Wie ein 20-Jähriger auf Tiktok das MTV für die Gen Z erfindet

Flighthouse verzeichnet mit Spielshows und Gaststars 150 Millionen Views im Monat auf der Teenie-Plattform

Flighthouse "Finish the Tiktok Lyric"
Inhalt
  1. Unterhaltung für Unkonzentrierte
  2. Mit Fake-Bio zum ersten Job
  3. B2B-Business als Basis
  4. Starkes Wachstum jenseits von Tiktok
  5. Großes Vorbild Hühnerflügel-Show

Flighthouse ist die größte Medienmarke auf Tiktok. Das Startup aus Los Angeles betreibt den einzigen gebrandeten Kanal, der sich zwischen lauter Influencern in den Top Ten der Plattform etablieren konnte. Ziel des 20-jährigen CEOs Jacob Pace: Ein Programm aus unterhaltsamen Shows soll Flighthouse zum MTV der Generation Z machen – mit Tiktok als Wachstumstreiber einer smarten Multi-Channel-Strategie.

Die Shows von Flighthouse brechen schon optisch aus Tiktoks chaotischem Content-Stream: einfarbige, bunte Hintergründe, davor junge mittel bis sehr bekannte Tiktoker. Unterschiedliche Spiele, die meist mit Musik zu tun haben. Bei „Finish The TikTok Lyrics“ battlen sich zwei Teilnehmer, wer schneller den Buzzer drückt und die angespielte Songzeile vollendet. In „Dance Charades“ hört ein Mitspieler über Kopfhörer ein Lied und performt den zugehörigen Tiktok-Tanz, den der andere erraten muss. Bei „What’s In My Phone“ dreht der Gast an einem Glücksrad mit App-Icons. Je nachdem bei welchem Icon das Rad stehen bleibt, zeigt der Spieler das zuletzt mit dieser App geteilte Foto oder Video und erzählt die Story dazu.

Unterhaltung für Unkonzentrierte

Harmlose Spielchen, für Nutzer der Plattform intuitiv verständlich, perfekt auf die unkonzentrierte Gen Z zugeschnitten, die sich ziellos durch die Tiktok-App swiped. Mehr als 22 Millionen Nutzer folgen Flighthouse bereits. Die Clips, die Flighthouse im unternehmenseigenen Studio in Hollywood produziert, erreichen 150 Millionen monatliche Views. Insgesamt zwei Milliarden Mal wurden sie bislang geliked.

So beeindruckend diese Reichweite ist – der Weg zum ernstzunehmenden Medienunternehmen dürfte noch recht weit sein. Mit dem selbstbastelten Glücksrad und wackeligen Barhockern wirkt das Flighthouse-Programm oft improvisiert und amateurhaft. Andererseits hat genau diese Kombination aus unbedarfter Experimentierfreude, Authentizität und Verständnis der Zielgruppe in der Vergangenheit Player wie MTV, Vice und Buzzfeed zu globalen Medienbrands gemacht.

Jacob Pace, CEO Flighthouse (c) Maggie Shannon

Jacob Pace, CEO von Flighthouse

Jacob Pace scheint der ideale Kandidat, um die Story des anarchischen Newcomer-Mediums für das Tiktok-Zeitalter neu zu erzählen. Bereits früh zog es ihn in Entertainment-Biz. Als 14-Jähriger frickelte er in seinem Kinderzimmer im texanischen El Paso am Rechner Songs zusammen. „Ich habe Musik produziert und wusste, dass sie Scheiße war. Aber ich wollte einen Weg finden, sie zu promoten“, sagt Pace im Gespräch mit OMR. Weil kein Youtube-Kanal seine Tracks hochladen wollte, startete er einen eigenen, um den erst auf eine hohe Abonnenten-Zahl zu treiben und dann die eigene Musik unterzumischen.

Mit Fake-Bio zum ersten Job

Pace gründete nebenher ein Plattenlabel, machte es nach nur einem gesignten Künstler wieder dicht, weil er im Kopf schon wieder weiter war. Als angeblich 24-jähriger College-Absolvent, wurde der 14-Jährige Blogger bei EDM Sauce, einer der wichtigsten Plattformen für Electronic Dance Music. Ein Jahr später folgte ein Job als US-Guy einer Londoner Musik-PR-Agentur. Und bald darauf kam der Anruf von Alexandre Williams, Manager eines Indie-Labels und Mitgründer der Create Music Group. Williams war so beeindruckt von dem Teenager, dass er ihn nach L.A. einfliegen ließ und ihm eine Stelle bei seinen Startup anbot, das für Künstler die Durchsetzung ihrer Streaming-Tantiemen übernimmt und auch als Publisher aktiv ist.

Pace machte noch schnell seinen Highschool-Abschluss, zog an die Westküste und machte das Marketing der Create Music Group. Anfang 2018 stieß er auf Flighthouse, einen ziemlich erfolgreichen Kanal auf der mittlerweile von Tiktok geschluckten Plattform musical.ly. Flighthouse war von zwei Brüdern gegründet worden, die – ähnlich wie einst Pace bei Youtube – Musik kuratierten, also Songs sammelten und so bearbeiteten, dass Tiktok-User sie in ihren Videos benutzen konnten. Pace erkannte das Potenzial und überzeugte seinen Boss Williams, den Kanal zu übernehmen und ihn als CEO einzusetzen.

B2B-Business als Basis

In der Folge baute Pace zunächst ein Agentur-Geschäft auf: Für Musiklabels entwickelt Flighthouse Strategien, um neue Songs auf Tiktok zu pushen. Beispielsweise kreieren Paces Leute Tanz-Moves, die anschließend durch Kooperationen mit Influencern auf der Plattform gestreut werden. Oder sie produzieren gleich den kompletten Tiktok-Content für Marken.

Im August 2019 – Flighthouse hatte damals 15 Millionen Follower – starteten dann die ersten Shows. Nicht als nächster Milestone eines Masterplans, sondern aus schlichter Neugierde und in Folge einer simplen Beobachtung: „Niemand macht es, wir können es“, erinnert sich Pace. Warum also nicht einfach mal eine paar Konzepte ausdenken und rumprobieren.

@flighthouse@addisonre is so cute at the end… she said ?? w/ @daisykeech ##ftttl

♬ Say So – Doja Cat

Schnell wurde klar: Am besten laufen Formate, die gerade bei Tiktok gefragte Creator mit einer Musik-bezogenen Spielidee verknüpfen. Diese Ideen siebt Pace konsequent aus: „Alles, was nicht eine Million Mal gesehen wird, funktioniert für mich nicht wirklich“, sagt der Flighthouse-CEO. Und die Strategie geht auf. Innerhalb eines halben Jahres wuchs die Zahl der Follower um 50 Prozent.

Viel entscheidender auf dem Weg zum Gen-Z-Brand aber war eine andere Erkenntnis: „Das Wichtigste, was wir gelernt haben, ist, dass Tiktok nicht wirklich dazu gedacht ist, ganze Episoden zu konsumieren. Es ist für die Höhepunkte da“, sagt Pace. Darum wurde die Marke inzwischen auf weiteren Social-Media-Plattformen ausgerollt, wo mehrere Minuten lange Vollversionen der Shows laufen, die bei Tiktok über Ausschnitte der Highlights angeteasert werden.

Starkes Wachstum jenseits von Tiktok

In wenigen Monaten wuchs der Youtube-Kanal von Flighthouse auf mittlerweile über 350.000 Abonnenten und zehn Millionen monatliche Views. Bei Instagram, wo die vollständigen Episoden ebenfalls via IGTV zu sehen sind, hat Flighthouse mittlerweile rund 600.000 Abonnenten. Einzelne Folgen von „Finish the Tiktok Lyric“ haben bei IGTV weit über eine Million Aufrufe erzielt. Bemerkenswerte Zahlen, weil die Tiktok-App keinen Weg bietet, direkt aus einem Clip heraus zu YouTube oder Instagram zu wechseln.

Bei der Wahl der bespielten Plattformen folgt Flighthouse konsequent der Zielgruppe. Die ist zu 83 Prozent weiblich, und 54 Prozent der Follower sind jünger als 18 Jahre. „Darum waren Instagram, YouTube und Tiktok für uns am offensichtlichsten“, sagt Pace. „Wir wissen, dass unser Publikum seine Zeit dort verbringt.“ Das eher männlich-nerdige Twitch stehe folgerichtig nicht im Fokus für die künftige Expansion, so Pace. Eher Snapchat, die Tiktok-Rivalen Triller und das neu gestartete Byte, eventuell Pinterest. Doch erst einmal werden die Shows Geld einspielen müssen.

@flighthouse@24kgoldn shares his insta archives… this boy really likes Drake ? ##whatsinmyphone

♬ Valentino – 24KGoldn

Bislang geht es Pace allein darum, der Marke Flighthouse weitere Reichweite und Bekanntheit zu verschaffen, um sie für Werbekunden interessant zu machen. Dabei reicht die Strahlkraft der Brand bereits, um Tiktok-Stars wie Chase Hudson (14,2 Millionen Follower) und Addison Rae (19.6 Millionen Follower) oder Musiker wie DJ Marshmello (10,8 Millionen Follower) ohne Honorar für als Teilnehmer für die Shows zu rekrutieren. „Sie wachsen, wir wachsen, der Nutzen ist gegenseitig“, sagt Pace. Doch weil dieses Tauschgeschäfte im Influencer-Business immer endlich ist, plant Flighthouse, in den kommenden Monaten mit Product Placements zu starten und eine eigene Merchandising-Kollektion zu launchen.

„Wir sind in einer Phase, wo man leicht drei Jahre lang der heißeste Scheiß sein kann“, sagt Pace. „Aber die Frage ist doch: Was kommt danach?“ Darum muss sich Flighthouse auch inhaltlich entwickeln. Im Laufe des Jahres 2020 soll es Shows mit Moderatoren geben und neue Formate sind in Vorbereitung. „Neben reiner Unterhaltung wollen wir in Themen wie Mental Health und Youth Empowerment einsteigen“, sagt Pace. „Vor allem Mental Health wird eine große Herausforderung, denn die Generation Z entwickelt gerade ein hohes Bewusstsein dafür und ist in der Lage, Bullshit zu durchschauen.“

Großes Vorbild Hühnerflügel-Show

Bald wird sich zeigen, ob die unterhaltsame Aufbereitung seriöser Themen zwischen Lipsync- und Prank-Videos auf Tiktok die Eine-Million-Views-Marke überspringen kann. Eine Alternative zu Trial and Error gibt es nicht. Denn: „Keine Teilnehmer einer Fokus-Gruppe hätte jemals gesagt: Ich will eine Show über zwei Personen sehen, die Hähnchenflügel essen, die schärfer und schärfer gewürzt sind“, sagt er in Anspielung auf „Hot Ones“, eines erfolgreichsten Erfolgsformate der New Yorker Medienplatform Complex (hier der Gründer Christian Baesler im OMR Podcast).

Die smarte Auswertung des Formats „Hot Ones“ dient Pace auch als Vorbild (Hier unsere ausführliche Analyse der Verwertung der Show): „Hot Ones“ verdiene Geld durch Werbung auf Youtube und TV-Deals. Dazu verkaufe man die scharfe Soße aus der Show und weiterer Merch an die Fans verkauft. Auf dem Festival der Plattform, der Complex Con, werde „Hot Ones“ schließlich zu einem Live-Event verlängert. „Ich bin sehr inspiriert von dem, was sie tun“, sagt Pace.

Doch soweit denkt man Flighthouse derzeit nicht. Aktuell steht der Aufbau des Kanals im Fokus. „Wir experimentieren gerade mit so vielen Konzepten und können nie sagen, was funktionieren wird und was nicht“, sagt Pace. „Also schmeißen wir einfach eine Menge Zeug an die Wand und schauen, was hängen bleibt.“ Wie viel das sein wird, und ob es am Ende reicht, Flighthouse zum MTV der Gen Z zu machen, bleibt abzuwarten. Klar ist, das Lebensgefühl einer Generation zu verstehen, wird dafür nicht reichen. Maßstab ist die Frage, ob Pace Flighthouse so groß machen kann, dass es dieses Lebensgefühl mit prägt.

Gen-ZTikTok
Christian Cohrs
Autor*In
Christian Cohrs

Editor & Content Strategist bei OMR und Host des FUTURE MOVES-Podcasts. Zuvor war er Redaktionsleiter des Wirtschaftsmagazins Business Punk in Berlin, Co-Autor des Sachbuchs "Generation Selfie".

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