500.000 Downloads über Tiktok? Wie Touch Retouch auf Platz 1 der App Stores kletterte

Ein Tiktok-Sound sorgt bei einem Berliner App-Unternehmen für bis zu 300 Prozent mehr Installs

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Nicht bei allen Motiven funktioniert die Retuschier-Version von TouchRetouch ganz genau so, wie sie soll: Tiktok-Nutzerin @christahhh wollte einige Teilnehmerinnen an der US-Reality-Show The Bachelor aus dem Foto entfernen. Ihr Video bekam fast 12.000 Views. Andere TouchRetouch-Videos auf Tiktok generierten sogar achtstellige View-Zahlen.
Inhalt
  1. Eine seit zehn Jahren existierten App ist auf einmal erfolgreich
  2. Hewitts „Tiktok Sound“ geht viral
  3. Neunstellige Views zu nur einem Sound?
  4. Eine sechsstellige Zahl von Downloads alleine durch Tiktok?
  5. Knapp 400.000 US-Dollar zusätzlicher Umsatz?
  6. Die Musikbranche macht es vor

Ist Tiktok nur eine App, auf der sich irgendwelche Teenager Tanz- und Spaßvideos anschauen, und ist die aktuelle Popularität der Plattform nur vorübergehend? Oder ist Tiktok eine fürs Marketing relevante Plattform, über die Marketingmacher den Absatz ankurbeln und Geschäft machen können? Diese Frage wird aktuell in der Medienbranche immer noch kontrovers diskutiert. Das Beispiel eines kleinen Berliner App-Unternehmens zeigt nun, in welchem Maße Tiktok dabei helfen kann, Käufer und Umsätze zu generieren.

„Also wenn Ihr jemals ein richtig gutes Foto habt, Euch darauf aber einige Dinge stören, wie beispielsweise Lichtschalter, – dafür benutze ich diese App namens Retouch. Alles, was Ihr tun müsst, ist sie herunterzuladen, dieses Pinsel-Tool nutzen und ihr könnt buchstäblich alles aus jedem Bild herauslöschen!“ – Diesen Tipp gibt Marianna Hewitt am 8. Januar in einem Video auf ihrem Tiktok-Account. In dem Video ist ein Foto von Hewitt im eleganten Abendkleid zu sehen, aus dem die Influencerin einen Lichtschalter wegretuschiert. An einem weiteren Foto zeigt sie erneut die Fähigkeiten der App. „Ihr könnt auch Leute ausradieren, was wirklich fantastisch ist!“, so Hewitt.

Eine seit zehn Jahren existierten App ist auf einmal erfolgreich

Die App, die Hewitt in ihrem Tiktok-Video vorführt, heißt eigentlich Touch Retouch. Sie stammt von dem mittlerweile in Berlin (davor in Dresden) ansässigem App-Unternehmen Adva Soft. Adva Soft bietet seit vielen Jahren diverse Bildbearbeitungs-Anwendungen im App Store an. Touch Retouch gibt es seit über zehn Jahren. Die App nutzt mittlerweile künstliche Intelligenz, um Fotos mehr oder minder automatisch zu retuschieren. Unter Fotografen und anderen, die Bildbearbeitungs-Software nutzen, ist sie durchaus bekannt und beliebt – im Mainstream der App-Nutzer jedoch bis dahin eher nicht.

Am 12. Januar 2020, also wenige Tage nachdem Hewitt Ihr Video bei Tiktok hochgeladen hat, landet Touch Retouch in den USA, Großbritannien und Deutschland in Apples App Store auf Platz 1 der kostenpflichtigen Apps. Wie ist dieser plötzliche Erfolg zu erklären? Hewitt ist in Social Media durchaus eine relevante Größe. Die 33-jährige Influencerin ist Gründerin des Kosmetikunternehmens Summer Fridays, auf Instagram folgen ihr eine Million Nutzer, auf Tiktok sind es aktuell 61.000. Sollte wirklich dies allein ausgereicht haben, um Touch Retouch innerhalb kürzester Zeit so erfolgreich zu machen?

Die Entwicklung der App Store Ratings von Touch Retouch (Quelle: Priori Data)

Hewitts „Tiktok Sound“ geht viral

Ja und nein. Offensichtlich hat Hewitt es mit ihrem Touch-Retouch-Video auf Tiktok geschafft, auf der „For You“-Page vieler Nutzer zu landen. Dieser Teil von Tiktok ist der erste, den Nutzer sehen, wenn sie die App öffnen. Dort werden ihnen, durch einen Algorithmus personalisiert, Videos präsentiert, die ihnen möglicherweise gefallen, und die häufig auf Tiktok bereits erfolgreich sind. Hewitts Video hat bis heute neun Millionen Views generiert – was vor allem auf die enorme Kraft der „For You“-Page zurückzuführen sein dürfte.

Noch einmal vervielfältigt wurde diese Reichweite jedoch durch eine weitere Besonderheit Tiktoks: Wenn ein Nutzer auf Tiktok ein Video hochlädt, können andere Nutzer zur Tonspur dieses Videos (auf Tiktok „Sounds“ bezeichnet) selbst ein Video drehen. Und das tun im Fall von Hewitts Touch-Retouch-Video viele Tiktok-Nutzer. Fast 24.000 Videos führt Tiktok bislang zu ihrem „Retouch-Sound“ auf.

Neunstellige Views zu nur einem Sound?

Möglicherweise ist es Hewitts je nach Kontext leicht zynisch wirkendes Zitat „You can also erase people, which is amazing!“, das die Kreativität der Tiktok-Nutzer angefacht hat. Einige der Nutzer zeigen, wie sie mit Touch Retouch Ex-Freundinnen oder -Freunde aus Fotos entfernen; Teenagerinnen entfernen mit der App (hoffentlich) augenzwinkernd die Partnerinnen angehimmelter Musikstars wie Shawn Mendes aus Fotos. Andere versuchen, ihren Star mit Touch Retouch quasi zu „entkleiden“.

Einige der so entstandenen Videos haben sogar mehr Views als Hewitts Filmchen. Der 20-jährige Robert Carroll beispielsweise ist mit aktuell 5,8 Milionen Followern auf Tiktok noch einmal eine deutlich größere Nummer als Marianna Hewitt. Sein am 11. Januar zu Hewitts Sound veröffentlichtes Video, in dem er an die 100 Menschen aus dem Hintergrund eines Fotos von ihm selbst entfernt, hat bislang 17,7 Millionen Views auf Tiktok angesammelt. Patrick Ortega hat am 9. Januar ein Video hochgeladen, in dem er den kontroversen Beauty-Influencer James Charles aus einem Instagram-Foto „ausradiert“ – 16 Millionen Views. Ein weiterer Nutzer entfernt einen Ast, auf dem (mutmaßlich) er selbst liegt, aus einem Foto – 15,6 Millionen Views.

Eine sechsstellige Zahl von Downloads alleine durch Tiktok?

Die Touch-Retouch-Videos dürften auf Tiktok auch erfolgreich sein, weil der Algorithmus es honoriert, wenn Videos bis zum Ende oder sogar mehrfach angeschaut werden. Viele Nutzer dürften bei den entsprechenden Videos auf das Ende mit dem Ergebnisfoto gewartet haben. Wie viele Views alle 24.000 Videos zu Hewitts Sound bislang in Summe verzeichnen, ist von außen nicht nachvollziehbar. Die Vermutung, dass die Zahl im deutlich neunstelligen Bereich liegt, ist jedoch nicht allzu abwegig.

Diese Reichweite wirkt sich natürlich auch auf die Download-Zahlen der App aus. „Unsere Download-Zahlen stiegen, zwischen 200 und 300 Prozent, nachdem das erste Video bei Tiktok populär wurde“, so Kostyantyn Svarychevskyi, COO von Adva Soft, schriftlich gegenüber OMR. Das Berliner App-Analytics-Tool Priori Data schätzt, dass Touch Retouch in den 15 Wochen zwischen dem 8. Januar und 21. April auf iOS rund eine halbe Million Mal heruntergeladen worden ist. In den 15 Wochen davor waren es nur 210.000 Downloads. Bei der Android-Version der App stieg die Zahl der Downloads im selben Zeitraum von 52.000 auf über 100.000 Downloads.

Die Entwicklung der Download-Zahlen von Touch Retouch in Apples App Store (Schätzung von Priori Data)

Knapp 400.000 US-Dollar zusätzlicher Umsatz?

2,29 Euro kostet Touch Retouch in Deutschland, 1,99 US-Dollar in den USA. Rund 720.000 US-Dollar soll die iOs-Version Touch Retouch seit dem 8. Januar eingespielt haben, mehr als 70.000 US-Dollar die Android-Variante. Es ist durchaus vorstellbar, dass in etwa die Hälfte dieser Umsätze auf Hewitts viralen Sound auf Tiktok zurückzuführen sind.

Steckt dahinter eine bezahlte Kampagne? „Das war nicht Teil unserer Marketingstrategie; wir haben zu diesem Zeitpunkt gar keine Kampagnen durchgeführt“, sagt Adva-Manager Kostyantyn Svarychevskyi. Es wäre zumindest verwunderlich, wenn Hewitt doch bezahlt worden sein sollte, dass sie in ihrem Video nicht den vollständigen, korrekten Namen der App genannt hat.

Die Musikbranche macht es vor

Doch auch, wenn in diesem Fall keine gezielte Strategie hinter der Maßnahme gesteckt haben sollte: Das Beispiel Touch Retouch zeigt, dass über Tiktok auch relevante Verkäufe und Umsätze generiert werden können, wenn das Produkt und der Ansatz zur Zielgruppe der Plattform passen. Und dass über das Instrument der Tiktok-Sounds substanziell Aufmerksamkeit generiert werden kann, war in den vergangenen Monaten auch immer wieder in der Musikbranche zu beobachten.

App
Roland Eisenbrand
Autor*In
Roland Eisenbrand

Roland ist seit mehr als zehn Jahren als Journalist in der Digitalbranche aktiv. Seit 2014 verantwortet er als Head of Content (und zweiter Mitarbeiter) alle inhaltlichen Komponenten von OMR, darunter vor allem den OMR Blog und redaktionelle Arbeit rund um das OMR Festival.

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