Clever oder fragwürdig? Shops lassen Micro-Influencer die beworbenen Produkte bezahlen
Wie Startups quasi kostenlos Reichweite und Content generieren
- „Das ist eine absolute Abzocke“
- Online-Shops aus der Provinz mit eigenem Affiliate-Programm
- Einen Rabattcode kann quasi jeder bekommen
- Star-Träume auf Instagram
- „Jeder bekommt das, was er verdient“
- Vorteile: Umsatz, Werbung und Content für die Shops
- Experten: „Hauptsache billig“ und „unseriös“
- Schattenseite: Wenig Kontrolle und geringe Qualität
- „Nicht jeder mit einem Instagram-Account ist ein Influencer“
- Die Shops sind die Gewinner
- Von 8.000 zu 60.000 Followern in zwei Jahren
Du wirbst für mein Produkt über Deine Social-Media-Profile, ich bezahle Dich dafür – so lautet normalerweise der Deal, den Unternehmen im Influencer Marketing mit reichweitenstarken Digitalstars eingehen. Doch diverse junge Online-Shops drehen dieses Prinzip nun offenbar auf den Kopf: Sie buhlen massenhaft um Micro-Influencer mit Mini-Reichweiten, die die Produkte, die sie bewerben sollen, selbst bezahlen müssen. OMR hat die Methode dokumentiert und mit Betroffenen und Shop-Betreibern gesprochen.
Vanessa hat knapp 150 Follower auf Instagram und ist mit ihrem privaten Instagram-Account Affiliate-Partnerin von acht Online-Shops. Als Micro-Influencerin hat sie über ihren Account für die Produkte der Shops geworben, in der Hoffnung, Provisionen einnehmen zu können, falls einer ihrer Follower nach ihrer Werbung etwas in den Shops einkauft. In der Regel erhalten Teilnehmer an so genannten Partnerprogrammen („Affiliate Publisher„) von ihren Werbepartnern kostenlose Werbemittel und eventuell auch Produktproben. Vanessa erhielt lediglich Rabatt auf die Sortimente ihrer Partnershops.
„Das ist eine absolute Abzocke“
Für mehr als 500 Euro hat sie in den Shops Produkte gekauft, um Fotos von diesen machen zu können und auf ihrem Instagram-Account für sie werben zu können. Doch weil niemand mit dem von ihr ausgegebenen Rabatt-Code in den Shops etwas eingekauft hat, hat sie statt Einnahmen nur Kosten verbuchen können. „Für kleine Leute ist das eine absolute Abzocke“, sagt sie ungefähr drei Monate nach Beginn ihres Affiliate-Daseins.
So wie Vanessa geht es zahlreichen anderen privaten Instagram-Nutzern, die sich auf die Masche der Shops einlassen. Viele werden durch Werbeanzeigen in den Instagram-Storys auf die Shops und deren Affiliate-Programme aufmerksam. „Werde Fashion Influencer bei der einzigartigsten Schmuckmarke“, heißt es in der Story-Ad von Aphrodite Jewellery. Das Startup Landgraf Uhren wirbt mit dem Text: „Mikro Influencer gesucht. Kostenlose Landgraf Uhren & personalisierte Rabatt Codes erhalten.“ Unter dem Punkt „Voraussetzungen“ heißt es: „Keine große Reichweite & Erfahrung nötig.“
Online-Shops aus der Provinz mit eigenem Affiliate-Programm
Vanessa sprachen diese Anzeigen an. Nacheinander bewarb sie sich bei zahlreichen Shops: Landgraf Uhren, mary_ann.shop, CNRD. Jewelry, Morviller Uhren, Lenoire Uhren, Mavior Beauty, Justus Brown und Aphrodite Jewellery. Wer sich durch die Online-Shops durchklickt, stellt fest: Oft steht dahinter ein relativ schnell aufzusetzender Shopify-Shop. Im Impressum werden meist Einzelpersonen aufgeführt, die laut Adressangaben außerhalb von Großstädten wohnen. Ob es sich zumindest bei einigen von ihnen möglicherweise um Dropshipper (hier ein ausführlicher OMR-Artikel über das Phänomen) handelt, ist von außen nicht 100-prozentig nachvollziehbar. Füttert man Googles Bildersuche mit den Produktbildern aus den Shops, stößt man nicht selten auf Mitbewerber, die sehr ähnliche Artikel anbieten; vermutlich vergleichsweise günstig aus China eingekauft.
Im Marketing nutzen offenbar alle der genannten Shops denselben Hebel: Micro-Influencer, die sie mit Story Ads direkt auf Instagram gewinnen. Die Instagram-Nutzer kommen mittels der Swipe-Up-Funktion in der Werbeanzeige auf die Bewerbungsseite für das Affiliate-Programm, auf der sie ihren Namen, Instagram-Namen und E-Mail-Adresse angeben müssen.
Einen Rabattcode kann quasi jeder bekommen
Nach ihrer Bewerbung erhalten die Interessenten (meist automatisiert, also offensichtlich ohne weitere Prüfung) eine E-Mail mit dem Rabattcode für ihre erste Bestellung, der je nach Shop zwischen 20 und (seltener) 50 Prozent beträgt. Außerdem bekommen sie einen weiteren personalisierten Rabattcode, den sie an ihre Follower weitergeben können, mit dem diese zwischen 10 und 25 Prozent Rabatt im Shop erhalten. Wenn Follower den Rabattcode einlösen, erhalten die Affiliates im Gegenzug entweder eine Provision, die zwischen 10 und 25 Prozent des Produktverkaufspreises betragen kann, oder bekommen als Entlohnung kostenlose Produkte zugeschickt.
Diese Versprechen locken offenbar zahlreiche Instagram-Nutzer mit wenigen Followern in die Affiliate-Programme. Vanessa sagt, sie hätte bei den Shops nichts gekauft, wenn sie Werbung mit Sale-Rabatten gemacht hätten. „Weil ich nicht der Typ bin, der tausend Ketten, Uhren und Armbänder hat und trägt.“ Aber die Kooperations-Programme haben sie dazu gebracht, mehrere Hundert Euro in den Shops zu lassen.
Star-Träume auf Instagram
Während pubertierende Teenager und junge Erwachsene früher womöglich gerne Schauspieler, Popstar oder Model werden wollten, lautet heute der Berufswunsch vieler: „Influencer“. Einer repräsentativen Umfrage zufolge wäre jeder dritte Social-Media-Nutzer heute gerne selbst ein Social-Media-Star. Einige Instagram-Nutzer posten mittlerweile schon gefakte Werbung, um den Eindruck zu vermitteln, ein Influencer zu sein. Unbestritten ist: Wer als aufstrebender Influencer Produkte kauft, in der Hoffnung seine Karriere anfeuern zu können, tut das freiwillig. Aber spielen die Shop-Betreiber bewusst mit dem Wunschtraum vieler junger Menschen (vor allen Dingen Frauen) von der großen Influencer-Karriere?
„Es ist sehr attraktiv für viele, ihre Influencer-Followerschaft zu vergrößern, online Geld zu verdienen, oder allgemein eine kleine Berühmtheit zu werden“, ist sich Justin Busch, Geschäftsführer von Aphrodite Jewellery, im Klaren. Bei dem Online-Shop gibt es 25 Prozent Rabatt für die Affiliates und einen 15 Prozent Rabattcode für deren Follower. Doch wenn kein Follower einen Code einlöst, erhalten die Micro-Influencer auch keine Provision.
„Jeder bekommt das, was er verdient“
Er habe schon mit 8.000 Followern auf Instagram 20 bis 30 Promotion-Anfragen pro Tag erhalten, erklärte Maximilian Braun, der damals 19-jährige Geschäftsführer von Landgraf Uhren, 2017 in einem Interview beim Jungunternehmer Podcast. „Ich hab halt die Sicherheit, dass ich nicht einfach Geld oder Uhren in den Sand setz und einfach an Leute schicke, die dann zum Beispiel gar nichts posten oder gefakete Follower oder gefakete Likes haben.“ Deswegen setze er auf das beschriebene Rabattcode-Affiliate-Modell. „Jeder bekommt das, was er verdient“, so Braun. Die Methode bringe dem Instagram-Account große Reichweite und dem Online-Shop enormen Traffic ein. „Kleinvieh macht auch Mist.“
Sind die Kooperationen mit Micro-Influencern an sich bereits Umsatzhebel, und kalkulieren die Shop-Betreiber an dieser Stelle mit der Naivität vieler Nutzer, denen nicht klar sein dürfte, wie schwer es sein kann, die Beschaffungskosten des Produktes durch Provisionen auszugleichen? „Wir sehen die Provision nicht als alleiniges Ausstellungsmerkmal für die Kooperation, oder als einzigen Grund, um daraus Freude oder Profit zu schlagen“, sagt Justin Busch von Aphrodite Jewellery. Laut Geschäftsführer Busch will der Shop seinen Affiliates vor allem durch Gewinnspiele und Mitentscheidung bei neuen Produkten Vorteile bieten, die andere Shops nicht haben. „Wir setzen auch darauf, dass sie Freude an unseren Produkten haben.“
Vorteile: Umsatz, Werbung und Content für die Shops
In den Instagram Ads und Affiliate-E-Mails werben die Shops mit zahlreichen angeblichen Vorteilen für ihre „Influencer“. Neben potenziellen Provisionseinnahmen ist eines der wichtigsten Versprechen dabei: Schöne Postings werden auf der Instagram-Seite des Shops oder in dessen Story geteilt und dadurch könnten die Affiliates neue Follower hinzugewinnen.
Die Liste der Vorteile auf Seiten der Shops ist jedoch um einiges länger. Erstens: Die Affiliates bescheren ihnen mit ihren Einkäufen mutmaßlich relevante Umsätze. Zweitens: Die Affiliates machen mit ihren gekauften Produkten in ihren Posts kostenlose Werbung für die Shops. Drittens: Sie liefern den Shops jede Menge kostenlosen Content für ihre Instagram-Seiten und Websites. Viertens: Sie geben als Privatpersonen besonders authentische Empfehlungen für die Produkte des Shops ab.
Experten: „Hauptsache billig“ und „unseriös“
Punkt Vier hängt vor allem damit zusammen, dass die Affiliates Privatpersonen mit wenigen Followern sind. „Wenn sehr kleine Influencer einen Review oder Post auf Instagram verfassen, kommt das sehr viel glaubwürdiger, als wenn man einem großen Influencer viel Geld bezahlt. Denn heutzutage wissen die meisten Leute, dass große Influencer, die einen Post über ein tolles Produkt schreiben, dafür bezahlt wurden“, sagt Justin Busch von Aphrodite Jewellery. Der Shop sortiert bei den Bewerbern für das Affiliate-Programm nicht aus, außer der Bewerber hat keine Follower oder kein einziges Foto auf seinem Profil. Teilweise haben die Affiliates weniger als 100 Follower, manche sogar weniger als 50.
Influencer-Marketing-Experten stehen den von den genannten Shops verwendeten Methoden äußerst skeptisch gegenüber. Ann-Katrin Schmitz, Co-Founderin und Managerin des erfolgreichen Instagram-Accounts Nova Lana Love mit über einer Million Followern, sagt: „Solche Shops und auch der Umgang mit Micro-Influencern sind absolut unseriös. Hier wird offensichtlich auf Quantität gearbeitet.“ Die Privatpersonen würden ihrer Meinung nach als vermeintliche Influencer instrumentalisiert: „Sie können schwer einschätzen, ob es sich hierbei für sie um ein gutes Geschäft handelt. Die wenigsten wissen, wie professionelle Anfragen und die Arbeit hinter den Kulissen der Influencer aussieht“, so die erfolgreiche Instagram-Managerin.
Schattenseite: Wenig Kontrolle und geringe Qualität
Kooperationen mit Micro-Influencern bringen stattdessen nach Schmitz’ Darstellung vor allem den werbenden Shops Vorteile: „Je größer die Followerschaft eines Influencers wird, desto weniger organische Reichweite können sie durch die plattforminternen Regulierungsmechanismen (‚Instagram-Algorithmus’) erzielen“, erklärt sie. In der Regel würden die kleinen Accounts kaum oder gar keine Werbekooperationen umsetzen, was eine „unheimlich hohe Authentizität für die Betreiber dieser Shops“ verspreche. „Solche Accounts fliegen in der Regel auch unter dem Radar von Medien- und Wettbewerbsaufsichtsbehörden, was zur Folge hat, dass hier wohl auch nicht werblich gekennzeichnet wird. Das könnte die Werbewirkung in dem Zusammenhang noch einmal verstärken.“
„Quasi Hauptsache billig, das ganze ohne qualitative Benchmarks, bei maximal niedrigen Kosten“, bewertet Sven Wedig, Gründer und Geschäftsführer der Influencer-Marketing-Agentur Vollpension, die Strategie. „Tendenziell sind Influencer Content Treiber“, sagt er. „Für die Qualität des Contents ist es aus meiner Sicht aber immens wichtig, dass man mit dem Influencer im Austausch steht. Bei Influencern unter 80 Followern halte ich das für wenig praktikabel.“ Die Folgen sind seiner Meinung nach „Kontrollverlust, qualitativ schwacher Content und keine Kontrolle im Brand Fit“. Wedig würde bei diesen Programmen daher von „qualitativ niedrigen Affiliate-Offensiven“ sprechen und nicht von Influencer-Marketing.
„Nicht jeder mit einem Instagram-Account ist ein Influencer“
Auch Markus Kellermann, Affiliate-Marketing-Experte und Geschäftsführer der Agentur Xpose 360, hält die Bezeichnung Influencer oder Micro-Influencer, mit denen die Shops ihre Affiliates ansprechen, für falsch. Laut den meisten Definitionen verfügten selbst Micro-Influencer über mindestens 10.000 Follower, weil dann die Swipe-Up-Funktion in den Instagram Storys freigeschaltet sei. Ab 100.000 Followern spreche man von Influencern. Richtigerweise würde Kellermann die Affiliates mit weniger als 10.000 Followern daher als Nano- oder Nischen-Influencer bezeichnen. Doch es sei auch nicht jeder mit einem Instagram-Account ein „Influencer“, also Meinungsbildner. „Daher spricht man eigentlich nur dann von Influencern, wenn diese regelmäßig etwas posten oder sich eben zu einem bestimmten Thema positionieren“, sagt Kellermann.
Seiner Meinung nach bietet es sich für Unternehmen generell an, mit Influencern zusammenzuarbeiten, solange diese die Werte des Unternehmens authentisch vertreten und das Produkt ehrlich ihren Followern empfehlen können. Dabei sei es generell egal, wie viele Follower ein Influencer hat. „Wobei sich auch hier am ehesten Micro-Influencer anbieten, da diese sich oftmals auf ganz bestimmte Themen fokussieren wie Fitness, Food, Travel, Lifestyle und Fashion und ihre Follower ihnen genau aus denselben Interessensgründen folgen. Das macht es auch für Unternehmen in diesen Branchen interessant, genau die richtige Zielgruppe zu erreichen“, sagt Kellermann.
Die Shops sind die Gewinner
Nicht alle von OMR angesprochenen Nano-Influencer zeigten sich unglücklich mit dem Ergebnis ihrer Werbekooperationen. Selbst wenn ihre Rabattcodes nie eingelöst werden und sie somit keine Provisionen oder kostenlosen Produkte bekommen, sind viele vollkommen zufrieden damit, dass sie auf ihre Bestellung bei den Shops Rabatt bekommen. Viele der von uns befragten Instagram Affiliates, die weniger als 200 Follower verzeichnen, äußerten nach wie vor die Hoffnung, bald zu „großen Influencern“ aufzusteigen.
Während die meisten Affiliates weiter auf ihre erste Provision oder ihren Durchbruch warten, läuft es aufseiten der Shop-Betreiber offenbar rund. Justin Busch ist mit dem Affiliate-Programm von Aphrodite sehr zufrieden. „Unsere Follower-Zahl steigt zurzeit sehr schnell, dadurch dass so viele Leute daran interessiert sind und wir so viele Shoutouts haben“, sagt er eineinhalb Monate nach Start des Programms. Beim Online-Tool Influencer DB ist einsehbar, dass der Instagram-Account zu dieser Zeit jeden Tag um etwa 100 Follower wächst. Das fünfköpfige Team hinter Aphrodite Jewellery arbeite 70 bis 80 Stunden pro Woche, so Busch.
Von 8.000 zu 60.000 Followern in zwei Jahren
Wie viel Potenzial in Nano-Influencern steckt, belegt die Entwicklung von Landgraf Uhren. Die Affiliate-Konditionen des Unternehmens sind vergleichsweise schlecht: Die Influencer-Partner des Unternehmens erhalten auf ihre Bestellungen 20 Prozent Rabatt, deren Follower 10 Prozent. Wenn der Rabattcode zweimal eingelöst wurde, bekommen die Affiliates eine Uhr von Landgraf geschenkt. Geld gibt es gar keins.
Trotzdem ist das Startup offenkundig mit seinem Affiliate-Programm erfolgreich. Innerhalb von zwei Jahren ist die Zahl der Instagram Follower von Landgraf Uhren von 8.000 im Jahr 2017 auf mittlerweile 60.000 gewachsen. Inzwischen ist Gründer Maximilian Braun nicht nur Geschäftsführer von Landgraf, sondern auch von Cherish Jewelry und Edel Cases sowie Co-Geschäftsführer von Emilia Valeria Fashion – alles Shops mit ähnlichen Affiliate-Programmen. Die Strategie scheint sich zu lohnen.