker neue Schnittstellen bereitstellen, sagt Weißenstein. Yazios App kann mit diversen Devices und Software von Apple, Fitbit, Garmin, Polar und Samsung verbunden werden. Doch offizielle Partnerschaften unterhalte man mit keinem der Hersteller, erklärt Weißenstein, habe also keinen bevorzugten Zugang zu Neuerungen. Wie sie es trotzdem schaffen, ganz vorne mitzuspielen? „Sobald ein neues Feature kommt, gehen wir die Sache an“, sagt Weißenstein. „It is that easy.“
Wobei, ganz so einfach dürfte es für seine kleine Mannschaft dann doch nicht immer sein. Wenn man eine komplexe App mit derselben Manpower stemmt, die bei Apple oder Amazon womöglich für die Gestaltung eines einzelnen Bedien-Buttons zu Verfügung steht, sind Fuckups unvermeidlich. „Klar haben wir unser Lehrgeld bezahlt“, räumt Weißenstein ein. Zuletzt Anfang des Jahres, als die Nutzer das neue User-Interface der App zerrissen haben.
Bislang zumindest war jedenfalls kein Fehler so fatal, dass er dem Erfolg der App geschadet hätte. Mit konkreten Angaben zu Usern halten sich die Erfurter zurück. Offiziell werden „über 1.000.000 registrierte Nutzer“ genannt. In den Beschreibungen der App-Stores behaupten die Erfurter, zehnmal so viele hätten ihre Vorsätze bereits mit der App erfolgreich umgesetzt. Ganz aus der Luft gegriffen scheinen die Zahlen nicht: In Apples App Store kommt Yazio auf mehr als 100.000 Bewertungen. Im Play-Store von Google sind es annähernd 240.000. Trotz des jüngsten UX-Updates und entsprechend vieler Ein-Stern-Bewertungen bekommt die App mit 4,6, bzw. 4,2 passable Noten.
Über 150.000 App-Downloads an einem Tag
Die Popularität bestätigen auch Daten bei Prioridata. Laut dem Analysetool wurde allein die Android-Version der App an drei Tagen Anfang Januar jeweils über 100.000 Mal installiert. Die iOS-Version brachte es in der Spitze auf 60.000 tägliche Downloads. Plattformunabhängig weist Prioridata eine Verdopplung der Zahlen gegenüber dem Vorjahr aus. Wobei unklar bleibt, wie viele User am Ende die kostenpflichtigen Dienste der App nutzen. Der Play Store führt Yazio immerhin unter den umsatzstärksten Apps. Prioridata schätzt den Umsatz in den vergangenen zwölf Monaten auf beiden Plattformen auf zusammen 8,3 Millionen Dollar.
Unabhängig von der Zahl der Conversions von Free-Usern zu Abonnenten ist Yazio zu einer Abnehm-Marke geworden und steht in Auflistungen entsprechender Apps stets neben (und oft vor) dem US-Vorbild My Fitness Pal sowie lange etablierten Speckweg-Brands wie WW, früher bekannt als Weightwatchers. Da drängt sich die Frage auf, ob Weißenstein seine Marke nicht breiter aufstellen will, das digitale Produkt um handfeste Waren ergänzen, die Marke in Sportstudios und Supermärkte tragen. „Da gibt es sicher spannende Sachen“, sagt Weißenstein. „Aber wir verzichten darauf.“
Der Grund: Solche Deals würden nicht in die Strategie von Yazio passen, so Weißenstein. Die sei komplett auf die App und die internationale Skalierbarkeit aller Neuerungen ausgelegt. Das gelte auch für das Marketing, weshalb Yazio bis auf wenige Einzelfälle nicht mit Influencern kooperiert – zu aufwendig, zu lokal.
Starke Facebook-Gruppen und eine engagierte User-Community
Wirklich nötig hat Yazio die Influencer ohnehin nicht. Zum einen hat die App mit knapp 260.000 Followern eine vorzeigbare eigene Instagram-Reichweite. Bei Facebook betreiben die Erfurter eine Vielzahl länderspezifischer Gruppen, die zusammen auf über 300.000 Mitglieder kommen. Daneben haben Nutzer eigene Gruppen wie „YAZIO Ü40“ gegründet. Die Community dürfte eine entscheidende Rolle für den Erfolg der App spielen.
In den Social-Media-Kanälen spielen die Erfurter regelmäßig Teaser, die zu ausführlichen „Erfolgsgeschichten“ auf der Yazio-Website führen. Diese Storys source man aus der Community, so Weißenstein, wobei immer häufiger User auf sie zukämen, die ihre Abnehm-Story teilen wollten. In jeder Erfolgsgeschichte erklären die Nutzer unter den üblichen Vorher-Nachher-Fotos in zum Teil sehr umfangreichen Fragebögen, wie sie sich durch die App verändert haben: Was hat sie zur Diät bewegt? Wie hat die App sie unterstützt? Was sind ihre Tipps? Die Erfolgsgeschichten sind vertaggt und lassen sich nach Beliebtheit, Altersgruppe, Geschlecht und Motivation – von „Abnehmen“ über „Muskelaufbau“ bis „Zunehmen“ – sortieren. Und irgendwann, so das Kalkül, bleiben Besucher der Yazio-Website dann bei einer Erfolgsgeschichte hängen, die sie zum Nachahmen inspiriert. Dank riesiger Werbebanner am Fuß jeder Seite sind sie dann nur noch einen Klick vom App-Store entfernt.
Je tiefer man in die Website einsteigt, desto klarer wird, dass Yazio stark auf Content und SEO-Optimierung setzt. Unter der Oberfläche von yazio.com versteckt sich eine gigantische Produktdatenbank. Offenbar gibt es hier für alle Produkte, die sich auch in der Yazio-App auswählen lassen, eine eigene Unterseite mit den Nährwertangaben. Darauf ist immer ein Kalorienrechner eingebunden und es gibt Angaben, wie viel körperliche Aktivität es braucht, die Kalorien wieder abzutrainieren. Die bereits erwähnten Erfolgsgeschichten als Absprungstellen in die App Stores werden hier prominent angeteasert.
Das Content-Monster hinter der Homepage
Der Sinn hinter der Content-Flut offenbart sich bei einem Blick in das SEO-Analyse- Tool Sistrix. Yazio rankt hier bei viel gesuchten Begriffspaaren wie den Kombinationen von „Döner“ oder „Bratwurst“ mit „Kalorien“ sowie diversen weiteren Lebensmitteln auf dem ersten Platz. Bei den Anfragen mit hohem Suchvolumen wie „Idealgewicht Berechnung“ und „Idealgewicht berechnen“ rankt Yazio laut Sistrix auf dem ersten beziehungsweise zweiten Platz. Entsprechend hoch dürften die organischen Reichweiten der Kalorientabelle mit ihren Tausenden Unterseiten sowie der unterschiedlichen Tools zur Berechnung von Kalorien oder BMI auf yazio.com sein.
Dazu kommen Unterseiten zu konkreten Produkten diverser Marken, die dann etwa „Vollkorn Spaghetti No.5 Integrale, Barilla“ betitelt sind. Insgesamt seien durch die Yazio-User bereits mehrere Millionen einzelne Lebensmittel erfasst worden, sagt Weißenstein. Dadurch wächst nicht nur die Datenbank der App, sondern es entsteht eine neue Unterseite, die als Funnel für die App fungiert. Und so kommt auch die Zahl von über einer Million monatliche Visits zusammen, die Similar-Web für yazio.com ausweist. Die Kalorientabelle, mit der Weißenstein und Weber vor über zehn Jahren gestartet sind, dürfte bis heute ein zentraler Zulieferkanal für neue Nutzer sein.
Während die Site also immer umfangreicher wird, hätten sich mit der Zeit immer klarere User-Typen herauskristallisiert, so Weißenstein. Die zu zwei Dritteln weibliche Nutzerschaft der App gliedere sich in zwei Hauptgruppen: Zum einen diejenigen, die Yazio zum Abnehmen nutzen würden. Zum anderen User, denen es vor allem um die Rezepte ginge. Liegt es da nicht nahe, die App zu splitten oder spitzere Produkte auf den Markt zu bringen und die Single-Brand-Strategie aufzugeben? Schließlich geht der Trend aktuell zu Nischen-Lösungen.
Die Intervallfasten-Hilfe Fastic aus Dresden etwa, die sich sichtlich von Yazio hat inspirieren lassen. (Aber laut Weißenstein in keiner Verbindung zu Yazio stehe.) Vor nicht mal einem Jahr gestartet, hat sich die inzwischen in der „Health & Fitness“-Rubrik der deutschen App Stores in den obersten Rängen festgesetzt. Man denke über Nischen-Apps nach, so Weißenstein, entsprechende Apps wie auch Freeletics und Runtastic hätten sie im Blick. Konkrete Pläne verfolge man derzeit aber nicht.
Fleiß und Effizienz statt Startup-Lifestyle
Weißenstein macht auch wirklich nicht den Eindruck eines Gründers, der sich vom einmal gewählten Weg abbringen ließe, nur weil rechts oder links eine vermeintliche Opportunity rumliegt. „Wenn ich die populärste Ernährungs-App der Welt mit zehn Leuten bauen kann, dann würde ich das machen“, sagt der Yazio-Mitgründer. Auch wenn es auf dem Weg zur Weltmarkführerschaft offensichtlich doch ein paar mehr Leute braucht, tut sie in Erfurt weiter das, was sie können und was sich bewährt hat.
Zum Schluss erlaubt sich Weißenstein einen kleinen Seitenhieb auf die Startup-Kultur der Metropolen. Er sei selbst mal ein halbes Jahr in Berlin gewesen, wo er einem Freund beim Aufbau von dessen Firma unterstützt habe – und feststellen musste, dass der Vibe dort nicht seine Wellenlänge traf. Man tickt eben doch anders hier in Erfurt beim unbesonderen App-Mittelständler Yazio. „Wir leben eine Arbeitskultur, die durch Fokus und Effizienz geprägt ist“, sagt Weißenstein, „und nicht durch 14 Stunden tägliches Prokrastinieren im Büro.“