Playbook für andere Brands? So geht ein unbekanntes Kartenspiel auf Tiktok viral

Martin Gardt6.4.2021

"We're Not Really Strangers" erreicht mit eigenem Content auf der Plattform Millionen Nutzende – ganz ohne Influencer

We're Not Really Strangers Tiktok-Strategie
Das Kartenspiel "We're Not Really Strangers" feiert aktuell einen Viral-Erfolg auf Tiktok

Wie auch bei Instagram dominieren Beauty- und Modebrands Tiktok – und verzeichnen auf der Hype-Plattform Millionen-Reichweiten. Doch die Geschichte des Kartenspiels „We’re Not Really Strangers“ zeigt, dass auch unbekannte Marken mit abseitigen Produkten Tiktok clever bespielen können. Wir zeichnen nach, wie es das kleine Unternehmen auf über drei Millionen Follower auf der Plattform gebracht hat und was das für die Verkaufszahlen des Kartenspiels bedeutet.

Ein Blick auf den Tiktok-Account von „We’re Not Really Strangers“ zeigt den Erfolg der Marke: drei Millionen Follower, über 90 Millionen Likes. Und das sind ja noch nicht mal die entscheidenden Währungen auf der Plattform. So gut wie jedes Video verzeichnet mindestens 150.000 Aufrufe – einzelne auch zwischen einer und vier Millionen Views. Laut einer Analyse von Nextbrand kommt der Account insgesamt auf über 336 Millionen Views und damit auf mehr als etwa Kylie Cosmetics – und das mit einem einfachen Kartenspiel als Produkt.

Was wird hier gespielt?

Bei „We’re Not Really Strangers“ (WNRS) geht es nicht ums Gewinnen. In einer Art tiefgründigem „Wahrheit oder Pflicht“ (ohne die Pflicht) sollen die Spielenden ihre Beziehung zueinander vertiefen. Das Spiel ist in drei Level aufgeteilt. In der ersten Phase Wahrnehmung (Perception) stellen sich alle gegenseitig Fragen wie „Denkst du, ich war schonmal verliebt?“ oder „Was sagt mein Style über mich aus?“. Im zweiten Level Verbindung (Connection) geht es etwas tiefer in die Gefühlswelt der Spielenden. Hier tauchen Fragen wie „Was war die letzte Lüge, die du deiner Mutter erzählt hast?“ oder „Was ist deine wichtigste Charaktereigenschaft?“ auf. 

Online-Shop "We're Not Really Strangers"

„We’re Not Really Strangers“ verkauft sein Kartenspiel vor allem über den eigenen Online-Shop

Fehlt nur noch die dritte Stufe Reflexion (Reflection): Auf den Karten stehen dann Dinge über den Fragestellenden wie „Was denkst du über meine Stärken?“ oder „Was können wir gemeinsam angehen?“. Eine letzte Karte fordert die Spielenden dann dazu auf, sich gegenseitig handschriftliche Nachrichten zu schreiben, die erst nach dem Spiel gelesen werden sollen. Mittlerweile hat das kleine Team hinter „We’re Not Really Strangers“ mehrere Erweiterung veröffentlicht. Die Themen: Beziehungen, Trennung, Dating, Selbstliebe, Privilegien. Das Spiel selbst kostet 25 US-Dollar, eine Erweiterung zwölf Dollar. Zu Beginn der Pandemie profitiert das Spiel noch von prominenter Unterstützung: Hailey Bieber Zockt WNRS live bei Instagram (wo sie heute 34 Mio. Follower verzeichnet). Andere taten es ihr später nach. Mittlerweile wachsen die Social-Accounts aber vor allem wegen eigener Content-Ideen.

Guerilla-Marketing für günstigen Content

„Das reflektiert, was wir mit dem Spiel erreichen wollen“, sagt Jessica Potts, VP Digital und E-Commerce bei WNRS gegenüber Modern Retail zur Content-Strategie auf den Plattformen. Sie wolle, dass sich auch die Inhalte auf Tiktok und Instagram wie eine Gesprächsgrundlage anfühlen. Dementsprechend selten ist das eigentliche Spiel auf den Accounts des Unternehmens zu sehen. Stattdessen stehen Fragen und Statements, die auch auf den Karten auftauchen, im Mittelpunkt. Die gleiche Strategie hat WNRS übrigens bereits 3,7 Millionen Instagram-Follower eingebracht.

Für „We’re Not Really Strangers“ lassen sich so sehr günstig Clips produzieren. Ein Tiktok mit 3,7 Millionen Views zeigt etwa einfach ein Bettlaken, auf dem per Schatten-Spiel eine Message erscheint. Oft schreibt einfach jemand aus dem Social-Team eine Botschaft auf Fenster-Glas. Andere Ideen: Die Brand klebt Plakate an Wände in der Öffentlichkeit oder sprüht Texte auf Straßen. So verbindet das Unternehmen Guerilla-Marketing-Strategien und Content-Produktion für Tiktok & Co. „Manchmal bekomme ich einfach nachts eine Textnachricht mit einer Idee. Das hauen wir dann auch spontan und schnell raus“, so Jessica Potts. Die Ideenfindung reiche von solchen 5-Sekunden-Produktionen bis zu länger geplanten Aktionen.

Das Thema spielen – nicht das Produkt

Für das Kartenspiel zahlt es sich extrem aus, auf das Thema „Psychische Gesundheit“ zu setzen, statt immer wieder das Produkt in den Vordergrund zu schieben. Anders als viele andere Brands, die auf Tiktok extrem erfolgreich sind, liefert ein Kartenspiel einfach nicht so viele optische Reize wie Mode- oder Beauty-Produkte. Und weil der Content für sich genommen so gut funktioniert, spart sich das Unternehmen teure Influencerinnen, die sonst für die Reichweite von DTC-Brands auf Tiktok unerlässlich sind. Stattdessen sorgen die Tiktok-Fans von sich aus für mehr Aufmerksamkeit – clever angetrieben durch „We’re Not Really Strangers“. Das Unternehmen fordert seine Follower in Posts immer wieder dazu auf, eine Person zu taggen, die mal wieder über einen der Sprüche wie „Gesunde Liebe existiert. Denk daran.“ nachdenken sollte. 

Und weil das Thema vor allem während des Lockdowns so gut ankommt, macht die Brand daraus zusätzlich ein Business. Im Online-Shop gibt es neben dem Spiel Handyhüllen, Hoodies, Jogginghosen, Shirts, Grußkarten und auch den „Hard Conversation Chair“ – einen roten Klappstuhl für ernste Gespräche. Zusätzlich hat WNRS einen SMS-Aboservice für 1,99 US-Dollar im Monat gestartet. Subscriber bekommen dafür täglich Nachrichten mit „erhellenden“ Botschaften oder Infos zu neuen Produkten.

Sales-Push durch Tiktok-Erfolg

„We’re Not Really Strangers“ ist nicht die einzige Brand, die eher ein Thema als ein Produkt auf Tiktok spielt. Schließlich kann nicht jede Marke einen Viral-Hit wie zuletzt die Tiktok-Leggins landen. Wir hatten hier schonmal beschrieben, wie Produkt-zentrierte Kanäle auf der Plattform funktionieren können (Hinweis: Die Produkte müssen abgefahren sein). Die Zielgruppe auf Tiktok gilt aber als extrem kritisch gegenüber offensichtlicher und nicht authentisch auf Tiktok abgestimmter Werbung. Auf dem Kanal des Kerzen-Startups Homesick dreht sich zum Beispiel alles darum, wie man mehr aus einer Kerze herausholen kann – sei es längere Brennzeit oder schöneres Abbrennen. 

Aber was bringt die Strategie dann wirklich für den Verkauf des Produkts – wenn es darum ja eigentlich gar nicht geht. WNRS selbst lässt sich nicht in die Zahlen gucken. Jessica Potts erklärt zumindest öffentlich, dass virale Tiktok-Videos einen merklichen Effekt auf die Verkaufszahlen des Spiels haben. Zuletzt habe ein solcher Reichweiten-Erfolg zu einem Sales-Anstieg von 950 Prozent für eines der Produkte geführt – von einem Tag auf den anderen. 

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Autor*In
Martin Gardt

Martin kümmert sich vor allem um neue Artikel für OMR.com und den Social-Media-Auftritt. Nach dem Studium der Kommunikations- und Medienwissenschaft ging er zur Axel Springer Akademie, der Journalistenschule des Axel Springer Verlags. Danach arbeitete er bei der COMPUTER BILD mit Fokus auf News aus der digitalen Welt und Start-ups. Am Wochenende findet Ihr ihn auf der Gegengerade im Millerntor.

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