Auf WeChats Spuren: Versucht Google, Maps zur ersten westlichen „Super App“ aufzubauen?

Gastautor9.1.2020

Wie die Karten-App zum Betriebssystem für den lokalen Handel werden soll

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Mittlerweile kann man Google Maps auch in Augmented-Reality-Ansicht nutzen (Quelle: Wall Street Journal auf Youtube)
Inhalt
  1. Der digitale Gatekeeper der stationären Handels
  2. Rom wurde nicht an einem Tag errichtet
  3. Follow the money
  4. Sieh den Pfad im Fernen Osten
  5. Googles Versuch, eine Super App zu bauen
  6. Über den Autor:

Es ist wohl das Ideal der CEOs aller großen westlichen Plattform-Unternehmen: In China ist es den dortigen Tech-Konzerne gelungen, „Super Apps“ zu etablieren, über die die Nutzer nicht nur privat kommunizieren, sondern auch eine Vielzahl von Transaktionen abschließen und einen Großteil ihres Lebens organisieren. Versucht Google nun aktuell Google Maps zur ersten Super App der westlichen Welt auszubauen? Diese Theorie vertritt Mario Gavira, der seit vielen Jahren in führenden Positionen in der Reisebranche tätig ist, in einem Gastbeitrag für OMR.

Mitte November 2019 versammelte Google die 200 führenden „Google Local Guides“ aus der ganzen Welt auf der „Connect Live 2019“-Konferenz in San Jose, Kalifornien. Die Reise- und Handelsbranche hat von der Veranstaltung kaum Notiz genommen, obwohl der Aufbau eines Netzwerks von lokalen Experten einen Eckpfeiler für Googles Unterfangen darstellt, aus Google Maps eine „Super App“ zu bauen.

Der digitale Gatekeeper der stationären Handels

Wer glaubt, dass Google Maps eine App ist, die einem hilft, von A nach B zu kommen, sollte noch einmal nachdenken. Der langsame, aber unaufhaltsame Aufstieg des Giganten zur Vorherrschaft über die Reise- und Gastronomiebranche ist nicht erklärbar ohne die mehr als eine Milliarde täglicher Nutzer von Google Maps.

Durch den Ausbau der „Erkunden“- und der Social Features der App, ist der Search-Riese zum digitalen Gatekeeper für alle Arten von stationären Läden geworden. Ob Restaurants oder Nagelsalons, touristische Sehenswürdigkeiten oder – natürlich – Hotels: Viele von ihnen werden immer abhängiger von ihrem Google Business-Eintrag in Maps werden, wenn ihre Ladentür weiter klingeln soll.

Googles Local-Guides-Programm ist von fünf Millionen Teilnehmern im Jahr 2016 auf 120 Millionen im Jahr 2019 gewachsen. Laut einer Studie aus dem Sommer 2019 verfügt Google über doppelt so viel lokale Bewertungen wie Facebook und zehn Mal so viele wie Yelp. Die Google Local Guides Homepage verzeichnet 23.000 Beiträge zu Reisen, 14.000 zu Food & Drinks und eine sehr aktive Community.

Unter localguidesconnect.com pflegt Google eine höchst aktive Community lokaler Guides (Screenshot)

Man stelle sich das Potenzial vor, das sich ergibt aus der Verknüpfung dieser weltweiten Armee von Ortskundigen auf der einen Seite mit Googles unbegrenzten Möglichkeiten, den Aufenthaltsort von allen Nutzern von Maps nachzuverfolgen (welche Orte sie besucht, gespeichert und bewertet haben) auf der anderen Seite: eine rasant wachsende Datenbank des nahezu gesamten menschlichen Wissen über jeglichen Ort auf dieser Erde.

Rom wurde nicht an einem Tag errichtet

Ganz typisch für Google hat der Tech-Riese innerhalb der vergangenen zwölf Monate stetig neue Features vorgestellt, mit denen er die Gewohnheiten seiner Nutzer verändern will: Dezember 2018: Personalisierte Vorschläge im „Für Dich“-Reiter, die auf Basis des bisherigen Nutzerverhaltens relevante Empfehlungen von örtlichen Businesses bereithalten Januar 2019: Der Google Assistant wird in Google Maps ausgerollt. Die Nutzer können seitdem in der App auch die gesamte Bandbreite an Sprachbefehlen nutzen. Mai 2019: Ein selbstlernender Algorithmus hebt die besten Gerichte in Restaurants hervor. Juli 2019: Im indischen Markt werden im „Erkunden“-Reiter Rabatt-Angebote von Restaurants angezeigt. Viele neue Services testet Google zuerst in Indien. August 2019: Integration aller Hotel- und Flugreservierungen (automatisch aus Gmail abgesaugt) in Google Maps, im „Reservierungen“-Reiter unter „Meine Orte“ August 2019: Neue Version des Features „Zeitachse“ (Timeline, bei aktiviertem Standortverlauf), die es möglich macht, die eigenen liebsten Orte und Empfehlungen mit Freunden und Familie zu teilen. Oktober 2019: Anbindung an die Essenslieferplattform Olo, wodurch die Essensbestellung direkt aus Google Maps und dem Google Assistant möglich wird. Oktober 2019: Listen für die beliebtesten Restaurants am jeweiligen Ort, basierend auf aggregierten Google-Bewertungen November 2019: Mit einer neuen Übersetzungsfunktion können sich die Nutzer von Google Maps Ortsnamen in der örtlichen Sprache vorsagen lassen. November 2019: Neue Social-Funktion, durch die Nutzer bestimmten Local Guides folgen können. Aber Google war nicht nur in Sachen Nutzererfahrung tätig, sondern hat auch unter der Haube geschraubt. Durch einen stetigen Zufluss an neuen Partnern hat sich Google Maps langsam in eine voll ausgerüstete transaktionale App verwandelt.

Die aktuelle Vorzeige-Integration ist jene von The Fork, einem Schwesterunternehmen von Tripadvisor, durch die die Nutzer weltweit Tischreservierungen in Restaurants abschließen können, ohne die App zu verlassen. Aber die Liste der Partner im Google Maps Hilfe-Center zeigt, wie weit der Tech-Titan seine Tentakel in diverse stationäre Branchen hinein gestreckt hat:

Ein Überblick über alle an Google Maps angebundenen Partnerdienste und -unternehmen

Die zweitgrößte Kategorie nach Restaurant-Buchungsplattformen ist die der Touren- und Sehenswürdigkeits-Buchungsplattformen, darunter Schwergewichte der Branche wie Fareharbour, Getyourguide, Klook, Peek, Rezy und Tiqets.

Follow the money

Die zunehmende Digitalisierung des Ticketing- und Kaufprozesses bei den öffentlichen Verkehrsbetrieben in Verknüpfung mit neuen Mikro-Mobilitätsdiensten wird Google die Möglichkeit eröffnen, mit Maps die Nutzer nicht nur von A nach B zu führen, sondern ihnen auch das Ticket für den Weg zu verkaufen.

Google Maps‘ nahtlose Anbindung an Google Pay wird den Nutzern bei wiederkehrenden In-App-Micro-Transaktionen eine bruchlose Nutzererfahrung bieten und dabei alle Bedürfnisse rund um Beförderung und Mobilität abdecken, einschließlich Parkgebühren, Straßenmauten und Mitfahrdiensten.

Wenn die Nutzer sich einmal daran gewöhnt haben, über Google Maps Käufe abzuschließen, ergibt sich der nächste Schritt von selbst: die Zahlung des Taxis zum Wellness Center wird kombiniert mit dem Kauf der Spa Session. Und wenn Maps dann einen Rabatt für das Gluten-freie Menü im Restaurant um die Ecke anbietet, dessen Karte ganz zufällig zu den Ernährungsvorlieben des Nutzers passt, kann dieser das alles in einer Transaktion über Google Maps buchen, ohne die App zu verlassen.

Sieh den Pfad im Fernen Osten

Der Westen hat bisher mit einer Mischung aus Angst und Bewunderung zugesehen, wie asiatische Tech-Riesen mit Super Apps, die an Schweizer Taschenmessern erinnern, die Herzen und Geldbörsen von Millionen von Konsumenten erobert haben. Einige der größten westlichen Tech-Konzerne wollen jetzt auf den gleichen Pfaden wandeln. Uber’s CEO Dara Koshrawi hat im September verkündet, „das Betriebssystem für alles in Ihrem Leben“ werden zu wollen, indem das Unternehmen seinen Fahr- und seinen Essenslieferdienst sowie andere Transport-Services in einer App bündelt.

Reiseriese Booking rückt seine bislang eher lose miteinander verbundenen Marken sukzessive näher aneinander. In Südostasien testet das Unternehmen die Einbindung einer Ridehailing-App und spricht in diesem Atemzug davon, den Reisenden einen „connected trip“ ermöglichen zu wollen.

Aber für eine Super App müssen eine extreme Größe mit starken Nutzer-Engagement zusammen kommen. Asiatische Super Apps haben zuerst die täglichen Bedürfnisse abgedeckt, so wie Zahlungen (Wechat), städtische Mobilität (Grab) oder Essenslieferungen (Meituan, Go Jerk). Erst nachdem sie mittels der täglichen Transaktionen das Vertrauen der Nutzer gewonnen und sich in deren Gewohnheiten verankert hatten, haben sie anliegende Geschäftsfelder erschlossen.

Googles Versuch, eine Super App zu bauen

Google Maps bedient eines der grundlegenden und häufigsten Bedürfnisse der Menschen: sich von A nach B zu bewegen. Anders als seine asiatischen Pendants, hat das Unternehmen seine Nutzer bis jetzt noch nicht in wiederkehrende Bezahlvorgänge eingebunden.

Aber mit der zunehmenden Digitalisierung von Mikromobilität ist es nur eine Frage der Zeit, bis Google Maps Micro-Payments für alle möglichen Arten von urbanen Fortbewegungsmethoden in den Verhaltensfluss der Nutzer einflechtet. Das wird die Startrampe dafür sein, die Tentakel in alle möglichen anderen lokalen Geschäftsfelder auszustrecken.

Die Uhr tickt, und die Retail-Branche (einschließlich des Tourismus) muss sich einer neuen Realität stellen: Google Maps‘ unendlicher Reichtum an ortsbezogenen Informationen und Bewegungsdaten, sein nicht endenwollender Strom an Gewohnheiten prägenden Services und sein digitales Ökosystem, das von Tür zu Tür reicht, werden dem rasanten Aufstieg der ersten Super App der westlichen Welt den Weg ebnen.

Im vergangenen Jahrzehnt wurde Google Maps zum digitalen Gatekeeper des Stationärhandels. Nun ist es auf einem guten Weg, im neuen Jahrzehnt das transaktionale Betriebssystem der westlichen Welt zu werden.

Hinweis: Der Artikel erschien zuvor auf Phocuswire.com sowie der LinkedIn-Seite des Autors auf Englisch. OMR veröffentlicht ihn auf Deutsch mit Genehmigung des Autoren.

Über den Autor:

Mario Gavira

Mario Gavira ist seit fast 20 Jahren in der Online-Travel-Branche tätig. Seit 2015 führt er von Barcelona aus die Geschäfte der Reise-Meta-Suchmaschine Liligo.com, die zu dem spanischen Reise-Konzern eDreams Odigeo gehört. Davor führte er das Frankreichgeschäft des ebenfalls zu eDreams gehörenden Portals Opodo.

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