TikTok: Wie der musical.ly-Nachfolger mit Paid Media und Schrott-Ads den Westen erobert
TikTok ist derzeit eine der meist heruntergeladenen Apps der Welt – weil der Mutterkonzern massiv Marketing-Dollar investiert
- 15 Sekunden Ruhm
- Ad-Dollar für User-Generated-Content
- Virale Fremdschäm-Momente
- Influencer auf die Plattform ziehen
- Auch für Brands interessant?
500 Millionen monatlich aktive Nutzer verzeichnet die Kurzvideo-App TikTok schon jetzt weltweit. Ein Großteil der Nutzer kommt derzeit noch aus Asien. Aber das will das chinesische Mutterunternehmen Bytedance schnell ändern und geht die Expansion in den Westen aggressiv an. Aktuell liegt TikTok in den USA immer wieder auf Platz 1 des App Stores. Doch wie nachhaltig ist der Erfolg, wenn er vor allem mit hohen Mediaspendings teuer erkauft ist? OMR wägt das Pro und Kontra ab.
Nach dem ersten großen Hype um die Lip-Sync-App musical.ly (wir berichteten erstmals im April 2016) wurde es wieder etwas stiller um die Plattform. Frühe Influencer, die auf musical.ly groß geworden waren – wie die Zwillinge Lisa und Lena aus der Nähe von Stuttgart – bauten sich in den letzten Jahren vor allem auf Instagram und Youtube riesige Reichweiten auf.
Etwa gleichzeitig mit dem musical.ly-Boom startet 2016 in China die App Douyin mit ähnlichen Funktionen. Für den internationalen Auftritt verpasst das Mutterunternehmen Bytedance der App den Namen TikTok. Anfänglich als China-Klon von Snapchat gedacht, wird TikTok in der Folge immer stärker zur Kurzform-Video-Plattform – mit 300 Millionen monatlich aktiven Nutzern in Asien. Im November 2017 kauft Bytedance musical.ly, das zu diesem Zeitpunkt 100 Millionen Nutzer vor allem in Nordamerika und Europa verzeichnet, für ein kolportierte Milliarde US-Dollar. Anfang August 2018 vereinigt Bytedance schließlich beide Apps unter dem Namen TikTok – und beginnt mit seinem Angriff auf neue Nutzer aus Übersee.
15 Sekunden Ruhm
TikTok will heute mehr sein als nur eine App für Karaoke-Clips. Nutzer nehmen 15- bis 60-sekündige Hochkant-Videos auf und können diese mit Sounds, Filtern und Musikschnipseln gestalten. Heraus kommen vor allem Comedy-, Tanz- oder Musik-Clips, die zum Teil an die mittlerweile eingestellte Viral-App Vine erinnern. Das Design der App ist extrem simpel und zieht auch neue Nutzer sofort rein. Wer TikTok das erste Mal öffnet, bekommt keinen Anmelde-Screen zu sehen, sondern direkt vorgeschlagenen Content. Mit einem Wischer nach oben landet man dann direkt im nächsten Video und kann so unendlich weiter scrollen und Inhalte entdecken. Zusätzlich gibt’s, wie von anderen Plattformen bekannt, die Möglichkeit, anderen Nutzern zu folgen.
„TikTok ist für Menschen, die lockere, sorgenfreie, trendige, echte Kurzvideos mögen“, sagt TikToks Head of Global Marketing, Stefan Heinrich gegenüber Digiday. „TikTok-Videos fangen die Aufmerksamkeit der Nutzer schnell ein. Wir glauben, dass Zeit wertvoll ist, deshalb ist unser Slogan: Lass jede Sekunde zählen.“ Um Nutzer immer wieder in die App zu ziehen, setzt TikTok – wie auch musical.ly zuvor – auf sogenannte Challenges. Nutzer sollen Videos aufnehmen, die das von TikTok gesetzte Thema zeigen. Aktuell halten Nutzer ihre Haustiere über den Kopf, weil sie bei der #simbachallenge die Anfangsszene von „König der Löwen“ nachstellen wollen.
Ad-Dollar für User-Generated-Content
Mit solchen Kniffen schafft es TikTok aktuell augenscheinlich, die vorhandenen Nutzer bei der Stange zu halten. Laut dem Internet Trends Report 2018 von Mary Meeker liegt das Verhältnis zwischen täglich und monatlich aktiven Nutzern bei 57 Prozent. Über die Hälfte der aktiven Nutzer schaut also täglich in der App vorbei – laut Meekers Report durchschnittlich 52 Minuten lang. Für TikTok zählt es jetzt also noch, neue Nutzer für die Plattform zu begeistern, die Konkurrenz in den USA und Europa ist schließlich noch einmal größer als im Heimatmarkt China.
Um die App unter dem neuen Namen bekannter zu machen, wirbt Bytedance aggressiv auf den großen Plattformen Youtube, Facebook, Instagram und Snapchat für TikTok. Dieser zum Teil aus Asien stammende Content wirkt offenbar sehr befremdlich auf viele Nutzer. Ein Artikel auf Medium fasst die Reaktionen auf TikTok-Clips im Netz ganz witzig zusammen. Ganze Memes sind so in den letzten Monaten entstanden. Auf Youtube lädt TikTok seine Werbeclips auf Kanäle mit beliebig wirkenden Namen, stellt die Videos auf „nicht gelistet“ (nur Nutzer mit dem Link finden diese) und schaltet sie dann als Youtube-Werbung. Diese Werbeclips werden ihrem Namen eigentlich nicht gerecht. Sie zeigen meist einfach ein TikTok-Video von irgendeinem Nutzer. Das hier eingebettete Video kommt zum Beispiel auf knapp 74 Millionen Views. Wir haben viele weitere mit ähnlichen Abrufzahlen aber vielen Dislikes gefunden. Mit großer Sicherheit sind fast alle Views gekauft. Alleine auf Youtube könnten sich die TikTok-Spendings also im sieben- wenn nicht sogar achtstelligen Bereich bewegen. Das Mutterunternehmen Bytedance hat das Kleingeld. Vor wenigen Tagen verkündeten die Chinesen eine weitere 3-Milliarden-Investitionsrunde. Damit gilt die Firma mit ihrer 75-Milliarden-Bewertung als wertvollstes Startup der Welt – noch vor Uber.
Virale Fremdschäm-Momente
TikTok verzeichnet auch über seine Ads hinaus unfreiwillig Aufmerksamkeit. Auf Youtube zählen Fremdschäm-Zusammenschnitte aus TikTok-Clips derzeit zu den Klickbringern der Stunde. Sogenannte „Cringe-Compilations“ sammeln Millionen Views und bedienen sich einfach am Content der Plattform. Aber selbst peinliche Videos dürften die Neugierde von neuen Nutzern nur noch einmal beflügeln.
Was in den Clips zu sehen ist, könnte nämlich noch entscheidend für den Erfolg von TikTok sein. Anders als noch während des großen musical.ly-Booms tauchen so langsam auch Väter und Mütter der damaligen Nutzer auf. Wie im Atlantic so schön zu lesen ist, werden Social Plattformen erst dann richtig erfolgreich, wenn auch verwirrte Eltern mit dabei sind und nicht nur attraktive Influencer.
Influencer auf die Plattform ziehen
User-Generated-Content kann durchaus ein probates Mittel sein, neue Nutzer für die App zu begeistern. TikTok will darüber hinaus mit Influencern vor allem die junge Zielgruppe auf die Plattform ziehen. Viele sind bei musical.ly groß geworden, aber auch bekannte Youtuber versuchen bei TikTok neue Reichweiten aufzubauen. Der deutsche Lets Player Luca Scharpenberg alias „ConCrafter“ zeigt seinen 3,4 Millionen Youtube-Abonnenten seine TikTok-Highlights und verweist direkt auf seine Clips auf der Plattform. Dort hat er über 800.000 Fans. Die deutschen Zwillinge Lisa und Lena sind immer noch die erfolgreichsten westlichen Influencer bei TikTok mit 31,6 Millionen Fans. Weil die beiden ihre TikTok-Videos auch auf ihrem Instagram-Kanal mit fast 14 Millionen Abonnenten posten, ziehen sie so auch immer neue Nutzer in die TikTok-App.
Überhaupt macht es das chinesische Unternehmen Influencern leicht, ihre Social-Kanäle zu promoten. Mit zwei Klicks landen Nutzer auf dem Instagram- oder Youtube-Kanal des Creators. Das Versprechen: Auf TikTok lassen sich derzeit große Reichweiten auf der ganzen Welt aufbauen, die sich dann auch auf die anderen Plattformen übertragen lassen. Wohl keine andere App öffnet Influencern derzeit leichter den Weg nach China. Die kanadische TV-Bekanntheit und Bloggerin Shira Lazar sagte auf der ersten großen TikTok-Party in Los Angeles, dass Instagram zwar Snapchat zerdrücken und Youtube gefährlich werden würde, aber nur TikTok so einen Zugang nach China liefere.
Allerdings gibt es auch viel Kritik an den Mechanismen in der App. Viele Nutzer sind extrem jung und versuchen, mit dem Zeigen von viel Haut oder waghalsigen Stunts für Aufmerksamkeit und Likes zu sorgen. Mittlerweile hat Bytedance reagiert und zumindest die Privatsphäre-Einstellungen angepasst. Nutzer können ihre Videos jetzt nur für angemeldete Nutzer freischalten, zuvor konnten auch nicht angemeldete Nutzer jeglichen Content sehen. Viele Eltern zeigten sich besorgt, dass Pädophile junge Mädchen und Jungen aus der Anonymität dazu anstacheln würden, viel Haut zu zeigen.
Auch für Brands interessant?
Das hält große Brands nicht davon ab, Kampagnen auf der Plattform zu schalten. Diese laufen offenbar meist über Challenges. Die US-Marke Guess hat im September die Kampagne #InMyDenim auf TikTok umgesetzt. Nutzer sollten sich in ihren Jeans filmen und die Videos auf die Plattform laden. Guess erhoffte sich außerdem, darüber auch chinesische Touristen in den USA zu erreichen und Lust auf eine neue Jeans zu machen. Kampagnen wie diese lassen sich auf TikTok zusätzlich mit Influencern auf der Plattform anstoßen. Diese liefern zum Start reichweitenstarke Videos und fordern ihre Fans auf, sich an der Challenge zu beteiligen.
Aktuell läuft eine gesponsorte Challenge zum Queen-Film „Bohemian Rhapsody“. Unter dem Hashtag #WeWillRockYou zeigen TikTok-Nutzer ihre besten Moves zum bekannten Queen-Hit. Laut TikTok wurden bisher fast 36 Millionen Clips mit dem Hashtag versehen. Diese Zahlen zeigen, die Marketing-Offensive trägt Früchte. Laut dem Analyse-Tool Sensor Tower war TikTok im zweiten Quartal 2018 die meistgeladene Nicht-Spiele-App in Apples App Store. In Googles Play Store landete sie auf Platz 9. Seitdem musical.ly und TikTok verschmolzen wurden, steigen die Download-Zahlen noch einmal an. Im September wurde die App laut dem Analyse-Tool Priori Data knapp 40 Millionen Mal heruntergeladen – allein in Deutschland über eine Million Mal.